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Genesis – Birmingham, 20. September 2021: The Last Domino? Tour 2021 – Konzertbericht

Nach zweimaliger coronabedingter Verschiebung startete am 20. September die The Last Domino? Tour von Genesis in Birmingham. Ulrich Klemt war beim Tourstart vor Ort und berichtet ausführlich über die Show.

Rückblende

13. Oktober 2007, Hollywood Bowl, Los Angeles. Es ist der letzte Abend der Turn It On Again Tour. Einer Tour, die nur wenige Jahre zuvor noch undenkbar schien. Phil Collins war im Ruhestand und hatte sich ohnehin vor über zehn Jahren von Genesis losgesagt. Das Projekt mit Ray Wilson schien zumindest aus Sicht von Mike Rutherford und Tony Banks einer Verlängerung nicht würdig. So war es fast zehn Jahre sehr ruhig um Genesis. Und dann waren sie ganz plötzlich wieder da, in der Besetzung, die die meisten Genesis-Konzerte gespielt hat. Rückblickend betrachtet war es eine Rückkehr tatsächlich nur für einen Sommer und Herbst. Aber mit einer Show, die für alle Fangruppen etwas zu bieten hatte. Auch ich war an jenem Herbstabend in den Hollywood Hills dabei. Phil sagte in seiner Abschlussrede, dass nichts Weiteres geplant sei. So flog ich heim mit unvergesslichen Erinnerungen an eine grandiose Tour im Gepäck und dem Bewusstsein, das womöglich allerletzte Genesis-Konzert überhaupt gesehen zu haben. Dass sich daran etwas ändern würde, wurde mit fortschreitender Dauer ohne nennenswerte Aktivitäten der Band immer unwahrscheinlicher. Die Erkenntnis über den Gesundheitszustand von Phil Collins tat ihr übriges. Das war es wohl.

Zeitsprung

Über ein Jahrzehnt nach jenem historischen Abend ist Phil Collins dem Tod von der Schippe gesprungen und allen Befürchtungen zum Trotz doch noch einmal auf Solotour unterwegs. Gegen Ende der zweieinhalbjährigen (Still) Not Dead Yet Tour keimt tatsächlich Hoffnung auf. Diese Tour ist erstaunlich gut verlaufen. Und tatsächlich sickerten noch vor deren Ende Gerüchte durch, dass auch Genesis es noch einmal wagen wollten. Die ersten Fanträume davon hatten Mike und Phil höchstpersönlich auf einigen Sommerkonzerten der Tour genährt als die beiden gemeinsam Follow You, Follow Me spielten. Und tatsächlich wurde wenige Monate später bekannt, dass die Band sich zum Proben in New York aufhält. Und plötzlich ging alles ganz schnell.

Nach dem vermeintlich letzten Genesis-Konzert war es mir ein Anliegen, das erste der erneuten Comeback-Tour ebenfalls zu sehen. Damit würde sich der Kreis schließen. Also buchte ich eine Konzertreise nach Dublin. Und nach alle der Vorfreude kam die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns. Die Konzerte wurden verschoben und Dublin war plötzlich nicht mehr Tourauftakt. Dann wurde eine erneute Verlegung nötig und tatsächlich rutschten die inzwischen zwei Konzerte in der irischen Hauptstadt wieder an den Beginn des Tourplans. Puh! Mein Vorhaben schien wieder möglich. Doch Irland war und ist europaweit das Land mit der wohl vorsichtigsten Lockerungsstrategie. Was sich immer mehr abzeichnete, wurde dann Gewissheit: die Dublin-Konzerte wurden auf unbestimmte Zeit verschoben, Belfast folgte kurz danach. Die Tour würde also (voraussichtlich?) am 20. September 2021 in Birmingham starten. Es dauerte einige Zeit, die Rahmenbedingungen für eine Reise in das „Hochrisikogebiet“ Großbritannien zu recherchieren. Die Vorbereitungen waren ungleich aufwendiger als für frühere Reisen auf die Insel. Aber schlussendlich stand fest: ich würde nach Birmingham zum Tourauftakt reisen. Nur diese eine Show. Pandemiebedingt ein möglichst kurzer Aufenthalt.

Genesis live 2021

Konzerttag

Und endlich: das Warten hat ein Ende. Gewartet hatte ich nicht nur mehr als zwei Jahre lang seit Ankündigung der Tour mit all den Terminverschiebungen und den damit verbundenen Unsicherheiten, sondern eigentlich viel länger: fast vierzehn Jahre um genau zu sein. Und dann ist der wirklich da: der Konzerttag, 20. September 2021.

Der Wecker klingelt ungewohnt früh. Vor mir liegt eine Stunde Autofahrt zum Flughafen für die Morgenmaschine nach Birmingham. Doch die entsprechend frühe Ankunft dort ermöglicht mir, die Zeit vor dem Konzert mit Sightseeing (die zweitgrößte Stadt Großbritanniens ist durchaus eine Reise wert!) und für die Einstimmung auf das abendliche Konzert in Ruhe zu nutzen. Dank guter Vorbereitungen läuft die An- und Einreise problemlos. An das Tragen von Gesichtsmasken hat man sich längst gewöhnt. Doch es ist ebenso gewöhnungsbedürftig, dass nach Ankunft in England außer in öffentlichen Verkehrsmitteln praktisch keine Masken mehr getragen werden.

Das Wetter an diesem Tag ist spätsommerlich warm und sonnig. Typisch Genesis – da wären mal perfekte Rahmenbedingungen für ein Open-Air und die Band spielt in der Halle. Doch dies hat einen gewichtigen Vorteil: ich werde die Lichtshow wird von der ersten Minute genießen können. Dank einer nur wenige Wochen vor dem Tourstart ausgestrahlten Dokumentation über die Tourproben 2020 ist ein umfangreicher erster Eindruck der Show entstanden. Und angesichts der darin gezeigten Songs, hat auch die Setlist langsam Gestalt angenommen. Nachdem es über all die Proben kaum Gerüchte oder Hinweise auf die Songauswahl gab, hatten sich kurz vor der Tour die Ereignisse fast schon überschlagen. Das Ganze gipfelt für mich darin, dass ich abends vor der Arena an einem Verkaufsstand für Fanartikel wirklich ein T-Shirt entdecke, auf dem rückseitig die Setlist abgedruckt ist. Wie kommt man auf so eine Idee? Zumal das Konzert zeigen wird, dass eben nicht exakt dieser Ablauf gespielt wird. Aber dazu später.

Meine Vorfreude wird bereits mittags dadurch immer realer, dass mir in der Innenstadt plötzlich ein in Jeans und dunkles Sweatshirt gekleideter Mann mit hellgrauen Haaren und Sonnenbrille entgegenkommt: zweifelsohne Tony Banks! Sie sind also wirklich da. Die durch die Pandemie verursachten Zweifel daran, dass dieser Tag doch wirklich einmal kommen wird, haben Spuren hinterlassen. Nicht selten habe ich den vergangenen zwei Jahren betont, dass ich es erst glaube, wenn ich am Konzerttag in der Halle sitze und das Licht ausgeht.

Spielort ist nicht etwa das National Exhibition Center (NEC) direkt am Flughafen, wo Genesis 1984 ihre einzigen Europakonzerte der Mama Tour spielten und davon sogar einen Zusammenschnitt auf Video veröffentlichten. Birmingham hat seit damals keine Genesis-Konzerte mit Phil Collins als Leadsänger mehr erlebt. Auf der Calling All Stations Tour spielte die Band mit Ray Wilson am 25. und 26. Februar 1998 letztmals im NEC. Etwas überraschend ist es also, dass als Austragungsort für die drei Auftaktkonzerte der The Last Domino? Tour die 1991 eröffnete National Indoor Arena, die seit 2020 Utilita Arena heißt, gebucht wurde. Diese Halle bietet bei voller Bestuhlung ca. 13.000 Zuschauern Platz und liegt in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt direkt an einem der vielen Kanäle, die das Stadtbild von Birmingham prägen. So sitzen vor dem Konzert hunderte Fans in den Pubs an den Kanalufern und genießen die Sonne. Eine schöne Atmosphäre.

Beim Einlass in die Arena wird nach einem Impfnachweis gefragt, der jedoch nur oberflächlich geprüft wird. Von anderen Fans erfahre ich später, dass dies an anderen Eingängen teilweise gar nicht kontrolliert wurde. Innen ist es nach über anderthalb Jahren Pandemie zunächst gewöhnungsbedürftig, dass fast niemand außer Tourcrew und Ordnern eine Maske trägt. Vor der Show sehe ich einige andere Fans wieder, die nicht nur aus England, sondern wie ich aus Deutschland oder auch Frankreich und den USA angereist sind. Man hat sich lange nicht gesehen und doch hat sich irgendwie nichts verändert. Es wirkt ganz viel wie „früher“, vor Corona, trotz Corona.

Showtime!

Auf meinem elektronischen Ticket steht ausdrücklich „pünktlicher Start 20.00 Uhr“. Dennoch geht erst mit etwas Verspätung um ca. 20.10 Uhr das Hallenlicht aus und wie schon 2007 erklingt das Instrumentalstück Dead Already vom American Beauty-Soundtrack. Die Halle hat offenbar eine strenge Sperrstunde um 22.30 Uhr. Die leichte Verspätung lag wohl an Verzögerungen beim Einlass.

GenesisGegen 20.15 Uhr betreten dann bei dezent blauem Licht und überwiegender Dunkelheit die Hauptakteure des Abends die Bühne. Dank der neuen Backgroundsänger Patrick Smyth und Daniel Pearce stehen dort mit insgesamt sieben Musikern so viele Personen wie noch nie bei einem Genesis-Konzert (sieht man einmal von der „Invisible String Section“ 1986 in Australien oder den singenden Roadies auf der Mama Tour 1983/84 bei Illegal Alien oder dem Auftritt bei der Silver Clef Award Show in Knebworth 1990 ab)!

Noch bevor die Band überhaupt anfängt zu spielen, hält es im Publikum fast niemanden mehr auf den Sitzen. Dieser Vorschuss-Applaus ist eine erfreuliche Begrüßung und Anerkennung für die Band, die es in ihrem Heimatland nicht immer leicht hatte. Als dann noch mit einem Knall in Form des Duke’s Intro die Show losgeht, kennt der Jubel keine Grenzen mehr. Die Bühne ist dabei in grellweiße Lichtstrahlen getaucht, die doch sehr an das Coverfoto von Seconds Out erinnern. Das Eröffnungsstück, das schon 2007 als solches fungierte, besteht unverändert aus eingedampften Teilen von Behind The Lines und Duke’s End.

Übergeleitet wird wie 2007 in Turn It On Again nur in leicht abgewandelter Form. Es ist gewöhnungsbedürftig, dass Phil bis zum Beginn dieses Songs zur Untätigkeit verdammt war und den anderen sitzend zusehen musste. Man mag es Sturheit nennen oder Cleverness nach dem Motto „never change a winning team“, dass die Band gerne Dinge beibehält, die einmal gut funktioniert haben. Aber genau das ist eben der Fall. Wünsche nach einer Abwandlung des Showauftakts sind durchaus statthaft. Aber die Publikumsreaktion gibt der Band schlicht und ergreifend recht. Daryl nimmt für dieses Stück übrigens auf einem Hocker Platz, was für ihn eher ungewohnt ist.

Dass Phil sich trotz fortschreitender Einschränkungen, was seine Beweglichkeit und Stimme angeht, immer noch an herausfordernde Stücke traut, beweist bereits das folgende Mama. Natürlich kommt Phil stimmlich deutlich hörbar nicht mir an die Darbietungen früherer Touren heran, aber auch dank der Backgroundsänger funktioniert der Song nach wie vor. Die beiden Sänger helfen Phil auf eine unaufdringliche Weise aus, wenn es für ihn stimmlich schwierig wird, und bleiben dabei stets im Hintergrund. Vor allem die Bühnenproduktion und Lichtshow beweisen bereits früh, was in ihnen steckt. Die Songatmosphäre wird besser denn je mit Licht, Animationen und Videos unterstrichen – natürlich überwiegend in Rottönen. Zudem fahren zwischen den fünf Dominosteinen, die über der Bühne hängen, LED-Balken herunter.

Dann richtet sich Phil erstmals an das Publikum. „It’s been a long time coming“, sind seine ersten Worte. Man merkt die Erleichterung darüber, dass die Tour endlich losgehen kann nicht nur bei den Zuschauern, sondern auch auf der Bühne. Land Of Confusion wird von Phil als Song angekündigt, der zwar mit völlig anderem Hintergrund geschrieben wurde, angesichts der Pandemie aber eine ganz neue Aktualität gewonnen hat. Und genau das wird typisch britisch augenzwinkernd mit dem Hintergrundvideo unterstrichen. Leere Londoner Straßen, auf denen Fernseher mit den Spitting Image-Figuren von Phil, Mike und Tony vom Himmel fallen. Ein Regen aus Klopapierrollen. Maskierte Melonenträger, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen und nicht nur durch die ganze Stadt, sondern über Autobahnen auch hinaus aufs Land und sogar an Gebäuden die Wände hinauf marschieren. Das Video endet mit dem Piccadilly Circus, auf dessen weltberühmter Werbewand das Bild einer Atompilzwolke wie im Musikvideo zum Song zu sehen ist.

Die gewohnte audience participation time darf auch diesmal vor Home By The Sea nicht fehlen. Phils Ansage wirkt dabei noch etwas holprig, aber es muss am Premierenabend noch Luft nach oben geben. Die Hintergrundvideos sind hier mehr denn je nicht nur gruselig, sondern wirken teilweise wie Ausschnitte aus Horrorfilmen. Und dann steht mit Second Home By The Sea das erste längere Instrumentalstück des Abends an. Ich hatte mich gefragt, was Phil wohl in solchen Momenten, in denen er früher hinter dem Schlagzeug saß, machen würde. Antwort: er überlässt seinem Sohn Nic die Bühne, geht nach hinten und setzt sich auf das Podest der Backgroundsänger. Und der Zwanzigjährige beweist spätestens jetzt, wie reif er für sein Alter bereits ist. Seine Entwicklung seit Beginn der Not Dead Yet Tour ist spürbar. Mehrfach im Verlauf des Konzerts ist deutlich hörbar, wie er mit seinem kraftvollen Drumming auf eine sehr passende Art einigen Stücken neues Leben einhaucht. Aber er bleibt den ganzen Abend über im Hintergrund am Schlagzeug wie sein Vater in seinen Anfängen bei Genesis. Und tatsächlich lässt er ein Urgestein wie Chester Thompson, der musikalisch über jeden Zweifel erhaben war und ist, ein bisschen vergessen.

Second Home By The Sea

Die Lichtshow und besonders die fünf Dominosteine über der Bühne mit ihren jeweils sechzehn VariLites zeigen ein weiteres Mal an diesem Abend ihr Potenzial. Die einzelnen Elemente, die bis dahin in einer Linie über der Bühne hingen, formen zunächst einen Bogen und sinken in einer Diagonalen während Second Home By The Sea nach unten. Eine kleine, aber feine Reminiszenz an die Invisible Touch Tour, bei der die komplette Lichtanlage bis knapp über die Köpfe der Band heruntergelassen wurde, um das „Abheben“ des Stadions zu simulieren.

Bis hierhin wurden nur Songs gespielt, die bereits 2007 in der Setlist enthalten waren. Doch nun folgt ein Song, den sich nicht wenige Fans gewünscht haben und der auch für mich zu den absoluten Lieblingssongs von Genesis gehört: Fading Lights. Das Stück glänzt mit ganz starkem Text und wurde am 17. November 1992, also vor fast 29 Jahren, im nur knapp 30 km von Birmingham entfernten Wolverhampton letztmals live gespielt. Es gehört zu den wenigen Stücken, von denen in Teasern und Probendoku bislang nichts zu sehen oder hören war. Die Gerüchte, dass das Stück dabei sein würde, verdichteten sich aber im Vorfeld immer mehr. Schön ist, dass Mike (bereits mit Doubleneck „bewaffnet“), Tony und Phil den Song nur als Trio performen. Man merkt Phil an, dass er ohne den Rückhalt der Backgroundsänger bei diesem Stück doch an seine Grenzen kommt. Kurz vor der Tour war klar, dass dieser „long song“ im traditionellen Cage-Medley den prominenten Platz von In The Cage übernehmen würde. Eine interessante und gleichzeitig frische Idee, die aber die Frage aufwarf, wie weit Fading Lights ausgespielt wird bzw. an welcher Stelle das Stück in The Cinema Show übergehen würde. Die Lösung ist gleichzeitig ein erster Schwachpunkt, den ich an der Show bemängeln muss. Dass nach den ruhigen ersten Strophen von Fading Lights genau an der Stelle, wo sonst der Instrumentalteil beginnt, völlig unvermittelt der Instrumentalteil von The Cinema Show beginnt. Das gleicht einer schallenden Ohrfeige. Nach der Show war zu hören, dass die Band diesen Übergang in den Proben schon lange so spielt und wirklich toll findet. Ob eine Lösung mit Fading Lights-Instrumentalteil zumindest in einem kurzen Auszug möglich gewesen wäre, weiß ich nicht. So ist das eine sehr plötzliche kalte Dusche. Aber Genesis scheinen vielleicht genau das damit bezwecken zu wollen. The Cinema Show selbst rockt wie eh und je. Nic Collins wird hier percussionistisch von Daniel Pearce unterstützt und Phil bleibt diesmal vorne sitzen, um von dort seinem Sohn genau auf die Drumsticks zu schauen. Bei Mike merkt man während des gesamten Konzerts, dass er sich für diese Tour etwas vorgenommen hat. Er wirkt sehr gut vorbereitet, fit und voller Tatendrang und Spielfreude. Kein Vergleich zu seiner eher verhaltenen Bühnenpräsenz 2007. Vor Afterglowwerden wie zuletzt 1987 kurz ein paar Takte von In That Quiet Earth eingestreut. Afterglow selbst wird von einer modernen Lichtshow untermalt, die sich an die traditionelle Ausleuchtung bei diesem Stück anlehnt. Spätestens als die vertikalen Elemente der Videowand wie Lamellen aufgeklappt werden und von deren Rückseite VariLites die Bühne wie früher von hinten beleuchten, gibt es einen echten Wow-Moment. Da wirkt die Beleuchtung ein bisschen wie auf der We Can’t Dance Tour. Aber so gut war Afterglow lichttechnisch noch nie.

Anders als auf oben erwähntem Tour-T-Shirt abgedruckt geht es danach nicht mit Hold On My Heart und Jesus He Knows Me weiter. Das erstgenannte Lied wäre wohl nach Fading Lights und Afterglow etwas zu viel anhaltende Ruhe und Aufforderung zum Bierholen gewesen. Jesus He Knows Me war, so konnte ich aus Crewkreisen hören, für Phil wohl doch schlussendlich etwas zu schnell. Sie hatten für das Stück eine volle Produktion stehen, aber das ist dann am Ende eben leider eines der Zugeständnisse, die an Phils Gesundheit und Leistungsvermögen gemacht werden müssen. Stattdessen geht es mit einem Akustikteil weiter. Das Licht auf der Bühne wird deutlich reduziert und es findet ein kleiner Umbau statt. Die Band rückt eng zusammen. Für Nic wird ein kleines Schlagzeug nach vorne gerollt und für Tony ein E-Piano auf der für ihn ungewohnten linken Bühnenseite (aus Sicht des Publikums). Das greift Phil sogleich für einen Scherz auf, indem er sagt, dass Mike immer (aus seiner Sicht) rechts von ihm stand und Tony links positioniert war und das für „50 plus Jahre“ (Zitat Phil). Daher befürchtet er augenzwinkernd, dass das alles fürchterlich danebengehen kann.

Nicholas CollinsDaryl Stuermer hatte in einem Interview einige Wochen vor Tourstart nicht nur verraten, dass es ein Akustikset in der Mitte des Konzerts geben würde, sondern auch, dass That’s All eines der Stück darin sein würde. Der Song wurde auf Tour zuletzt im Juli 1987 in Wembley gespielt, also vor mehr als 34 Jahren. Danach fand er bei speziellen Einzelauftritten von 1988 bis 1990 Berücksichtigung und wurde im Old Medley 1992 ganz kurz angespielt. Für dieCalling All Stations Tour wurde er geprobt und sogar auf dem Aufwärmkonzert in den Bray Studios Ende Januar 1998 gespielt, zum eigentlichen Tourstart in Budapest jedoch anderweitig ersetzt. Obwohl der Song durchaus etwas schneller ist, kommt Phil damit gut zurecht, auch ohne Unterstützung der Backgroundsänger.

Mike RutherfordAls die Band dann mit dem nächsten Stück anfängt, bin ich vermutlich bei weitem nicht der einzige in der Halle, der sich verwundert fragt, was sie da gerade spielen. Erst als Phil zu singen anfängt ist klar, dass es sich um eine völlig neue und sehr reduzierte Version von The Lamb Lies Down On Broadway handelt. Auch hier kommt Phil mit dem Arrangement gesanglich gut klar. Der Song ist zwar gekürzt, aber mir gefällt diese mutige, sehr andere Version. Sie beweist, was möglich wäre, wenn Genesis selbst ohne neues Material im Studio alte Songs neu aufnehmen würden. In den älteren Herren steckt doch noch einiges an Kreativität, auch wenn sie damit vermutlich sehr gemischte Reaktionen hervorrufen. The Lamb Lies Down On Broadway kehrt in Birmingham erstmals seit dem Abschluss der Calling All Stations Tour im April 1998 in Helsinki ins Set zurück, Phil hat ihn zumindest teilweise seit dem Old Medley 1992 nicht mehr gesungen.

Für das folgende Follow You, Follow Me stoßen die Backgroundsänger zur Band hinzu. Das Arrangement wirkt noch reduzierter als 2007. Hier werden Erinnerung wach an das, was vielleicht der Startschuss für die The Last Domino? Tour war: Mikes Gastauftritte zu diesem Lied auf Phils Still Not Dead Yet Tour vor über 2 Jahren.

DuchessEine Drum Machine leutet dann vielleicht das Highlight des Abends ein: Duchess! Und irgendwie schließt sich hier ein bemerkenswerter Kreis. Vor fast vierzig Jahren, genauer gesagt einen Tag vor Heiligabend 1981 ging die Abacab Tour in der Birmingham International Arena (später NEC) nur wenige Kilometer vom heutigen Spielort zu Ende. Das war das bis heute letzte Mal, dass Duchess live gespielt wurde. Es gibt mit Abstand keinen Genesis-Song, der so lange auf seine Live-Rückkehr warten musste! Und die aktuelle Darbietung macht diesem bei vielen Fans sehr beliebten Stück alle Ehre. Untermalt wird die Musik mit sich analog dazu langsam aufbauenden psychedelischen Grafiken auf der Videowand. Eine komplett stimmige und sehr starke Darbietung eines Liedes, das vermutlich die meisten nie geträumt hatte, jemals wieder live zu sehen. Ein wenig ist er verglichen mit 2007 so etwas wie Ripples. Ein Fan-Lieblingssong, den viele Durchschnittskonzertbesucher nicht kennen und allein schon bei dem fast zweiminütigen Intro Bier holen oder wegbringen gehen. Die Band zieht das Stück dennoch ohne nennenswerte Kürzungen durch. Respekt! Dass der Song bei der Band auf der Liste stand, war interessanterweise so früh klar wie bei keinem anderen Stück. Auf einem Foto von den Proben in New York Anfang 2020 war der Songtitel auf einem Bildschirm hinter Tony Banks zwar klein aber dennoch deutlich lesbar. Zum Glück hat das fast zwei Jahre lange Daumendrücken geholfen, dass dieses Juwel es auch tatsächlich in die Liveshows geschafft hat. Und zudem ist die neue Version auf eine sehr zurückhaltende Weise frisch und leicht anders als das Original. Allein für dieses Stück lohnt sich der Konzertbesuch! Für mich geht damit wie schon bei Fading Lights ein kleiner Traum in Erfüllung.

Bei der obligatorischen Bandvorstellung gibt es den nächsten Gänsehautmoment. Nachdem Phil die Band vorgestellt hat, ergreift Mike kurz das Wort und stellt Phil den Zuschauern vor. Und da gibt es kein Halten mehr. Stehende Ovationen und nicht enden wollender Jubel scheinen Phil tatsächlich zu rühren. Er lässt die Begeisterungsstürme über sich ergehen, wirkt fast peinlich berührt als er kurz abwinkt und er braucht diesen Moment wohl auch, um sich kurz zu sammeln. Als dann das Ticken einer Uhr einsetzt ist klar, dass es mit dem Hit No Son Of Mine weitergeht. Hierbei merkt man, dass Phil in den kraftvolleren Passagen dankbar die Hilfe von Daniel Pearce und Patrick Smyth annimmt. Die Show stehlen sie ihm aber auch diesmal nicht.

Die Wucht, mit der Nic Collins beim Beginn des Instrumentalteils von Firth Of Fifth auf sein Schlagzeug eindrischt, ist bemerkenswert und es ist eines dieser Stücke, bei denen er wirkt wie befreit. Er wird von der Leine gelassen und treibt die Band gemeinsam mit Mike Rutherford an. Der überlässt wie gewohnt Daryl Stuermer die Leadgitarre, was aber vermutlich nichts mit dem von Mike auf seiner letzten Mechanics-Tour fast schon peinlich schlecht dargebotenen Firth Of Fifth-Solo zu tun hat. Die Aufgabenverteilung ist einfach seit Jahrzehnten so.

I Know what I Like

Wie 2007 folgt der Klassiker I Know What I Like. Phil wirkt hier gesanglich und in Sachen Text sehr sicher. Und als der Zeitpunkt für den berühmten Tamburintanz gekommen ist, überrascht Phil alle damit, dass er eben nicht darauf verzichtet. Sitzen hin oder her. Ok, er tritt nicht mehr gegen das Tamburin, aber es gegen Hände, Kopf und Ellenbogen zu schlagen ist auch heute noch möglich. Ein toller Moment, der die Zuschauer wie eh und je begeistert.

Dann ist er da, der von der Band mit dem Tourtitel heraufbeschworene Höhepunkt der Show: Domino, genauer gesagt The Last Domino, der zweite Teil dieses Long Songs von 1986. Doch bevor es losgeht, muss natürlich das Dominoprinzip erklärt werden. Dass wohl jeder im Publikum dieses Phänomen bereits in- und auswendig kennt, ist völlig egal. Es gehört seit 35 Jahren fest zu jedem Genesis-Konzert und darf natürlich auch dieses Jahr nicht fehlen. Und die Band lässt sich tatsächlich nicht lumpen. Nach einem noch relativ traditionell gespielten ersten Teil (In The Glow Of The Night) geht es so richtig ab. Die Keyboardsounds wirken moderner und frischer und vor allem Mike geht mit fortschreitender Dauer des Songs komplett ab. Er steht breitbeinig auf der Bühne und rockt, was das Zeug hält. Mich hätte es am Ende nicht gewundert, wenn er schlussendlich seine Gitarre zerschmettert hätte. Durch rasterförmige LED-Lichtbänder sehen die Dominosteine über der tatsächlich wie solche aus und unterstrichen wird das durch gleich aussehende Dominosteine, die auf der Videowand eingeblendet werden. Ein netter Effekt. Die Videos während des Songs sind wie schon bei anderen Liedern (siehe oben) im Vergleich zu früheren Touren eher düster gehalten. Ob das Zufall ist oder damit eine bestimmte Absicht verfolgt wird, bleibt unklar.

Es folgt mit Throwing It All Away Song Nummer zwei einer Reihe von gleich vier Invisible Touch-Stücken hintereinander im Set. Im Hintergrund auf der Videowand werden die Rücken von CD-Hüllen und VHS-Kassetten (für die jüngeren: fragt Eltern oder Großeltern, was das ist) gezeigt, auf denen der Beschriftung nach zu urteilen diverse Genesis-Liveaufnahmen zu finden sind. Eine schöne Idee, die an diesem Abend erstmals visuell Nostalgie aufkommen lässt. Bei diesem Song hätte man das eher weniger erwartet. Er läutet nun die Zielgerade der Show ein, die von den gängigen „Partysongs“ dominiert wird.

Throwing It All Away

Tonight, Tonight, Tonight ist wie schon seit 1992 gekürzt, wird aber mit atmosphärischen Bildern untermalt von nächtlichen Häuserzeilen. Das Stück geht wie inzwischen gewohnt in Invisible Touch über. Dieser Hit ist seit Jahren nicht mehr nur auf Genesis-Konzerten gesetzt, selbst auf Solokonzerten von Phil hat er bereits seit 2005 einen festen Platz im Set. Es ist aber auch einer der klassischen Stimmungssongs auf Genesis-Konzerten. Tanzende Menschen in den Gängen und Sitzreihen belegen das, auch wenn viele Fans den Platz im Set durch anderes Material sinnvoller genutzt sähen. Die Show geht ohne Feuerwerk zu Ende und kommt auch ansonsten gänzlich ohne Pyrotechnik oder andere wilde Gimmicks aus. Erfreulicherweise gehen Genesis hier eher wieder zu ihren Wurzeln zurück, ohne dabei jedoch auf die modernste Technik zu verzichten. Abgerundet wird der Hauptteil der Show optisch durch eine Beleuchtung, die entfernt an die vom Eröffnungsstück Duke’s Intro erinnert. Dezent grüßend verlässt die Band nach dem Song die Bühne. Das kann es also noch nicht gewesen sein.

Und richtig, nach ein paar Augenblicken Ruhe setzen die unverkennbaren elektronischen Percussionsounds von I Can’t Dance ein. Das Stück wird in der bekannten Form dargeboten, allerdings ohne jeglichen „Walk“. Eine sehr begrüßenswerte Entscheidung. Vorab habe ich mich zum einen gefragt, ob der Song überhaupt gespielt werden würde (ich könnte auch ohne ihn leben) und wenn ja, wie sie mit eben jenem Walk umgehen. Und nun ist klar, den Walk machen Mike, Tony und Phil nur als bunte Silhouetten auf der Videowand. Phil bleibt logischerweise sitzen, aber auch Mike, Daryl und die Backgroundsänger machen keine Anstalten, in ungelenken Bewegungen über die Bühne zu stapfen. Das übernehmen stellvertretend die einen oder anderen Konzertbesucher.

Bevor es zum eigentlich Schlusslied kommt, haben Genesis noch einen kleinen Leckerbissen im Köcher. Zum ersten Mal seit Rock im Park 1998 werden die ersten Zeilen von Dancing With The Moonlit Knight bis zu „Selling England by the Pound“ gespielt. Für Phil ist auch das wieder eine Herausforderung, die er jedoch trotz offensichtlicher Anstrengung brauchbar meistert. Dieser fast schon nostalgische Songschnipsel geht nahtlos über in Carpet Crawlers über. So schließt sich der Kreis und es zeigt sich, dass Genesis auf das Korsett der 2007er-Tour vertrauen. Als emotionaler Ausklang der Show funktioniert das Lied exzellent. Auf eine Ansprache davor verzichtet Phil. Und so geht eine bemerkenswerte Vorstellung mit einer Verbeugung der gesamten Band gefolgt von einer weiteren der drei Hauptakteure Mike, Phil und Tony nach über zweieinviertel Stunden zu Ende.

Genesis take a bow

Häufig fällt einem auf, was gut oder schlecht war, aber nicht was fehlt. Und das ist bei diesem Konzert erstmals seit 1976 ein Drum Duet. Seit Chester Thompson 1977 als Tourdrummer zur Band stieß, war dies ein fester Bestandteil einer jeden Show. Aber diesmal ist auch zum ersten Mal seit der Lamb Tour (mit Ausnahme der Calling All Stations Tour, bei der Chester ebenfalls nicht dabei war) nur ein Drummer auf der Bühne. Es mag gar keinen besonderen Hintergedanken dabei geben, dass selbst auf ein Drum Solo verzichtet wird. Möglicherweise geht es nur um die Länge der Show oder darum, Nic nicht über Gebühr in so jungen Jahren ins Rampenlicht zu stellen. Es könnte auch sein, dass es nicht erwünscht war, Phil bei einem weiteren Instrumentalpart, den er entscheidend mitgeprägt hat, tatenlos zusehen zu lassen. Gefehlt hat mir dieser Showteil tatsächlich nicht.

Was bleibt?

Diese Frage möchte ich abschließend versuchen zu beantworten. Es bleibt:

– der Eindruck, dass die Band in toller Form ist. Und ich habe „nur“ den Tourauftakt gesehen. Die Gesamtperformance dürfte in den nächsten Shows vermutlich noch etwas besser werden.

– der Blick auf Fotos und Videos, die eine atemberaubende Bühnenproduktion dokumentieren. Genesis haben es auf dieser Tour geschafft, die klassische Genesis-Show mit all ihren Superlativen in die Neuzeit zu transportieren. Und bei alldem bleiben sie sich treu. Nichts wirkt unpassend oder gekünstelt.

– das gute Gefühl, teil eines Publikums gewesen zu sein, das zu jeder Zeit die Band und verständlicherweise in besonderer Form Phil Collins auf Händen trug. Wenn 13.000 Menschen vor, während und nach der Show derartig applaudieren und jubeln, kann es so schlecht nicht gewesen sein.

– eine gewisse Überraschung darüber, dass Mike Rutherford auf der Zielgeraden der Band fast schon so etwas wie ein Bandleader geworden ist. Das war er im Studio immer. Aber auf der Bühne habe ich seine Präsenz nie so stark wahrgenommen wie aktuell.

– Tony Banks zuzugestehen, dass er (ggf. auch aufgrund der Zusammenarbeit mit Dave Kerzner) einen nicht unerheblichen Anteil am frischen Sound der alten Songs hat.

– erneutes Erstaunen über Potenzial und Fähigkeiten von Nic Collins. Nein, er ist kein Klon seines Vaters. Aber er ist in der Lage, bei einer Band, bei der das Schlagzeug immer eine gewichtige Rolle gespielt hat, selbst ohne die jahrzehntelangen Stammdrummer Phil Collins und Chester Thompson eine Show abzuliefern, ohne dass es in irgendeiner Form negativ oder schwach wirkt. Im Gegenteil: sein forderndes Drumming treibt die Band durchaus an.

– großer Respekt davor, dass Phil Collins diese große Herausforderung angenommen hat. Man kann ihn inzwischen mangels Drumming nur noch an zwei Punkten messen: Entertainer und Sänger. Ersteres hat er im Blut und es offenbar nicht verlernt. Und allein das zeigt: er hatte Spaß an diesem Abend und braucht die Bühne. Seine Sangesleistung muss man anerkennen, auch wenn die Show ohne das „Auffangnetz Backgroundsänger“ vermutlich in dieser Form unmöglich gewesen wäre. Wer ihn heute an Leistungen früherer Touren misst, tut ihm schlichtweg unrecht. Alter, Gebrechlichkeit und die Sitzposition fordern ihren Tribut. Es gäbe nur zwei Alternativen: er ist dabei und singt, oder eben nicht. Und dann wäre Genesis vermutlich bereits jetzt Geschichte. Es ist eben nicht irgendjemand, der da singt, sondern der Weltstar Phil Collins, der sich wie schon auf seiner Not Dead Yet Tour nicht zu schade ist der Welt seine Unzulänglichkeiten offen zu zeigen. Take it or leave it.

– Dankbarkeit, ein Stück Wehmut und vielleicht auch eine Träne im Knopfloch, dass es das gewesen sein könnte. Ob die Tour 2022 weitergeht, ist noch nicht klar. Daher kann, aber muss dieser Abend in Birmingham nicht mein Abschied von Genesis gewesen sein. Aber alleine die Möglichkeit, dass es so ist, löst bei mir etwas aus. Meine Erinnerungen an Genesis, die ich live erst 1998 und mit Phil Collins erst 2007 erstmals live sehen durfte, sind durchweg positiv und werden mich den Rest meines Lebens begleiten. Ich habe der Band unvergessliche Konzertabende, tolle Erlebnisse auf meinen Reisen (die ohne diese Touren so nie stattgefunden hätten) und Fanfreundschaften fürs Leben zu verdanken. Davon werde ich noch meinen Enkeln erzählen.

Autor: Ulrich Klemt

Fotos: Ulrich Klemt (20.09.), Volker Warncke, Chris Simmons (21.09.)

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Genesis 2021

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