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Steve Hackett – Under A Mediterranean Sky – Rezension

Anfang 2021 überrascht uns Steve Hackett mit einem neuen akustischen Album. Andreas Lauer teilt seine Eindrücke.

Es hat etwas gedauert, und Corona hat es etwas beschleunigt. Aber nach knapp 14 Jahren stellt Steve mal wieder die akustische Gitarre in den Mittelpunkt eines seiner Studioalben. Vorläuferalben dieser Art waren Tribute(2007), bei dem Steve mehr als Interpret denn als Komponist in Erscheinung trat, Metamorpheus(2005) und A Midsummer Night’s Dream (1997), beides Orchesteralben mit konzertierender Gitarre, sowie Momentum(1988) und Bay Of Kings (1983). Letzteren beiden ähnelt das neue Werk konzeptionell am ehesten, indem hier ebenfalls bei manchen Stücken synthetische Streicher unterlegt werden.

CoverAnders als damals, wo Bruder John Hackett hier und da mit seiner Flöte bedeutsame Akzente setzte, kommt hier eine größere Vielfalt weiterer „echter“ Instrumente zum Einsatz. Und war es bei dem ebenfalls maritim betitelten 1983er Album die Klangvielfalt der Gitarre, die präsentiert werden sollte (die Gitarre als „kleines Orchester“), so sorgt hier das Grundkonzept einer Reise durch den Mittelmeerraum für stilistische Vielfalt (inspiriert von Steves und Jos tatsächlichen Reiseaktivitäten der vergangenen Jahre, die er in Wort und Bild mit den Fans teilte). Stücke, bei denen die Gitarre durch weitere Instrumente (Gesang gibt es auch auf diesem Akustikgitarrenalbum nicht) ergänzt wird, und solche bei denen sie solistisch auftritt, wechseln sich in etwa ab. Bei ersteren ist Roger King meist Co-Autor (außer bei The Call Of The Sea), Jo Hackett hat außerdem hier und da Melodielinien beigesteuert. Nur bei drei Stücken ist Steve alleiniger Autor, und ein Arrangement eines vor Jahrhunderten komponierten Werks – nein, nicht aus Steves Feder – finden wir hier auch wieder vor (wie schon einst mit Stücken von Giuliani, Bach, Vivaldi und den Komponisten des Tribute-Albums).

Mdina (The Walled City)

Die Reise beginnt in Mdina, einstige Hauptstadt Maltas, auch als die stille oder die bemerkenswerte Stadt betitelt ? Steve hebt im Untertitel die sie umgebenden Mauern hervor, die wohl auch Gegenstand des Orchester-Intros sein dürften, das von gesampleten Pauken und tiefen Blechbläsern sowie Taktwechseln dominiert wird. In dem mit 8:45 mit Abstand längsten Stück des Albums hat die Gitarre erst nach mehr als einer Minute ihren ersten Einsatz mit einigen rhapsodisch-virtuosen Parts. Die erste Hälfte des Stücks verhallt mit gekonnt inszenierten Glockenschlägen, ehe das dramatische Intro widerkehrt und die von einer schlichten, weitgespannten Melodie geprägte zweite Hälfte einleitet, bei der sich Gitarre und Orchester geschmackvoll abwechseln und ergänzen.

Adriatic Blue

Weiter geht es an der kroatischen Adriaküste, gesehen bei einer Konzertreise mit Djabe. Adriatic Blue für Gitarre solo hätte auch gut auf Bay Of Kings mit seinen barocken und vorbarocken Einflüssen Platz gefunden, vom kompositorischen und spielerischen Niveau allerdings eher auf Momentum.

Sirocco

Dieser von Steve als impressionistisch bezeichnete Titel ist dem heißen Saharawind, dem Scirocco gewidmet, dem Steve in Marokko, Ägypten und Jordanien begegnete. Wie an zahlreichen Stellen des Albums dominiert auch hier eine Tonskala mit östlich/orientalisch anmutenden übermäßigen Sekundschritten. Steve ist, passend zur Örtlichkeit, unter anderem an der Oud, einer arabischen Laute, zu hören.

Joie De Vivre

Einen französischen Chanson, wie er von Serge Gainsbourg hätte gesungen worden sein können, intoniert Steve als nächstes – synkopierte Strophen sind eingekleidet in ein Vor-/Zwischenspiel, das aus arpeggierten komplexeren Akkorden besteht.

The Memory Of Myth

Wir wenden uns wieder ostwärts und den Mythen des alten Griechenland zu. Die mysteriöse (dazu trägt auch beispielsweise das Streichertremolo ab 1:41 bei), buchstäblich traum-hafte Musik beginnt mit einer Einleitung auf der (echten) Violine von Christine Townsend, und mehrfach glauben wir, das Vorspiel zu Imaginingbeginne … doch nein, auch das war nur ein Traum, und das Stück vergeht wie eine Seifenblase.

Scarlatti Sonata

Genauere Angaben erhalten wir nicht, doch vermutlich hören wir hier zur Halbzeit des Albums das Arrangement einer Komposition von Domenico Scarlatti, der in etwa zeitgleich mit Johann Sebastian Bach lebte und der Nachwelt 555 Cembalosonaten hinterließ. Steve verweist auf die hier zu hörende Trillertechnik (wohl mit je zwei beteiligten Saiten statt einer), die er von einem Theo Cheng (kürzlich verstorben) erlernt habe.

Casa Del Fauno

In der einst vom Vesuv verschütteten italienischen Stadt Pompeii legte man ein Haus mit einer plastischen Darstellung eines Fauns frei, dem dieses Stück gewidmet ist. Nach einer langsamen Orchestereinleitung im Stile eines Rota oder Barber setzt ab 1:11 die Gitarre ein, doch das Beste kommt erst noch: Das herrliche Zusammenspiel der Querflöten von John Hackett und Rob Townsend ist ein wahrer Glanzpunkt dieses Albums!

The Dervish And The Djin

Steve Hackett 2020Ein Höhepunkt folgt nun auf den anderen. Mit dem Derwisch und dem Dschinn bezieht Steve sich seinen eigenen Worten zufolge auf die persische Kultur (und das Perserreich umfasste ja einst auch zahlreiche Mittelmeeranrainergebiete). Unter persischer Herrschaft standen zeitweise auch das heutige Armenien und das heutige Aserbaidschan, zwei derzeit verfeindete Staaten, aus denen zwei Musiker stammen, die Steve für dieses musikalisch wohl intensivste Stück des Albums gewinnen konnte: Malik Mansurov aus Aserbaidschan an der Tar (einer orientalischen Langhalslaute, ab 1:35) und Arsen Petrosjan aus Armenien am Duduk, dem Blasinstrument, das auch von Peter Gabriel und Tony Banks bereits wundervoll in Szene gesetzt wurde. Ein schöner friedenspolitischer Akzent! Rob Townsend am (Alt-)Saxophon mit eingerechnet, ist es auch das Stück mit den meisten Mitwirkenden. Die Dramaturgie erscheint dabei klar: Aus der Meditation des Derwischs, so mag man es sich vorstellen, entwickelt sich sein immer intensiver werdender Tanz, der insbesondere in der zweiten Hälfte des Stücks (Erscheinung des Geistes?) schwindelerregend ekstatisch wird – Townsends Saxophonspiel und dessen Abmischung erinnern an spacige Klänge eines Nik Turner (Hawkwind). Am Ende erleben die Zuhörenden zum Glück kein Fade-out, sondern ein fast abruptes Wieder-zur-Ruhe-Kommen.

Lorato

Hier verlassen wir den Mittelmeerraum für einen Abstecher ins südliche Afrika nach Botswana. In der dort geläufigen Sprache Tswana lautet das Wort für ?Liebe? lorato. Steve steuerte dieses Stück bereits 2016 zu dem Album Harmony For Elephants bei, an dem auch Anthony Phillips ausgiebig mitwirkte (ein Stück schrieben beide damals auch gemeinsam). Hier hat er es neu (und auf einer anders besaiteten Gitarre) aufgenommen, der Track ist gut 20 Sekunden länger als 2016 (dennoch der kürzeste Beitrag auf diesem Album). Stilistisch erinnert das liedchenhafte Stück wohl am ehesten an Steves 1997er Sommernachtstraum.

Andalusian Heart

Spanien und seine Flamenco-Musiker erhalten nun ihre Hommage. Über Steves virtuose Gitarrenbeiträge legt sich jedoch eine vertraut wirkende Melodie, dargeboten von Rogers Orchester, unterstützt von Franck Avril an der Oboe sowie erneut Christine Townsend an Geige und Bratsche. Bei der so genussvoll ausgekosteten Melodie handelt es sich um das instrumentale Zwischenspiel von (Achtung, Spoiler!) tuO yaW ysaE ehT gnikaT von seinem 1984er Album, welches ebenfalls kulturell-stilistisch weit über den Tellerrand schaute.

The Call Of The Sea

Dem Mittelmeer selbst ist das letzte Stück gewidmet, und mittelmäßig im Vergleich zu dem davor Gehörten mag die Komposition erscheinen. Die Gitarre solo macht den Anfang. Wie auch an anderen Stellen des Albums flicht Steve Selbstzitate ein – Schnipsel, die an die acoustic sections seiner Rock-Konzerte erinnern. Zweifelsohne ist es ein Spaß, sich zu erinnern, woher man dieses Motiv oder jene Harmonie kennt. Die letzten dreieinhalb Minuten jedoch bieten eher Hausmannskost mit einfachen melodischen, rhythmischen und harmonischen Zutaten, Gitarre plus Streicherklänge.

Fans von Steves „Akustikalben“ dürften auch von diesem neuen Werk nicht enttäuscht sein. Zudem ist es ein Beleg dafür, dass der Lockdown auch Gutes hervorzubringen vermag. Bahnbrechend Neues ist hier ebensowenig zu hören wie auf seinen letzten „elektrischen“ Alben, doch das war auch bei den ganz großen Komponisten der Musikgeschichte im Herbst ihres Lebens eher selten der Fall. Die schwindende Hoffnung, dass es überhaupt nochmal ein solches Album geben würde, hat sich überraschend erfüllt, es nimmt in Konzeption, Stilistik und Besetzung seinen ganz eigenen Platz in Steves Gesamtwerk ein, und tatsächlich wächst es einem bei wiederholtem bewusstem Anhören nicht nur ans Herz, sondern entführt einen ganz sinnlich in mediterrane Regionen, die man womöglich noch nie selbst bereist hat.

Autor: Andreas Lauer
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Diskutiert über das Album mit anderem im it-Forum in diesem Thread

Steve Hackett 2020