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Anthony Phillips – Sides – Album Rezension

1979 veröffentlichte Ant mit Sides sein drittes Soloalbum im Rock-Genre. Thomas Jesse betrachtet das Album anno 2019, also ganze 40 Jahre später …

Hintergrund (*1)

Nach der Veröffentlichung des Vorgängers Wise After The Event im Mai 1978, mit eher mäßigem Verkaufserfolg, begann Anthony Phillips mit der Arbeit am Nachfolgealbum. Es sollte im Gegensatz zu seinen Vorgängern komplett neu komponierte Songs beinhalten. Allerdings zweifelte er an seiner Rückkehr ins Musikgeschehen, denn der Markt änderte sich rapide. Punk und New Wave spülten den Progressive Rock davon. Ant mit seiner an Klassik, Folk, Mittelalter und eben Prog orientierten Musik war da keine Ausnahme. So war es nicht verwunderlich, dass die Plattenfirma von ihm kürzere, radiotauglichere Songs erwartete. Sein damaliger Manager, Tony Smith, unterstütze ihn und trieb ihn an. Ant rief für die Aufnahmen die Truppe der Wise After The Event – Sessions zusammen. Er verließ sich auf die Produzentenkünste von Rupert Hine, Mike Giles und John G. Perry spielten wieder Schlagzeug und Bass. Allerdings brachte die Plattenfirma ihn auf die Idee, Gastsänger zu engagieren. Er rekrutierte Dale Newman und Dan Owen ebenso aus dem Genesis-Umfeld (sie waren dort als Instrumenten Techniker und Roadies engagiert und hatten als Duo Genesis bei Konzerten als Vorband gedient), wie auch Nick Bradford (Sound-Engineer bei den Aufnahmen von Trick Of The Tail und Wind & Wuthering) als Soundtechniker in den Matrix-Studios.

Der Titel des Albums sollte ursprünglich Balls heißen, eine sarkastische Umschreibung des musikalischen Zweifelns, in dem sich Ant damals befand. Der Albumtitel schien aber zu exzentrisch zu sein, so dass er in Sides verändert wurde. Sehr zum Leidwesen des Coverkünstlers Peter Cross, der das wunderschöne Motiv um ein Tischfußballspiel herum noch nachbessern musste. Der Titel Sides repräsentiert jedoch gut die beiden unterschiedlichen Seiten/ Hälften der LP.

Noch bevor die Aufnahmen begannen, lud Ant seine „Band“ Anfang Oktober 1978 für zwei Wochen zum Einüben der von ihm zu dem Zeitpunkt komponierten Lieder in die Farmyard Studios nach Buckinghamshire. Die Songs Um & Aargh und Nightmare wurden entwickelt.

Die eigentlichen Aufnahmen begannen Mitte Oktober in den Essex Studios in London. Hier entstanden die Master von Sisters Of Remindum, Bleak House, Magdalen und Nightmare. Diese wurden in die Londoner Matrix Studios transportiert, wo sie von Nick Bradford abgemischt wurden, um sie für die Aufnahmen der Overdubs und Vocals wieder zurück in die Essex Studios zu bringen. Während der Zeit entstand das Lied Catch You When You Fall, das erst Jahre später auf der Archive Collection I und schließlich in der vorliegenden finalen CD-Deluxe-Ausgabe Platz fand.

Es sollte bis Dezember 1978 dauern, ehe die Masterkopie bei der Plattenfirma Gehör fand. Deren Manager Marty Scott jedoch wünschte sich für ein paar der Stücke eine instrumentale Ergänzung. So musste noch eine Aufnahme-Session gebucht werden, in der Mel Collins Saxophon-Parts für Side Door einspielte, Um & Aargh wurde verändert, und Morris Pert veredelte Lucy Willund Nightmare mit seinem Percussion-Spiel

Erst im Januar 1979 waren die endgültigen Mastertapes fertig. Allerdings wurde die Songabfolge verändert. Man entschied sich, die längeren, komplexeren Stücke auf die zweite LP-Seite zu packen. Im April 1979 wurde das Album veröffentlicht. Die erste Auflage von 5000 Stück erhielt als kostenlose Beigabe Private Parts & Pieces I, bisher nur in Kanada und den USA im November 1978 erschienen. Zur Feier der Veröffentlichung fand in den Räumen von Arista Records in London ein Kicker-Turnier statt. Als Single wurde Um & Aargh mit dem Non-Album-Track Souvenir ausgekoppelt. Souvenir wurde auf alle folgenden CD-Ausgaben als Song Nr. 6 nach Holy Deadlock hinzugefügt.

Ausgaben (Auswahl):

LP Arista (UK) (1. UK-Auflage mit Beigabe P&P I) – SPART 1085 (1979)
Vertigo (u.a. GER) (mit Sticker „Ex-Genesis-Gitarrist“) – 9124 3621984 (1979)
LP Passport (USA, Kanada) – PB8-9834 (1979)
CD Virgin – CDOVD 316 (1990)
2CD Voiceprint – Expanded and remastered – SCD 11 (2010)
CD Box Deluxe Edition Esoteric – ECLEC (2016)

Single:
Um & Aargh (B-Seite: Souvenir) – 1979

Covergestaltung / Songfolge:

Ganz wichtig zu erwähnen ist die fantasievolle, detailreiche Covergestaltung von Peter Cross. Das Zentrum bildet ein Tischfußballspiel, dessen Kicker Ant nachgebildet sind. Man findet viele Bälle und Bildschnipsel der Vorgängeralben. Auf der Backside sind liebevoll gestalte Karikaturen der am Album Mitwirkenden (alleine Tony Smith ist in vier Bildsequenzen abgebildet) und eine Fußballspielszene zu sehen. Man muss die LP haben, um den Detailreichtum richtig würdigen zu können.

BackcoverAuch auf diesem Album werden Pseudonyme benutzt, Ant tritt z. B. als The Vicar und Ralph Bernascone auf, Rupert Hine als Humbert Ruse und Hubert Rinse.

Side One – First Half –

1. Um & Aargh

2. I Want Your Love

3. Lucy Will

4. Side Door

5. Holy Deadlock

6. Souvenir (CD only)

Side Two – Second Half –

1. Sisters Of Remindum

2. Bleak House

3. Magdalen

4. Nightmare

Die Songs:

Ant 1979Um & Aargh

Ein straighter Rocker eröffnet das Album. Ant singt gehetzt wirkend sehr viel ironischen Text über die Ansprüche einen Hit zu schreiben und sich im Wirrwarr aus Kommerz, Müßiggang, Verpflichtungen produktiv zu sein, zu behaupten. In einem Vers wird der zuerst vorgesehene Titel des Albums erwähnt: „I said, ‚My Song?‘, he said: ‚it’s long, it’s got no balls‘, I said: ‚That’s neat, but it took me thirty years to write‘, He said: ‚your image is incomplete.'“

Sehr schön die Unterbrechung des gehetzten Songs bei Minuten 2:25 durch ein elegisches Gitarren-Solo.

I Want Your Love

Die erste Ballade des Albums wird von Dan Owen gesungen. Sehr gefühlvoll, sanft, verträumt, erinnert das Lied an den Flair des Vorgängeralbums. Der Gesang lässt Vergleiche zum Alan Parsons Project zu, auch das Versschema und die Instrumentierung könnten von I Robot, oder Pyramid stammen. Fast schon zu schön, um nicht kitschig zu wirken.

Lucy Will

Ant trauert, alle Instrumente selbst spielend, einer verflossenen Liebe nach? Schöne 12-Strings, sanftes Keyboard, unaufdringliche Percussion. Wer ist nur Lucy, die, berühmt geworden, den Erzähler vergessen hat?

Side Door

Die Blues-Nummer des Albums-äh? Ein Saxophon zerstört den Traum an Lucy. Wieder singt Dan Owen. Begleitet wird er von dumpfen Bassparts, simplen Gitarrenakkordfolgen. Eher doch ein simpler Popsong mit Vers-Refrain-Vers-Bridge-Refrain-Folge. Oh, der Bass ist aber wirklich cool.

PosterHoly Deadlock

Mit Gitarrengeschrammel, Bassgepumpe und Ants Gesang geht es weiter. Martin Hall, bekannt aus seiner Zusammenarbeit mit Peter Gabriel, schrieb die kryptischen Lyrics, die sich wohl ironisch mit Kommunikationsstörungen in Beziehungen beschäftigen. Das schnelle Fadeout ist ein Schwachpunkt des Stücks, aber dieser schräge Rhythmus ist abgefahren. Gibt es eine Verbindung zu 10CC (nicht nur wegen Dreadlock Holiday), oder ist es ein Verweis auf Bleak House, in der eine Familie Dedlock vorkommt??

Souvenir(CD-Ausgaben)

Diese Single B-Seite überrascht mit wunderschönem Gitarrenspiel, gefühlvollem Gesang und Flötensolo von John Hackett. Ein melancholisches Lied, das auch gut auf Mike Rutherfords erstes Solo-Album gepasst hätte.

Sisters Of Remindum

Endlich ein Prog-Track! Mit dräuendem Pianowirbel führt uns Ant ein, Bass und Schlagzeug folgen, stakkatoartig treibt uns das Lied in ungeahnte Höhen, um ganz sacht mit Piano-Klängen zu verwehen. Herrlich, dieses Instrumental ist ein Höhpunkt des Musizierens auf dem Album. Sehr Genesis-like! Komponiert hat Ant das Stück schon 1977, wo es für das Wise-Album vorgesehen war. Sollen die Schwestern der Erinnerung Ant ermahnen, seine musikalischen Wurzeln nicht zu vergessen?

Bleak House

Ant vertont hier Charles Dickens‘ Roman, der zwischen 1852/53 in 20 Fortsetzungen erschien. (*2)

Bleak House öffnet leise mit einer Keyboardsequenz, bis Dale Newmans Gesang beginnt. Träumerisch, melancholisch, die Stimmung des viktorianischen Englands mit spinettartigem Keyboard, akustischer Gitarre, Piano in schöner Genesis-Manier mit tollem Refrain auffangend. Das Familien-Sozialdrama wird wundervoll interpretiert. Ohne Zweifel mit dem folgenden Magdalen das Highlight des Albums. Schade, dass es nicht für die TV-Serie von 2005 als Titelmusik ausgewählt wurde.

Magdalen

Hey, ist das nicht eine Melange aus Trespass und Wind & Wuthering? Akustische Gitarren eröffnen, der Gesang setzt ein, Gitarren, Bass und Schlagzeug treiben das Stück voran, bis es wieder von akustischen Gitarren gebrochen wird, um in einem großen instrumentalen Finale zu enden? Nein, wieder ein Bruch durch den flehenden Gesang von Dale und Ant. Es erinnert an die großen Stücke des Vorgängeralbums und ist mit knapp acht Minuten der längste Albumtrack. Bezieht sich Ant hier auf die heilige Maria Magdalena? Eine Verbindung durch eine Textzeile scheint zur Magdalen Chapel in Edinburgh zu bestehen. (*3)

Nightmare

Ant 1989Ein großartiges, instrumentales Finale des Albums. Eine von Ant gespielte Leadgitarre gibt die Richtung an. Schlagzeug und Bass fügen sich in den sich stetig steigernden Albtraum. Bei Minute 2:25 spielt die Gitarre eine Art ?Morsesound?, der von bedrohlichen Keyboards begleitet wird und sich in einem Schlagzeugwirbel auflöst, der das Stück seinem Ende entgegentreibt. Allerdings nur, bis es von der Anfangssequenz gebrochen wird, die im bedrohlichen Dunkel nicht enden wollend, dann doch mit einem schönen Bass-Solo ausläuft.

Die Deluxe-Ausgabe

Die Ausgabe enthält u.a. eine CD mit zahlreichem Bonusmaterial, die hauptsächlich die Instrumentalmixe der Album-Stücke beinhaltet. Etwas für Hörer, die den Entstehungsprozess der Songs nachvollziehen möchten, oder sich für Alternativversionen interessieren. Hervorzuheben sind Catch You When You Fall, ein Folkpop-Instrumental im Stil der späten Strawbs, die Piano-Nummer Before The Night, die auch auf einem P&P-Album Platz gefunden hätte, sowie die Original Mixe von Lucy Will, ohne die später hinzugekommenen Congas und von Side Door, ohne das später hinzugefügte Saxophon. Zu erwähnen ist auch ein Alternativ-Mix von Sisters Of Remindum, mit dominierendem Piano.

Der remasterte Stereo-Mix gefällt mit klareren Höhen und einer leicht verbesserten Räumlichkeit. Da ich nicht Surrround höre, kann ich zu diesem Mixing leider nichts sagen.

Es ist empfehlenswert, sich diese Ausgabe anzuschaffen. Auch die Aufmachung mit stabiler Box, schönem Artwork und Poster sprechen für sich.

Schlussbemerkung

CollageDer geneigte Hörer der ersten beiden Alben und des ersten Werks der Private Parts & PiecesReihe wird überrascht von Sides sein. Beginnt die erste Hälfte der LP doch mit einem durchaus knackigen, poprock-orientierten Song, der von einer fast schon kitschigen Ballade abgelöst wird. So zieht es sich bis zum Ende mit Holy Deadlock. Ja man fragt sich, ob hier 10CC, Alan Parsons Project, Quantum Jump mit Genesis light zusammentreffen. Verwirrt, vielleicht ein wenig missmutig, beginnt der Hörer mit der zweiten Hälfte der LP, um sich von einem Instrumental mitreißen zu lassen. Da haben wir ja den alten Tresspass – Ant, oder? Die beiden folgenden Tracks bestätigen den Eindruck. Schön eingerichtet, wollen wir das Album ausklingen lassen, aber nun beschließt ein furioses Instrumental, Nightmare, viel zu schnell die musikalische Achterbahnfahrt. Puuh, was war denn das? Lassen wir doch den Produzenten, Rupert Hine, ein paar Worte verlieren:

I don’t think Sides gained a lot more by the attempts at more commercial song-writing, outside singers and so on. It’s still a good album, but you can hear these attempts to make the music perhaps slightly more widely appealing for better and for worse. (*4)

Es ist ein gutes Album, voller Ideen und Abwechslung. Es wirkt etwas bemüht, den perfekten Song zu komponieren und aufzunehmen. Das liegt vielleicht in der langen Produktionsphase begründet. Es scheint, als ob zu viele Köche in dem Brei herumrühren, oder Ant kein Ende gefunden zu haben. Kompromisse, beginnend mit der Veränderung des Titels und endend mit der Veränderung der Songfolge, wurden gemacht.

Für mich ist das aber der Reiz des Albums. Es ist das abwechslungsreichste Werk von Ant und hat seinen berechtigten Platz im Genesis-Kosmos. Überlassen wir Ant das Schlusswort:

Sides is quite commercial in some respects but quite progressive in some areas. I think a lot of people would like to hear stuff like that. I would liked to do another one like it, no doubt about it but it just was impossible. (*5)

Autor: Thomas Jesse
Sides ist in der Neuauflage als 3CD/DVD-A bei amazon oder JPC erhältlich.

Anmerkungen

(*1) siehe: Linernotes des Booklets der Deluxe-Ausgabe
(*2) siehe: Bleak House, Bleak House TV Serie
(*3) siehe: Magdalen Chapel Edinburgh
(*4) siehe: Rupert Hine im Booklet zur Deluxe-Ausgabe, S. 8, YouTube
(*5) siehe: Anthony Phillips im Booklet zur Deluxe-Ausgabe, S. 10