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Tony Banks – Five (mit Nick Ingman) – Album Rezension

Im Februar 2018 veröffentlicht Tony Banks sein drittes Orchesteralbum. Dieses Mal holte er sich Hilfe durch den renommierten Dirigenten Nick Ingman. Andreas Lauer beschreibt das neue Werk ausführlich.

Anton Bruckner soll sich vor über 120 Jahren vor der Komposition seiner 9. Symphonie gefürchtet haben, da nicht nur für Ludwig van Beethoven die Neunte auch die letzte war. Und tatsächlich wurde sie zu seinem Schwanengesang. Der andere „Anton B.“, dessen neuestes Werk Five wir hier kurz reflektieren wollen, muss sich diesbezüglich keine Sorgen machen. Zum einen wird er vermutlich nicht in die Verlegenheit kommen, eine Symphonie zu schreiben, die den Formkriterien einer solchen auch bei freier Auslegung genügte (Tony im itInterview vom 23. Januar 2018 zur formalen Struktur seiner Stücke: „I don’t think about that too much. I do what I do and hope to carry other people with me.“). Zum andern sorgt die Zählweise seiner Orchesteralben, wenn man The Wicked Lady außer Acht lässt, dafür, dass spätestens nach dem siebten ohnehin Schluss sein dürfte. Oder nach dem achten – Zero, einem Tacet à la John Cage in Albumlänge, so absurd wie Christian Morgensterns Nul(e)l-Ant, der sich aus dem Gig-Anten, schließlich El(e)f-Anten, Zeh(e)n-Anten usw. entwickelt. Sorgen machen müssen uns hingegen eher wir, die wir Tony Banks‘ Musik gegenüber mehr oder weniger in besonderer Weise aufgeschlossen sind – denn wenn weiterhin zwischen zwei Orchesteralben jeweils sieben Jahre liegen, veröffentlicht er One mit stolzen 96 Jahren – Bruckner jedenfalls wurde nur 72 Jahre alt (von Beethoven, für den mit 56 Jahren der final curtain fiel, ganz zu schweigen).

Doch wenden wir uns der Musik zu. Die Vorgeschichte, dass 2014 beim Cheltenham Music Festival ein von Tony komponiertes Auftragswerk uraufgeführt wurde, das damals den etwas unbeholfenen Titel Arpegg trug (zudem unpassend, da Arpeggi zumindest bei der heutigen Fassung nicht gerade stilprägend im Vordergrund stehen, eher träfe das bei Reveille zu) und nach einiger Überarbeitung zu dem eröffnenden und längsten Stück Prelude To A Million Years des vorliegenden Albums wurde, ist hinlänglich bekannt. Aus o. e. Interview wissen wir auch, dass das Schlussstück Renaissance als letztes komponiert wurde, aber etwas Material verwendet, das Tony vor wohl 30 Jahren bereits als musikalische Idee aufgenommen hatte. Die übrigen Stücke sind komplett neu, und wie schon bei SIX: Pieces For Orchestra vertraute Tony Arrangements und Aufnahmedirigat ein und derselben Person an. Diesmal war dies Nick Ingman, dessen Hauptbetätigungsfeld nach eigenem Bekenntnis das „commercial music field“ ist (womit aber nicht nur Musik für Werbespots gemeint ist). Er ist uns bereits als (Co-)Arrangeur von Stephin Merritts The Book Of Love für Peter Gabriel bekannt. Während das Eröffnungsstück nach einem Buch ohne Worte von 1933 des amerikanischen Künstlers Lynd Ward benannt ist (literarische Inspirationen sind bei Tony ja keine Seltenheit), repräsentieren die vier übrigen Stücke, wie Tony ebenfalls verriet, unterschiedliche Tageszeiten: Reveille. Weckruf“) den Morgen, Ebb And Flow. Ebbe und Flut“) die Mittagszeit, Autumn Sonata. Herbstsonate“) den Abend und Renaissance. Wiedererwachen“) schließlich die Nacht. Ein denkwürdiger Kontrast – eine Million Jahre gegen einen vielfarbigen Tag. Solisten kommen an verschiedenen Stellen zur Geltung, konzertieren aber nicht wie Martin Robertson oder Charlie Siem auf SIX. Tony spielt bei allen Stücken am Flügel, was er schon auf Seven bei drei Stücken tat. Das Klavier wurde als erstes aufgenommen und diente zusammen mit Clicktracks als Richtschnur für die Orchestermusiker, deren Parts nicht oder über weite Strecken nicht als volles Ensemble, sondern als einzelne Register und abschnittsweise aufgenommen wurden – eine Studiotechnik, die für Orchesteraufnahmen weniger gebräuchlich als für sogenannte Popularmusik ist. Eine echte musikalische Neuerung gegenüber beiden Vorgängeralben ist der von Nick Ingman angeregte Einsatz eines Chors bei drei Stücken. Er singt keine Texte, sondern Vokalisen und bereichert als Klangfarbe das Gesamtwerk ungemein.

Tony Banks 5 Vinyl

Das Prelude beginnt und endet in C-Dur. Eine Einleitung gemahnt an einen frühen Sonnenaufgang, im Vergleich zu Edvard Griegs Morgenstimmung aus Peer Gynt aber eher düster, also eher „Morgengrauen“. Langsam formt sich melodisches Material heraus, und ab 1:38 deutet sich bereits vorsichtig das Hauptthema des Stückes an, das dann ab 2:07 in F-Dur präsentiert wird. Das leichtfüßige Arrangement mit Flöten-Arpeggi wird ab 2:43 jäh unterbrochen durch einen zweimaligen dies-irae-artigen Einschub, bevor ab 3:46 die Oboe in H-Dur in eine spannungsgeladene Passage in cis-Moll überleitet, aus der ab 4:16 ein Nebenthema hervorgeht. Das Hauptthema kehrt zurück, ab 5:09 erhoben zu einer brillanten, eingängigen Form. Einige Staccato-Passagen und Modulationen des Nebenthemas später wird ab 6:55 der bisherige Ablauf in etwa wiederholt, von der Einleitung bis zum brillanten Hauptthema, welches aber nicht das letzte Wort hat, als das Stück wieder in die Beklommenheit der Einleitung abtaucht.

Die ersten Klänge des Weckrufes (Reveille) verstören den Zuhörer – spielt hier wirklich jemand schnelle g-Moll-Arpeggi auf einem Orchesterinstrument (es müsste sich um ein Idiophon handeln, beispielsweise ein Xylophon), oder ist dieses Grundmuster, dem sich nach und nach mehr (echte) Instrumente anschließen, nicht vielmehr elektronisch erzeugt? Ab 0:46 ist die solistische Trompete zu hören, die dieses Stück beherrscht. Ab 1:24 stellt sie das Hauptthema vor, wieder befinden wir uns in (einfallslosem/bequemem oder aber bewusst gewähltem?) C-Dur. Bei 1:54 stößt der Chor erstmals hinzu und verstärkt die wall of sound mit Harmoniegesang, zur Solotrompete gesellt sich eine zweite hinzu. Der schnelle Grundrhythmus bricht ab, und nach einem Ritardando beginnt ab 2:28 ein ruhiger Teil, in dem das Klavier die Grundstruktur vorgibt. Melodisch wird das Material des Hauptthemas verwendet. Bei 3:56 wird die Besetzung kammermusikalisch: Ein kurzes Intermezzo von Streichquartett und Oboe leitet zu einer Wiederaufnahme des arpeggierten Grundrhythmus‘ ab 4:16 hin – Reprise des ersten Teils, Ritardando und erneut ruhiger Teil ab 5:48, ab 6:10 in Es-Dur, ab 6:50 prominenter Einsatz des Glockenspiels (das auch schon auf Seven zu hören war), ab 8:25 Ausklang dieses kürzesten Stücks des Albums wiederum in C-Dur.

Zum Mittag hin – Ebb And Flow – sinkt die Tonart auf H-Dur ab, wo sie aber nicht lange verweilt. Ab 0:32 wird das erste Hauptthema in E-Dur beginnend vorgestellt und durch spannende Modulationen geführt – bei 1:23 BACH-Motiv (Ges-F-As-G). Bei 1:39 beginnt nahtlos ein weiterer Teil mit schnellem Staccato-Grundrhythmus der Streicher, in dem ab 1:46 Sopran-Saxophon und Oboe gemeinsam als Solisten in Erscheinung treten. Erwähnenswert ist im weiteren Verlauf, dessen Komplexität hier nicht im Einzelnen auseinandergenommen werden soll, die Prominenz von Harfe und – ab 5:18 zur Unterlegung eines Streichquartetts – Vibraphon. Herrlich sind die harmonischen Rückungen, wie sie bei 1:08 erstmals auftauchen, oder jene ab 5:42. Ab 11:07 kann man das Gefühl haben, einen emotionalen Höhepunkt in einem Star Wars-Klassiker zu erleben (die fallende Quarte erinnert an John Williams‘ Star Wars-Hauptthema), ehe sich die Musik bei 12:06 noch einmal gänzlich zurücknimmt und das erste Hauptthema – diesmal in Es-Dur – das Stück beschließen lässt

Die Herbstsonate (Autumn Sonata) beginnt ohne Einleitung mit einem Thema in E-Dur, das wie die meisten dieses Albums gut singbar ist (cantabile). Stilistisch fühlt man sich an Phil Collins‘ Disney-Soundtracks erinnert. Und freilich handelt es sich nicht um eine Sonate im engeren Sinn, da diese eine kammermusikalische Form ist (die Orchestervariante nennt sich Symphonie …) und – wenn schon wie hier einsätzig – zumindest einige Elemente der Sonatenhauptsatzform aufweisen müsste; in einem älteren Verständnis des Begriffs kann man „Sonate“ jedoch als „Klangstück“ übersetzen, und um ein solches handelt es sich hier zweifelsohne. Nach dem E-Dur-Thema geht es in Des-Dur weiter, Banks-typische Modulationen inbegriffen. Reizvoll ist der Trompetensoloteil ab 2:38, und kurios wird die spannungsreich-mystische Entwicklung ab 3:48. Ab 5:38 spielen die Streicher die vor drei Minuten noch so heitere Trompetenmelodie in völlig anderer Harmonisierung, und bei 6:10 wirft das dramatische Finale schon einmal seine Schatten voraus, ehe der heitere Des-Dur-Teil noch einmal wiederkehrt, nochmals dramatischer Aufbau, ab etwa 8:30 wieder mit Chor-Beteiligung, ehe das Stück schließlich doch noch gelassen endet.

Themenreich ist Renaissance, und hier kommt der Chor in besonderer Weise zur Geltung. Wie ein frühes Genesis-Stück (beispielsweise Stagnation) ist es aus recht verschiedenen Teilen zusammengesetzt. Den Anfang macht wie beim Prelude ein gehaltenes tiefes C. Streicher und Oboe spielen dazu eine Monodie auf einer ungewöhnlichen diatonischen Skala, bevor ein starkes Crescendo des Chors auf einem übermäßigen Akkord den Zuhörer erstarren lässt – … Szenenwechsel: Eine herrlich-melancholische Elegie, die von Nino Rota stammen könnte, lässt jede Faser erweichen. Dargeboten wird sie von Streichern, Chor und einem Soloinstrument, dessen Identität mir Kopfzerbrechen bereitet: der Klang liegt irgendwo zwischen geblasenem Kamm, gedämpfter Trompete, Sopran-Saxophon und Uillean Pipe … Ab 2:54 wird es majestätisch. Die 30 Sekunden ab 3:16 mag mancher als kitschig verurteilen – für andere sind sie sicherlich einer der Höhepunkte dieses Albums. Ab 5:21 wird die gruselnde Einleitung wieder aufgegriffen, ehe ab 6:14 das Klavier mit vollgriffigem Forte das Finale mit abermals neuem thematischem Material einleitet, welches den dramatischsten aller Abschlüsse dieses Albums erfährt, wobei das majestätische Thema wiederkehrt und der Chor vor dem strahlenden As-Dur-Schlussakkord nochmals seinen übermäßigen Akkord (As-C-E) in Szene setzt. Ähnliche Chor-„Aahs“ als übermäßigen Akkord (zwei aufeinandergeschichtete große Terzen) hat Tony schon mehr als vierzig Jahre zuvor bei Los Endos mit dem Mellotron produziert, an der Stelle, wo das Dance On a Volcano-Motiv verfremdet zitiert wird, bevor das große Finale startet.

Dem aufgeschlossenen Musikhörer kann nur empfohlen werden, sich das Werk mindestens zwei- bis dreimal anzuhören. Bei mir selbst diente das erste Hören nur zum Streichen der Erwartungen, die ich an das Album gehabt hatte. Ab dem zweiten Hören verfing die Reichhaltigkeit und Ausgewogenheit des Albums derart bei mir, dass ich es jetzt, nach nur wenigen Tagen, als Tonys bestes Album neben A Curious Feeling einordnen möchte. Tonys eigenes Urteil aus seinem tschechischen Interview, es sei seine bislang beste Orchesterarbeit, ist plausibel – Seven hatte zwischen vielen guten Ideen doch einige Längen aufzuweisen, und SIX ließ mich persönlich fast gänzlich unberührt. Ob die Verbesserung einfach Tonys künstlerischer Entwicklung geschuldet ist oder den personellen oder technischen Neuerungen bei diesem Projekt, sei fürs erste dahingestellt. Alben mit neuer Musik aus dem Genesis-Kosmos gibt es in diesen Jahren nicht mehr allzu häufig. Wenn sie dann wie in diesem Fall auch noch eine echte Weiterentwicklung darstellen (statt im Schatten einstigen Glanzes zu stehen oder zu dokumentieren, wie der Künstler sich selbst kopiert), darf man Tony Banks hier herzlich gratulieren!

Autor: Andreas Lauer

Five erscheint am 23.02.2018 bei BMG

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