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Genesis – Archive #2: 1976-1992 – 3CD Boxset Rezension
Nach dem vielbeachteten ersten Archive Set folgte 2000 der zweite Streich, der die Jahre 1976-1992 abdeckte. Ob das zweite Set an das erste anknüpfen kann, klären Tom Morgenstern und Helmut Janisch.
I N T R O
Nachdem es über drei Jahre von dem Bekanntwerden der Pläne zu einem Genesis-Box-Set bis zur Veröffentlichung von Archive Vol. 1 – 1967-75 im Juni 1998 dauerte, konnte man fast davon ausgehen, dass die Arbeiten am zweiten Teil des Sets ähnlich lange dauern würden. Aber Archive #2 – 1976-1992 folgte dem Vorgänger nach nicht einmal zweieinhalb Jahren in die Plattenläden. Überhaupt wurde um Archive #2einerseits bei den Fans und bei der Plattenfirma im Vorfeld weniger Aufhebens gemacht. Da diesmal leider auch die Quellen, die uns noch beim ersten Box-Set lange vor dem Erscheinen viele Details verraten hatten, schwiegen, rechnete kaum ein Fan ernsthaft mit der Veröffentlichung vor 2002. Im Frühjahr 2000 kam deshalb die Information der Plattenfirma, dass das Box-Set im selben Jahr erscheinen sollte, nicht weniger überraschend, als deren Bitte, für die Band eine Art Wunschliste für Archive #2 zusammenzustellen, die neben anderen Kriterien mit zu der Auswahl der Stücke beitragen sollte. Diese Liste entstand kurzfristig aus einer Blitz-Aktion unseres Clubs und wurde über Virgin nach England weitergeleitet. Am 6. November 2000 stand das Endprodukt dann in den Regalen.
M U S I K
Die Track-Zusammenstellung der zweiten Genesis-Archive-Box hinterlässt zwiespältige Gefühle. Einerseits kann man sich freuen, die sechs schon lange vergriffenen. – B-Seiten-Tracks It’s Yourself, The Day The Light Went Out, Vancouver, Naminanu, Submarine und I’d Rather Be You erstmals auf CD zu hören, andererseits fragt sich nicht nur der Komplettist natürlich sofort, warum ausgerechnet Match Of The Day und Me And Virgil fehlen. Mit diesen beiden Songs wäre die Reihe der Non-Album-Studio-Tracks der Collins-Ära vollständig gewesen. So liegen diese keineswegs schlechten Stücke (Match Of The Day beispielsweise war 1978 oft im Radio zu hören) weiterhin nur auf der schwer erhältlichen CD-Version der Spot The Pigeon-EP bzw. der gestrichenen deutschen Erstpressung des Three Sides Live-Albums im (allerdings nicht remasterten) digitalen Format vor. Ein Ärgernis erster Kategorie, nicht nur, weil genug Platz auf CD 1 und 3 vorhanden gewesen wäre, sondern auch weil Tony Banks leicht arrogant die Auswahl in seinem Vorwort des Booklets rechtfertigt: „No studs or stetsons, the line has to be drawn somewhere.“ Er erklärt weiter, dass durchaus einige Bandmitglieder den einen oder anderen Song, der im Laufe der Genesis-Geschichte nur auf einer B-Seite oder EP gelandet ist, lieber auf dem dazugehörigen Album gesehen hätten. Trotz der etwas konfusen, nicht chronologischen Zusammenstellung dieses Box-Sets ist dies, gerade beim Anhören von CD 1, sehr gut nachzuvollziehen. Vom überflüssigen I Can’t Dance-12″-Mix abgesehen bietet sie eine abwechslungsreiche Compilation, der man nicht anmerken würde, dass sie aus Album-Outtakes besteht. Mike Rutherford hat einmal in einem Interview bedauert, dass es von Genesis kein „definitives“ Album gibt, wie etwa von Pink Floyd. Man kann den Eindruck gewinnen, als seien die Diskussionen innerhalb der Band über die Auswahl der Songs nicht unschuldig daran gewesen. Wahrscheinlich waren viele gute Stücke einfach nicht konsensfähig, so dass man sich oft nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen konnte.
CD1
On The Shoreline 4:49
Hearts On Fire 5:14
You Might Recall 5:32
Paperlate 3:21
Evidence Of Autumn 4:58
Do The Neurotic 7:08
I’d Rather Be You 3:58
Naminanu 3:53
Inside And Out 6:43
Feeding The Fire 5:51
I Can’t Dance 12″ 7:01
Submarine 5:13
Gesamtspielzeit: 63:51
CD2
Illegal Alien (live) 5:31
Dreaming While You Sleep (live) 7:47
It’s Gonna Get Better (live) 7:31
Deep In The Motherlode (live) 5:55
Ripples (live) 9:52
The Brazilian (live) 5:17
Your Own Special Way (live) 6:50
Burning Rope (live) 7:28
Entangled (live) 6:56
Duke’s Travels (live) 9:31 Gesamtspielzeit: 72:48
CD3
Invisible Touch 12″ 5:58
Land Of Confusion 12″ 6:59
Tonight, Tonight, Tonight 12″ 11:46
No Reply At All (live) 4:55
Man On The Corner (live) 4:04
The Lady Lies (live) 6:08
Open Door 4:08
The Day The Light Went Out 3:13
Vancouver 3:02
Pigeons 3:13
It’s Yourself 5:25
Mama (work in progress) 10:42
Gesamtspielzeit: 69:44
Im direkten Vergleich mit den Erstveröffentlichungen fällt auf, dass einige ältere Non-Album-Tracks nun besser klingen als früher. Wie weit die Nachbearbeitung der Aufnahmen aber im Einzelnen ging – ob manche Tracks remastered wurden oder nur eine Pegelanhebung erfolgte – bleibt offen (zumindest bis Nick Davis, Geoff Callingham oder jemand von der Band sich dazu äußern). Vom Klang abgesehen, gibt es nur bei zwei der Studio-Tracks gravierende Unterschiede zum „Original“. Von It’s Yourself existierten ja bereits zuvor zwei verschiedene offizielle Versionen und eine weitere auf dem Bootleg A Trick Of The Tail Outtakes. Die Box-Set-Version ist aber mit keiner völlig identisch. So ist die Fassung auf z. B der italienischen Ripples-7″-Single ca. 25 Sekunden länger und endet mit einer Keyboard-Sequenz, die ganz zum Schluss an den Anfang von Mad Man Moon erinnert, gefolgt von zwei Sekunden irgendwelcher „Studio-Geräusche“. Die Archive-Version wurde einfach früher ausgeblendet. Die It’s YourselfRipples-7″-Single ist ca. 25 Sekunden länger und endet mit einer Keyboard-Sequenz, die ganz zum Schluss an den Anfang von Mad Man Moon erinnert, gefolgt von zwei Sekunden irgendwelcher „Studio-Geräusche“. Die Archive-Version wurde einfach früher ausgeblendet. Noch wesentlich früher (fast eine Minute) kommt der Fade-out z. B. bei der deutschen Your Own Special Way-Single. Sehr viel interessanter als alle offiziellen Varianten wäre aber eine Veröffentlichung der auf dem Bootleg A Trick Of The Tail Outtakes als Beloved Summer gelisteten Fassung von It’s Yourself gewesen, bei der der Gesangspart ca. eine Minute länger ist. Die einzige zuvor unveröffentlichte Studio-Aufnahme, die „Work-In-Progress“-Fassung von Mama, gibt einen faszinierenden Einblick in die vielzitierte jam-orientierte Arbeitsweise der Band im eigenen Studio. Man fragt sich, warum es auf Archive #2 nicht mehr davon gibt, zumal auch z. B. Demos zum Abacab-Album mehrmals als mögliches Material für Archive #2 genannt wurden und uns Tony Banks 1995 im it-Interview in dieser Hinsicht Hoffnung machte. An Material dürfte es nicht gemangelt haben (Tony Banks: „Phil war stets gut drin, einen Recorder mitlaufen zu lassen“), sondern vielleicht eher am Mut, „unfertiges“ und damit vermutlich noch weniger kommerzielles Material herauszubringen.
Die Auswahl der Live-Tracks auf CD 2 und 3 zeugt von deutlich mehr Sorgfalt. Wenn auch nicht alle Versionen Erstveröffentlichungen sind, handelt es sich doch weitgehend um vergleichsweise selten live gespielte Songs, wie Man On The Corneroder It’s Gonna Get Better. Auch die von Nick Davis offenbar neu vorgenommenen Abmischungen sind hervorragend. Sogar Your Own Special Way, das bei der Erstveröffentlichung 1992 (CD-Single Hold On My Heart) noch übel zischte, hat er sauber hinbekommen. Was genau bei welchen Titeln nachbearbeitet wurde, verrät das Booklet nicht, aber z. B. die dank Bill Bruford durchaus interessante Version von Entangled klingt viel mehr nach Studio als nach Bingley Hall, nicht nur, weil Collins wunderschön mit sich selbst zweistimmig singt. Schön wäre es auch gewesen, einige ältere Stücke wie The Knife oder White Mountain, die ’76 und ’77 nach langer Pause wieder im Tourrepertoire auftauchten, in einer Collins-Version auf CD zu bekommen. Aber auch die verschiedenen Live-Medleys sowie einige nur bei einer einzigen Tour gespielte Songs und Phils einzigartige Ansagen zu manchen Stücken hätten das Set bereichert. Was den Sound angeht, fehlt es den Live-Tracks oft etwas an Bässen. Der Vollständigkeit halber sei auch noch erwähnt, dass Duke’s Travels auch Duke’s Endeinschließt, was man wohl vergessen hat (?) zu erwähnen.
T E X T & O P T I K
Vorab etwas zum Design. Besonders originell ist die nunmehr dritte Verwendung des „I Can’t Dance-Walks“ auf einem Genesis-Album (nach The Way We Walk – The Shorts und The Longs) nicht. Betrachtet man sich die als Konturenlinie gezeichneten Elemente von früheren Album-Covern auf dem Einband der Box, kommt man außerdem um die Frage nicht herum, was die „Ellipsen“ des Calling All Stations-Albums darauf verloren haben. Das sind Zeichen dafür, dass nicht gerade Leute vom (Genesis-)Fach für das Design verantwortlich waren oder aber, dass alles etwas übereilt entstand.
Für letzteres spricht auch der textliche Inhalt des Booklets: ein kurzes Vorwort von Tony Banks und ein über den Rest des Heftes gestreckter Artikel von Hugh Fielder über die Collins-Jahre von Genesis, der für uns Fans wohl kaum Neuigkeiten beinhaltet (und nicht ganz fehlerfrei ist). Ein paar Worte von Steve Hackett und Bill Bruford, aber insbesondere auch von Daryl Stuermer und Chester Thompson zu dieser Epoche der Band wären vielleicht interessanter gewesen. Es folgen noch die Credits zu jedem Stück mit knappen Bemerkungen, welchen Album-Sessions die einzelnen „B-Seiten“ entstammen bzw. bei welchem Konzert die Live-Tracks aufgenommen wurden. Eine Auflistung, wann welches Stück ggf. schon einmal auf welcher Veröffentlichung enthalten war, hätte Sinn gemacht. Ebenso wären die Songtexte und eine Diskografie sowie die Tourdaten von 1976 bis 1992 eine gute Ergänzung gewesen.
Beim Photomaterial hat man viel zu oft auf bekannte Bilder zurückgegriffen, die bereits zigmal anderweitig veröffentlicht wurden. Die restlichen unbekannten Aufnahmen entschädigen den „Die-hard-Fan“ wenig. Was die Bildauswahl angeht, schießt das Motiv ganz unten auf Seite 56 den Vogel ab. Wegen der miesen Qualität kann man nicht einmal erkennt, wer auf der Bühne steht. Das wäre aber fast verzeihbar, wenn man nicht die Bühne selbst erkennen könnte: die Waldbühne in Berlin, wo Genesis noch nie aufgetreten sind (!).
Man hat sich beim Booklet in puncto Inhalt und Optik also wirklich kein Bein ausgerissen.
F A Z I T
Man braucht nicht lange zu suchen, um die Kritikpunkte und Macken von Archive #2 zu finden. Weiteres Material und damit eine vierte CD hätten das Set sicher für die Fans wertvoller gemacht, und aus dem Booklet hätte man sehr viel mehr machen können. Aber im Grunde muss man Genesis für die Box in der nun vorliegenden Form trotzdem dankbar sein, denn finanziell nötig gehabt hätten Banks, Collins und Rutherford es nicht, und der Plattenfirma wird die Box sicher auch kein Vermögen einbringen. Es ist trotz allem eine Veröffentlichung für uns Fans, und selbst wer eine fast komplette Sammlung hat, wird nicht um den Kauf herumkommen, um zumindest die bisher nur auf Vinyl erhältlichen Stücke auch auf CD zu besitzen. Für Fans, die nicht so gut bestückt sind ist das Set auf jeden Fall eine großartige Fundgrube. Traurig kann einem nur die Überlegung stimmen stimmen, was mit all dem Material passieren wird, das nicht auf Archive Vol.1 und 2 enthalten ist. Da ursprünglich geplant war, insgesamt drei Archive-Boxen mit je 4 CDs zu veröffentlichen, muß es zumindest im Bereich Demo- und Live-Tracks noch massenhaft Material geben – Aufnahmen, die wir möglicherweise nie zu hören bekommen werden!
Autoren: Thomas Morgenstern/Helmut Janisch
Folgende Tracks standen auch auf unserer Fanclub-Wunschliste, landeten aber nicht auf Archive #2:
Etwas von den A Trick Of The Tail-Demos (Studio-Demo 1975)
Dance On A Volcano (live 1976)
White Mountain(live 1976)
Medley: The Lamb Lies Down/Fly On A Windshield/Carpet Crawlers (live 1976)
„Harry The Criminal“ (Introduction to Robbery, Assault And Battery, live 1976)
„The Tap Dance“ (Introduction to Supper’s Ready, live 1976)
Einen Steve Hackett-Song, der von Genesis für Wind & Wuthering geprobt wurde, aber nicht auf diesem Album, sondern auf Steves LP Please Don’t Touch landete (Studio-Demo 1976
Match Of The Day (Non-Album-Track 1977
Medley: Wot Gorilla/Lilywhite Lilith (live 1977)
One For The Vine (live 1977)
Your Own Special Way (live 1977)
All In A Mouse’s Night(live 1977)
In That Quiet Earth (live 1977)
Inside And Out (live 1977)
Ripples (live 1978)
Medley: Dancing With The Moonlit Knight/The Musical Box (live 1978)
Down And Out(live 1978)
Ballad Of Big (live 1978)
Deep In The Motherload(live 1978)
Say It’s Allright Joe (live 1978)
The Fountain Of Salmacis (live 1978)
„Romeo and Juliet“ (Introduction to The Cinema Show, live 1978)
Back In N.Y.C. (live 1980)
The Knife (live 1980)
„The Story of Albert“ (Introduction to the Duke-„Suite“, live 1980)
Duke-„Suite“: Behind The Lines/Duchess/Guide Vocal/Turn It On Again/Duke’s Travels/Duke’s End (live 1980)
Demo-„Suite“: Dodo/Lurker/Submarine/Naminanu (Studio-Demo 1981)
Me And Virgil (Non-Album-Track 1981)
Me And Virgil(live 1981)
Like It Or Not (live 1981)
„The Story of Cindy-Lu“ (Introduction to Firth Of Fifth, live 1981)
Medley: The Lamb Lies Down/Watcher Of The Skies (live 1982)
Paperlate (live 1982 with EWF-horns)
Something from the „Reunion“-show (live 2 October 1982)
Medley: Eleventh Earl Of Marwith several other tracks (live 1983/84)
Do The Neurotic/Los Endos (Tour-Rehearsals 1986)
Medley: In The Cage/In That Quiet Earth/Apocalypse In 9/8/As Sure As Eggs Is Eggs (live 1986)
In Too Deep (live 1986)
„Atlantic Records 40th Anniversary“- Medley: Turn
It On Again/Land Of Confusion/Misunderstanding/Throwing It All Away/You Can’t Hurry Love/Shortcut To Somewhere/All I Need Is A Miracle/That’s All/Tonight, Tonight, Tonight/Invisible Touch/Turn It On
Again (live 14 May 1988)
Living Forever (Tour-Rehearsals 1992)
„Inflatable Doll“ (Introdiction to the Old Medley, live 16. November 1992)