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Anon – unbekannt, aber nicht vergessen
Die meisten Genesis-Fans wissen zwar, dass Anon eine der beiden Schülerbands war, aus denen Genesis entstand. Wie es zum Zusammenwirken von Anthony Phillips, Richard Macphail, Rob Tyrrell, Rivers Job und Mike Rutherford (bzw. übergangsweise Mick Colman) kam und was diese Gruppe auf die Beine stellte, bevor sie in Genesis aufging, erzählt dieses Special aus der Feder von Jonathan Dann.
… aus Anon – Pennsylvania Flickhouse:
Die Wurzeln von Anon gehen zurück bis zu Ants alter Schule St. Edmunds in Hindhead, Surrey, wo er seine ersten Erfahrungen als Sänger vor Publikum sammelte. Es war ein denkwürdiges Ereignis, allerdings aus den falschen Gründen! „Irgendwer kannte My Old Man’s A Dustman von Lonnie Donegan, also probten wir es und gingen dann in die Aula. Alle wollten uns hören, und ich hatte den Text vergessen, also wurde ich als Sänger gefeuert“, erinnert sich Ant. Danach interessierte er sich mehr fürs Gitarrenspiel. Ein Mitschüler namens Roger Farrell fing an, Gitarre zu lernen, und rief damit ein gewisses Interesse an der Schule hervor. „Ich fing auch an, Gitarre zu spielen, und wurde schnell besser als Roger“, erzählt Ant. „Das war nicht schwer, denn er war nicht besonders gut. Wir spielten ein Stück von den Shadows, Foot Tapper, gemeinsam bei einem Schulkonzert, und ab da hatte ich Feuer für die Gitarre gefangen.“ Etwa zu dieser Zeit lernte Ant Rivers Job kennen, einen älteren Schüler, und beide entdeckten die Popmusik als gemeinsames Interesse. In den Ferien kam Rivers zu Ant in dessen Elternhaus, wo die beiden Popstücke nach Noten lernten.
Zusammen mit Richard Francis (den seine Mitschüler als Sid kannten) an der Gitarre und „Bonehead“ Goldsmith am Schlagzeug gründeten Ant und Rivers bald in St. Edmunds ihre eigene Band, The Spiders. „Bonehead“ war Ant zufolge „seiner Zeit weit voraus, weil ihm ein gleichmäßiger Rhythmus ganz egal war!“ Richard Francis hatte auch ein einzigartiges musikalisches Talent – er spielte in jedem Song der Band nur den D7-Akkord. The Spiders waren offensichtlich nicht für Höheres bestimmt, aber der Kontakt zwischen Ant und Rivers führte zu einer Freundschaft. Rivers verließ St. Edmunds jedoch bald in Richtung Charterhouse, und The Spiders lösten sich auf.
Als Ant im April 1965 nach Charterhouse kam, war der Grundstein für Anon schon gelegt: Richard Macphail wurde nach einer ersten Probe in Ants Elternhaus in Putney der Sänger. Bald darauf wurde Rob Tyrrell als Schlagzeuger gewonnen, und Ant erinnert sich noch an Robs erste Probe mit Rivers und ihm selbst in einem leeren Klassenzimmer. Da Rob damals sein Schlagzeug noch nicht in der Schule hatte, bat Ant einen älteren Schüler, Rob sein Schlagzeug zu leihen. „Er war so nett, uns sein Schlagzeug benutzen zu lassen,“ erinnert sich Ant, „obwohl er die ganze Probe über dabei saß und beinahe eine grübelnde Präsenz war – ganz verständlich, denn er wollte nicht, dass seine Trommeln kaputtgehen. Das war dann natürlich Peter Gabriel!“ Sobald die drei anfingen zu spielen, war klar, dass Rob der perfekte Mann für die Band war, denn, wie Ant sagt: „Meine einzige Erfahrung mit einem Drummer war Bonehead. Wenn Rob kleine Sachen wie Drumfills machte, war das der siebte Himmel für uns. Ich war begeistert, wie gut Rob war – einfach fantastisch!“ Obwohl sich Rob und Ant nur von der Schule her kannten, entdeckten sie bald, dass sie nur ein kleines Stück voneinander entfernt in Putney wohnten.
Als nächstes ging es darum, einen passenden Namen für die Band zu finden – keine leichte Aufgabe, erklärt Richard: „Es war immer furchtbar, wenn wir uns Namen ausdachten. Wir setzten uns extra hin und überlegten uns Namen, und immer waren es lächerliche Namen und niemand hatte eine Idee, die irgendwen inspirierte.“ Die Inspiration zeigte sich endlich, als ihnen „Anon“ einfiel. „Ich will nicht den ganzen Ruhm einheimsen, aber ich glaube, das war meine Idee“, sagt Richard, „weil es mir gefiel, wenn bei Gedichten als Verfasser ‚anon.‘ angegeben war. Es betonte die Gruppe und nicht den Einzelnen, also nannten wir uns so.“ Das einzige Problem am neuen Namen war, dass die Gruppe ständig The Anon genannt wurde, weil damals alle Bandnamen mit „The“ begannen.
Nachdem die Inspiration für den Bandnamen gereicht hatte, suchte Anon einen Rhythmusgitarristen. Der passende Kandidat fand sich in Gestalt von Mike Rutherford, der vorher bei The Chesters war, die er an seiner früheren Schule mit einem gitarrespielenden Freund namens Dimitri gegründet hatte. Vor den Chesters hatte Mike schon einen Soloauftritt bei einem Schulkonzert, der wie Ants erster Auftritt aus den falschen Gründen bemerkenswert war, wie Mike berichtet: „Ich konnte damals noch nicht die Gitarre stimmen, aber es gab einen Lehrer, der das konnte. Er stimmte sie am frühen Abend, aber während ich spielte, hatte sie sich schon wieder verstimmt, also klang es furchtbar. Ich habe Travelling Light zu verstimmter Gitarre gesungen, aber damals hatte ich keine Hemmungen und kein Lampenfieber.“ Als Ant nach Charterhouse kam, sprach sich sein Interesse an Popmusik schnell herum, und da Mike ähnlich interessiert war, wurden sie bald Freunde. Mike: „Ant war mehr als alle anderen derjenige, der Musik machen und in einer Gruppe spielen wollte. Er war derjenige, der mich dafür begeistert hat. Ant war gut, sehr geschickt, und er hatte einen großen Verstärker und eine gute Gitarre. Er war mir weit voraus und wusste, was er macht.“ Bei Anon mitgemacht zu haben betrachtet Mike als wichtigen Schritt, was seine Musik anging. „Anfangs haben wir die Stücke von anderen gespielt – so habe ich wirklich Gitarrespielen gelernt, indem ich die verschiedenen Akkorde lernte.“
Das Line-up stand nun fest, und Anon fingen an zu proben, wann immer Schularbeiten und einzelne Lehrer es zuließen. Geprobt wurde im Keller des Gownboys-Hauses, wo Chris Hollebone, ein befreundeter Mitschüler, der Band beim Aufbau und als Roadie half. In dieser frühen Phase umfasste das Repertoire der Band im wesentlichen, was ihre einzelnen Mitglieder so hörten, vor allem Stücke der Rolling Stones, die sie besonders ansprachen, weil sie, mit Ants Worten, „etwas Rohes, Unpoliertes hatten“. Viele andere Stücke, die Anon spielten, wurden wegen ihrer Rhythmik ausgewählt: weil sie ideal waren für Partys und andere Gelegenheiten, bei denen getanzt wurde. Ant fing auch an, eigene Sachen zu schreiben. Einige seiner Stücke wurden mit Beiträgen anderer Bandmitglieder in die Setliste übernommen. Patricia war eines dieser frühen Stücke, das letztlich (mit neuem Text von Peter Gabriel) als In Hiding auf dem ersten Genesisalbum erscheinen sollte.
Bei der Arbeit an ihrem Repertoire behielt die Band im Hinterkopf, wo sie vor Publikum spielen könnten. Eine glückliche Gelegenheit ergab sich aus der Nachricht, dass ein Musiklehrer namens Geoffrey Ford eine Abschlussveranstaltung für das Winterhalbjahr organisierte. Anon bekamen einen Platz auf der Teilnehmerliste, was aber davon überschattet wurde, dass Richards Eltern über seine Aktivität in der Band nicht besonders glücklich waren; sie fanden, es behindere seinen schulischen Erfolg. Das stellte die Teilnahme der Gruppe bei der Veranstaltung in Frage, erinnert sich Richard: „Es sollte ein Programm für das Konzert geben, das zur Druckerei musste. Zum Zeitpunkt der Drucklegung hatte ich mit meinen Eltern noch nicht geklärt, ob ich am Konzert teilnehmen durfte; ich glaube, die anderen hätten dann ohne mich gespielt. Dann hätten sie nur Instrumentals gespielt, und darum stehe ich nicht im Programm. Nachdem das Programmheft im Druck war, habe ich meinen Eltern einen Brief geschrieben und gesagt, sie wären begeistert, wenn ich in einem Streichquartett wäre, dass sie also einfach die Musik nicht schätzten, die ich machte, und dass sie stolz auf meine Leistungen sein sollten, weil ich ja vor der ganzen Schule spielen würde. Sie gaben nach und sagten, ich dürfte spielen, weil ich ihnen klargemacht hätte, wie sehr mein Herz daran hing. Vor diesem Hintergrund bin ich dann in das Schulkonzert gegangen.“
Programm für „On Thursday Next“ am 16. Dezember 1965:
Der Weg war bereitet für den ersten Liveauftritt von Anon in der Veranstaltung „On Thursday Next“. Kommenden Donnerstag“), die passenderweise am Donnerstag, dem 16.12.1965, stattfand. Die Show bestand aus einer Mischung von Musikbeiträgen, Sketchen, der Vorführung eines Films, der in der Schule gedreht worden war. Für ihren Auftritt hatten Anon drei Rolling Stones-Songs von deren Album Out Of Our Heads geprobt. Während vor dem geschlossenen Vorhang ein Sketch namens „Politik“ aufgeführt wurde, baute die Band mit Hilfe von Chris Hollebone und einem anderen Mitschüler namens Dave Clement ihre Instrumente auf. Erst beim Aufbau fiel Mike auf, dass er ein Problem hatte: „Ich spielte ein bisschen an der Gitarre herum, wie man es halt macht, um zu sehen, ob alles klappt, und merkte, dass der Stecker kaputt war.“ Mit seinem eigenen Kabel hätte er an seinem vorgesehenen Platz im Scheinwerferlicht auf der Bühne stehen können. Zum Glück fand sich ein Ersatzkabel – aber es war zu kurz, so dass Mike nicht an seinem normalen Platz stehen konnte: „Ich stand ewig weit weg, ganz im Dunkeln vor dem schwarzen Vorhang, damit ich die Gitarre anschließen konnte. Mein altes Kabel hätte so weit gereicht, dass ich im Scheinwerferlicht gestanden und cool ausgesehen hätte. Wegen des Ersatzkabels stand ich ganz hinten auf der Seite und war fast nicht mehr zu sehen.“
Nach diesem Schreckmoment und dem Ende von „Politik“ öffnete sich der Vorhang und Anon begannen ihren ersten Song Oh Baby (We’ve Got A Good Thing Going). Ant musste das Stück einleiten; er erinnert sich lebhaft, wie seine Hände bei den ersten Noten zitterten. Nach dieser anfänglichen Nervosität ließen Anon das Publikum mit zwei anderen Stücken, Talkin‘ ‚Bout You und Mercy, Mercy aufhorchen, und als sie fertig waren, erinnert sich Ant, waren sie ein echter Hit. Der einzige, der nicht so ganz begeistert schien, war Mr. Van Oss, der Rektor von Charterhouse, der in der vordersten Reihe saß. Er dokumentierte seine Wertschätzung für Anon auf ganz eigene Weise, indem er sich die Finger in die Ohren steckte. Die Berichte von der Veranstaltung, die im folgenden Halbjahr in der Schulzeitung The Carthusian veröffentlicht wurden, brachten Anon erstmals in die Presse. „Eine überraschend junge Gruppe, The Anon, zeigte Potential (bleibt jedoch zu hoffen, dass sie sich nicht gänzlich mit den Rolling Stones identifizieren)“, sagte ein Kritiker. Der andere stellte fest:“Die Popgruppe Anon erweckte allgemeines Interesse mit ihrem präzisen Spiel und begeisterte das Publikum sehr.“
Beflügelt von ihrem ersten Erfolg, hob sich die Stimmung der Band weiter durch die Nachricht eines möglichen Folgeengagements, diesmal bei Rob zuhause, wo dessen Eltern eine Party organisierten. Die Weihnachtsferien boten die Gelegenheit für Proben, und als die Party Anfang Januar 1966 stattfand, war daraus eine feinere Kostümparty geworden, bei der die Gäste gebeten wurden, als Kneipenschild zu erscheinen. Ein Gast kam als Grüner Mann, ein anderer als Der Bischof, und Robs Schwester Maria erschien als Der Engel. Mike ließ sich davon anstecken und trat, die Gitarre in der Hand, mit Mantel und Maske als Der Straßenräuber auf! Nach der Party bekam Anon weitere Auftritte. Ant und Mike erinnern sich beide an eine Party in der Nähe von Woking in einem Mehrzweckraum über einer Kneipe, und Rob weiß noch, dass Anon auch in der Town Hall in Roehampton spielten, wo nur ein paar Freunde der Band zum Konzert kamen. Außerdem spielten sie auf einer anderen Party, die diesmal im Haus von Chris Hollebones Eltern stattfand.
Etwa zu dieser Zeit drängten Richards Eltern ihn, sich mehr auf die schulischen Leistungen zu konzentrieren, und so verließ er die Gruppe zeitweise. Das bedeutete, dass Anon einen neuen Sänger brauchten – auf einmal fand sich Mike im Rampenlicht. „Ein Albtraum“, blickt Mike auf diese Zeit zurück. „Ich traf die hohen Noten nicht. Bei einem Stones-Song wie Mercy, Mercy sang ich so hoch, dass sich mein Kehlkopf regelrecht verschob! Das ist mir seitdem nie wieder passiert. Es war schwierig, ich konnte noch nicht gut singen, und meine Stimme ist eher tief. Die meisten Sachen, die ich singen musste, waren zu hoch für mich.“ Mikes Zeit als Sänger währte jedoch nur kurz, weil ihm der Leiter seines Hauses das Gitarrespielen verbot. „Er sah mein Gitarrespiel als Symbol für die Revolution und glaubte, mit meiner Gitarre würde ich die Schule zum Umsturz führen, darum verbot er sie mir. Wenn man drüber nachdenkt, ist alles Verbotene umso attraktiver, also spielte ich weiter. Aber ich weiß noch, dass es ein Konzert gab, bei dem ich nicht spielen durfte.“ Nach seinem Abschied von Anon fand sich Mike mit einigen anderen Freunden in einer neuen Band namens The Climax zusammen, obwohl sie, wie Mike sich erinnert, nie so gut waren wie Anon.
Nach Mikes Weggang begann die Suche nach jemandem, der die Rolle als Rhythmusgitarrist ausfüllen konnte. Zum Glück kehrte Richard in die Gruppe zurück und war dabei, als ihnen ein Musikfreund namens Mick Colman aus Mikes Haus vorgestellt wurde. „Mick hatte seine eigene Gitarre und Verstärker – das war schon etwas. Er spielte die Einleitung zu House Of The Rising Sun, was wir sehr beeindruckend fanden.“ Da Mick nicht nur Gitarre, sondern auch Klavier und Geige spielte, hatte er schnell einen Platz in der Band, und es zeigte sich bald, dass er echtes musikalisches Talent hatte. Er erinnert sich an seine erste Probe mit der Band: „Meine früheste Erinnerung daran, bei Anon gespielt zu haben, muss wohl die an meine erste Probe mit der Band nachmittags in einem kleinen Raum unter der Bühne der Aula sein. Ich war etwas frustriert davon, dass ich nicht mehr zu spielen hatte als ‚da-dam, dam dam, da-dam, dam dam‘ und selbst dafür nur die untersten zwei Gitarrensaiten benutzen durfte (das ehrwürdige 12-Takt-Schema eben). Zur Abwechslung durfte ich ab und zu ‚da-dah, da-dah, da-dah‘ auf denselben Saiten spielen, ganz typisch wie bei den frühen Stones, und es fiel mir sehr schwer, nicht auszuschmücken oder hier und da ein bisschen aufzuschneiden. Dann drehten sich immer alle um und riefen: Oh Mann, Mick, kannst du nicht einfach mal ‚’da-dah, da-dah, da-dah‘ spielen? Ach, das waren Zeiten …“ Ant fand sich schnell mit Mick zu einem Songschreiberteam zusammen, und die beiden schrieben eine Reihe von eigenen Songs, die zum Teil auch ins Set aufgenommen wurden.
„Ant und ich fingen an, bei den Songs zusammenzuarbeiten“, erinnert Mick sich. „Ich schrieb She’s Got Those Lopin‘ Shoulders, den ersten und bei weitem schlechtesten Song, den ich je geschrieben habe, und Ant und ich schrieben gemeinsam einen anderen namens Do The Jack. Dazu gehört ein sehr eigenartiger Tanz, und wir führten beides (Tanz und Stück) bei einer Party in Robs Haus auf. Ant und ich schrieben noch mehr Songs, an die ich mich nicht erinnere, außer einen, Think Again, mit einem auffälligen Gitarrenriff in D. Ich staune, dass ich mich noch an die Akkorde erinnere, die Melodie und die erste Textzeile: ‚You tell me …‘ Eines Tages kam ich vom Lockites-Gebäude zum Hauptgebäude der Schule hoch, und Ant stand da völlig schockiert und erzählte, dass die Small Faces gerade eine Single veröffentlicht hatten, die, wie man es auch drehte und wendete, dasselbe Riff benutzte. Wir mussten nochmal nachdenken – ich glaube, wir haben das Stück dann aufgegeben.“
Zu dieser Zeit begann sich Brian Roberts, ein weiterer Freund der Band, für Tonaufnahmen zu interessieren. In seinen Worten: „Mein Interesse am Aufnehmen entsprang meinem Interesse an der Musik, und zur selben Zeit interessierten mich technische Geräte. Zufällig passte beides zusammen. Ursprünglich ging es mir mehr um die klassische Seite, und ich wurde dann erster Sänger im Chor und auch derjenige, der alle wichtigen Musikveranstaltungen aufnahm.“ Als er Anon bei den Proben hörte, fand er ein neues Betätigungsfeld. „Ich wollte hören, was sie machten“, sagte er, „und überlegte, wie ich sie aufnehmen konnte, ohne über eine Mehrspuraufnahmetechnik als Standard zu verfügen.“ Zu den Osterferien 1966 hatte er in einem Zimmer über der Garage neben der Praxis seines Vaters in der Wellesley Road in Chiswick ein Heimstudio aufgebaut. Er beschreibt es so: „Wenn man in dem Zimmer über der Garage saß, hörte man jedes Geräusch von der Straße laut und deutlich. Schalldicht war da gar nichts, eher war alles windoffen. Der Fußboden war nur ungedämmtes Sperrholz, so dass wir überhaupt nicht abgeschirmt waren. Es gab einen größeren und einen kleineren Raum, der größere wurde das Studio. Wir bauten alles ein, was man eben so einbaute, bevor ich davon überhaupt eine Ahnung hatte, also Eierkartons. Wir hängten auch alte Wolldecken und Filzmatten auf. Es sah grauenhaft aus, half aber, den Raum wenigstens etwas schalltot zu machen. Außengeräusche waren kein Problem, weil die Band so viel Lärm machte – die Mikroverstärker waren so weit heruntergedreht, dass man nicht mal einen Bus hätte vorbeifahren hören. Problematisch wurde es nur, wenn wir Gesang aufnehmen wollten, aber auch das haben wir hinbekommen.“ Was die Geräte anging, so lieh sich Brian zwei Bandaufnahmegeräte zusammen und verknüpfte sie mit einem Mischer und einigen Mikrofonen; so konnte nicht nur Musik aufgenommen werden, sondern es konnten auch auf sehr einfache Weise neue Tonspuren einem bestehenden Hintergrundband hinzugefügt werden.
Die Band fand es nützlich, einige ihrer Stücke aufzunehmen (in Robs Worten: „Ein paar Bänder aufzunehmen schien uns das Richtige zu sein.“), und natürlich bot die Band Brian damit die Gelegenheit, seine Einrichtung zu testen und wertvolle Erfahrungen für Aufnahmen mit Rockgruppen zu sammeln. Die Band fuhr also nach Chiswick, wo sie am 19. und 20. April 1966 ihre Demos aufnahmen. Unter den Stücken, die eingespielt wurden, war eine Fassung des Rolling Stones-Songs Lady Jane(der erst vier Tage zuvor auf deren Album Aftermath erschienen war) und verschiedene eigene Stücke, darunter Pennsylvania Flickhouse und Patricia. Leider ist das Band mit diesen Demos schon lange verloren.
Ebenfalls während der Ferien hatten die Bandmitglieder die Gelegenheit, auf Ausflügen nach London eine Reihe von Konzerten anderer Künstler zu sehen. Besonders die Besuche in Clubs wie dem Marquee und dem Tiles in der Oxford Street weckten in Richard die Idee für eine Musikveranstaltung in Charterhouse, mit der das Sommerhalbjahr abgeschlossen werden könnte, und er entwickelte – mit der etwas nervösen Zustimmung von Geoffrey Ford – ein etwas anderes Konzert zum Schuljahresende. Die Ereignisse überschlugen sich jedoch, da der Rektor von Charterhouse Richards Eltern anschrieb, weil dieser seine Schularbeiten zugunsten von Anon und der Popmusik vernachlässigte. Es sollte betont werden, dass Richard das Konzert nicht, wie verschiedentlich angedeutet, deshalb organisierte, weil er die Schule verlassen musste: „In Wirklichkeit schrieb der Rektor meinen Eltern, dass ich vielleicht an einer anderen Schule bessere Leistungen brächte, aber er forderte mich damit nicht auf, die Schule zu verlassen. Meine Eltern beschlossen, mich woandershin zu schicken, und griffen diese Anregung auf, aber weil diese Entscheidung ziemlich spät fiel, stand ich noch auf allen Listen, als ob man glaubte, ich würde nach den Sommerferien zurückkommen. Um es also noch einmal festzuhalten: Ich bin nicht rausgeschmissen worden.“
Um bei den schulischen Autoritäten mehr Akzeptanz zu wecken, kam man überein, dass alle Bands für einen guten Zweck spielen sollten. Nachdem das genehmigt war, fing Richard an, nach anderen Gruppen neben Anon Ausschau zu halten, die vielleicht gerne spielen wollten. Es fanden sich zwei passende Gruppen: Mikes Band The Climax und eine andere Gruppe namens The Garden Wall, die von Peter Gabriel und Tony Banks, zwei älteren Schülern in Ants Haus, gebildet wurde. Peter und Tony wurden von Chris Stewart am Schlagzeug verstärkt, hatten aber weder einen Bassisten noch einen Gitarristen, so dass Ant und Rivers einsprangen und die Formation mit Jonathan Trapman an der Trompete komplett war. The Climax hatten das Problem, dass ihr regulärer Schlagzeuger Crook Johnson beim Konzert nicht spielen konnte; für sie trommelte dann Chris Stewart. Nachdem das Line-up der Bands feststand, entwickelte Richard seine Ideen, wie er die Atmosphäre schaffen wollte, die er in den Londoner Clubs erlebt hatte. „In der lockereren Atmosphäre der Clubs sagten die Leute zwischen den Songs auch mal was. Das gefiel mir, das wollte ich auch, einfach um die Stücke anzusagen. Ich wollte ankündigen, von wem das Stück war, vor allem wenn wir Ants eigenes Material spielten.“ Richard wollte das Konzert abends abhalten und dachte sogar über die Sitzarrangements nach: „Es sollte im Hauptteil der Aula keine Sitzreihen geben, weil die Aula hinten eine große Empore hatte. Auf der Empore konnte man sitzen und unten konnte man sich frei bewegen.“ Es bedarf keiner Worte, dass Geoffrey Ford keinen dieser Vorschläge zuließ und sogar darauf bestand, dass bei diesem Beatkonzert keine Ansagen stattfinden durften, weil sie bei klassischen Konzerten auch nicht üblich waren. Außerdem sollte das Konzert nachmittags stattfinden, was es schwerer machte, Atmosphäre zu schaffen, während das Sonnenlicht durch die Fenster schien. Nichtsdestoweniger war diesen Einschränkungen zum Trotz der Weg für ein einzigartiges Ereignis bereit. „Ich glaube,“, erinnert sich Rob, „es war das erste Mal, dass eine Gruppe, die in den Augen der Schulleitung eigentlich Krawallmacher waren, vor der ganzen Schule spielen durfte.“
The Climax fingen an und spielten einige Stücke, bevor der größte Teil von The Garden Wall auf die Bühne kamen. Der Konzertflügel in der Aula war zu schwer gewesen, um ihn auf die Bühne zu heben, und so musste Tony Banks jenseits der Bühne spielen, was dazu führte, dass niemand ihn bemerkte, bis er das vierte Stück, When A Man Loves A Woman, einleitete. Nachdem The Garden Wall zu Ende gespielt hatten, lag es bei Anon, die Show zu vollenden. Geoffrey Ford hatte die Rolle des Conferenciers für das Konzert übernommen, und Ant erinnert sich noch, wie Ford den Auftritt der Band störte, indem er sie als The Anon vorstellte. Keineswegs entmutigt von dieser wenig beeindruckenden Vorstellung begannen Anon ihr erstes Stück zu spielen, Too Much Monkey Business von Chuck Berry, und schlugen das Publikum in ihren Bann. „Als wir beim Solo von Mister You’re A Better Man Than I ankamen,“ erinnert sich Ant, „tobte alles, es war großartig.“ Es gab allerdings noch ein kleines Problem, das der Band nach Richards Worten bevorstand, nämlich das letzte Stück, das Anon spielen wollten: „Das letzte Stück sollte Otis Reddings Shake sein. Die Small Faces hatten es gecovert, und wir wollten ihre Version davon spielen. Wir hatten es ein- oder zweimal mehr oder weniger gespielt, und es ist ein ziemlich schwieriges Stück mit einem straffen Rhythmus. Wir sind dafür extra in den Plattenladen in Godalming gegangen und haben uns in der Hörkabine zusammengedrängt, um es zu hören. Wir konnten den Verkäufer überreden, es zweimal zu spielen, was schon ziemlich dreist war; dann hatten Ant und die anderen die Akkorde, aber es war alles noch sehr vage.“
Ein technisches Problem sollte jedoch den Gang der Dinge ändern. Ant: „Wir hatten ein Problem mit den Kabeln und mussten ein paarmal das Kabel zur Gitarre wechseln. Am Ende musste ich über die Bühne gehen und mich mit kurzem Kabel woanders hinsetzen. Ich saß ganz am Rande der Bühne, um das nächste Stück einzuleiten. Richard musste einspringen und etwas sagen – das war der professionelle Weg.“ Weil Pennsylvania Flickhouse das nächste Stück der Gruppe sein sollte, gab Richard dem Publikum bekannt: „Wir bitten die Verzögerung zu entschuldigen, das gehört alles dazu. Das nächste Stück ist eine unserer eigenen Kompositionen.“ Als die Band die Einleitung spielte, sprang Geoffrey Ford auf die Füße, stieg auf den Bühnenrand und rief: „Runter! Das war das letzte Stück! Runter!“
Trotz Geoffreys lautem Protest spielte die Band das Stück zu Ende, aber als es vorbei war, wurde deutlich, dass jetzt keine Musik mehr gespielt werden würde. In gewissem Sinne kam die Band so elegant um die ungeprobte letzte Nummer herum, bestätigt Richard: „Shake haben wir dann nicht mehr gespielt, was wohl auch ganz gut war, denn ich glaube, das wäre ein Chaos geworden. Als es passierte, war ich enttäuscht darüber, dass das Konzert abgebrochen wurde, aber insgeheim war ich auch ein bisschen erleichtert, weil wir auf den Song nicht vorbereitet waren.“ Nach Pennsylvania Flickhouse warteten die meisten im Publikum, ob das jetzt das Ende des Konzerts wäre. Niemand in der Band weiß mehr, was genau dann passierte, aber vermutlich gab Geoffrey Ford bekannt, dass das Konzert vorbei sei. Ant erinnert sich, dass Rivers, sonst der langmütigste von allen, seinen Frust über diese Nachricht kaum bezähmen konnte: „Rivers schleuderte das Gitarrenkabel hin und rief: ‚Wo ist Geoffrey, dieser Mistkerl?!'“ Einige Leute im Publikum waren genauso enttäuscht von diesem Ende des Konzertes und rüttelten, wie Ant sich erinnert, an der Uhr in der Aula. Es sah ganz so aus, als würde es jetzt richtig Ärger geben, aber die Menge wurde zerstreut, bevor etwas außer Kontrolle geriet. Im Nachhinein findet Richard: „Eigentlich hat Geoffrey, indem er das Konzert abbrach, beinahe genau das herbeigeführt, wovor er am meisten Angst hatte. Aber das war so ziemlich das letzte, woran wir damals dachten.“
Da die Band das aufregende Gefühl, einige ihrer eigenen Stücke aufzunehmen, bereits kannte, schmiedete sie Pläne, im Sommer 1966 einige Stücke bei Tony Pike Sound einzuspielen, einem kleinen professionellen Aufnahmestudio in Putney. Sie warfen alle ihre Mittel zusammen, brachten die stolze Summe von 21 Pfund auf und buchten genug Studiozeit, um zwei Stücke aufzunehmen. Ein größeres Problem, das sie überwinden mussten, bevor sie ins Studio konnten, bestand darin, dass Mick Colman nicht dabei sein konnte – und ohne volle Besetzung ins Studio zu gehen zogen sie gar nicht erst in Betracht. Nach dem Charity Beat-Konzert hatten sich The Climax jedoch aufgelöst, so dass Mike zu Anon zurückkehren konnte und damit seinen Platz in der Gruppe wieder einnahm. Die Band beschloss, Pennsylvania Flickhouse und Don’t Want You Back aufzunehmen; diese beiden Eigenkompositionen hatten sie ziemlich regelmäßig gespielt. Außerdem baten sie Brian Roberts, zur Aufnahmesession mitzukommen, damit jemand dort wäre, der technischen Sachverstand hatte und auch Verständnis dafür, was die Band wollte.
Als sie das Studio in der Dryburgh Road erreichten, stellten sie fest, dass ihre bisherige Methode, einen Sound zu erzeugen, der ihnen gefiel, hier nicht funktionieren würde. „Wir waren es gewohnt, unsere Verstärker weit aufzudrehen, so dass wir viel Energie von der Überlastung bekamen“, meint Ant. „Heute macht man das einfacher mit Fuzzboxen und so. Tony Pike bestand darauf, dass wir die Verstärker herunterdrehten.“ Rob ergänzt: „Alle sagten ständig ‚Dreh das runter!‘ und natürlich drehten wir immer auf!“ Die Geräuschkulisse von Anon war zuviel für Tony Pike, und aus Angst davor, dass seine Aufnahmegeräte beschädigt werden könnten, gab er die inzwischen legendäre Anweisung „Passt bloß auf meine Kompressoren auf!“ – „Er sagte das ständig, wenn wir zu laut spielten, und das beste daran war, dass mir nicht klar war, dass er uns im Kontrollraum hören konnte, weil die Mikrofone im Studio ja angeschaltet waren. Er sagte also: ‚Passt bloß auf meine Kompressoren auf, spielt nicht zu laut!‘ und wir sagten: ‚Ach, der alberne Vollidiot!‘, und er erinnerte uns: ‚Das habe ich gehört!'“
Brian war derweil im Kontrollraum. „Ich hielt mich im Hintergrund und fragte, ob wir ein bisschen mehr hiervon und ein bisschen weniger davon haben könnten“, erinnert er sich, „genau was ein Produzent damals gemacht hätte, aber ich habe mich überhaupt nicht als Produzent betrachtet, ich wollte der Band nur zu dem Sound verhelfen, den sie haben wollte. Beim Abmischen habe ich geholfen.“ Nach den Aufnahmen sollte ein 7-Zoll-Acetat vom Masterband gemacht werden, damit die Band ihre eigene Schallplatte als Souvenir von ihrem ersten Mal in einem richtigen Aufnahmestudio hatte. Keiner von ihnen erinnert sich noch, was da beschlossen wurde – es mag sein, dass sich ein zweiseitiges Acetat als zu teuer herausstellte oder dass die Aufnahme von Don’t Want You Back nicht so gut war, wie die Band das erhofft hatte. Richard glaubt, dass sie den zweiten Song überhaupt nicht fertiggestellt hätten, aber Ant ist sich dessen sicher. Jedenfalls kam man überein, dass das Acetat nur Pennsylvania Flickhouse enthalten sollte, und Richard weiß noch, dass insgesamt sechs dieser Platten vom Mastertape gemacht wurden, eines für jedes Bandmitglied und für Brian.
Im Herbst 1966 schien die Band an ihr Ende gelangt zu sein. Richard und Rivers hatten Charterhouse am Ende des vorigen Schuljahres verlassen. Anon traten noch einmal beim Halbjahresabschlusskonzert im Dezember des Jahres auf; das war dann ihr letztes Konzert. Mick Colman hatte die Band endgültig verlassen, während Mike jetzt Bass spielte und sich wieder häufig am Mikrofon wiederfand. Richard erinnert sich, dass Rivers und er mit dem Zug zum Konzert nach Charterhouse fuhren und im Publikum saßen, als Anon drei Stücke als Trio spielten, eines davon der John Mayall-Song Hideaway. Im Bericht über das Konzert, der später in The Carthusian veröffentlich wurde, hieß es: „The Anon kamen gut an und boten eine lebhafte Darbietung ihrer drei Stücke; sie demonstrierten, dass die neue Kombination von Leadgitarre, Bass und Schlagzeug fähig ist, einen vollen und sauberen Klang hervorzubringen.“
In den Weihnachtsferien 1966 verbrachten Ant und Mike einige Zeit damit, neue Stücke im Haus von Mikes Großmutter zu schreiben und zu proben. Das führte letztendlich dazu, dass sie im April des Folgejahres eine Aufnahmesession in Brians Studio arrangierten, um drei neue Songs aufzunehmen: Try A Little Sadness, Listen On Five und That’s Me sowie neue Versionen zweier Stücke aus dem Repertoire von Anon (eine Instrumentalfassung von Patricia und Don’t Want You Back). Da sie den Eindruck hatten, dass Keyboards den Demos gut tun würden, bat Ant Tony Banks, vorbeizukommen und auf den Aufnahmen zu spielen. Tony stimmte zu und erwähnte, dass er mit Peter Gabriel zusammen ein Stück namens She Is Beautiful geschrieben hatte, das er und Peter auch gerne aufgenommen hätten. Die Aufnahmen, die bei dieser Session entstanden, sollten später den Weg in die Hände von Jonathan King finden, womit die Genesis von Genesis ihren Anfang nahm …
Autor: Jonathan Dann