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Genesis – Kevin Holm-Hudson: Genesis and The Lamb Lies Down On Broadway – Buch Rezension

Die Entstehungsgeschichte und Wirkung des Genesis-Klassikers The Lamb Lies Down On Broadway aus der Sicht von Kevin Holm-Hudson, einem Komponisten und Dozenten der University of Kentucky.

Ashgate popular and folk music series, Aldershot und Burlington, 2008
172 Seiten, ISBN 978-0-7546-6147-4, Bestellung: amazon.de

Über Genesis gibt es eine Menge zu lesen. Von den großartigen Veröffentlichungen eines Armando Gallo zu den locker-flockig-inakkuraten Hochglanzprodukten, deren Hauptfunktion darin besteht, mit neuen Fans die Band zu feiern, von unzähligen Konzertberichten und Albumbesprechungen auf der Fanclub-Webseite zu den Erinnerungen der Beteiligten in Chapter & Verse reicht die Spannbreite der Veröffentlichungen, von Spezialpublikationen wie Verzeichnissen sammelnswerter Genesis-Gegenstände ganz zu schweigen. Ja, über Genesis ist viel geschrieben worden. Im letzten Jahr [2008] kam noch der akademische Ritterschlag hinzu: Auf knapp 160 Seiten setzt sich Kevin Holm-Hudson, Komponist und Dozent an der Universität von Kentucky mit der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von The Lamb Lies Down On Broadway auseinander.

Cover

In der Einführung stellt Holm-Hudson dar, wie Genesis mit The Lamb 1974/5 auf die Konzertgänger gewirkt haben, und wie die musikalisch-sozialen Rahmenbedingungen für dieses Opus damals waren: Eine Underground-Band spielt auf ihrer Livetournee ein Set, das nur aus neuem Material mit einer sehr eigentümlichen und schwer nachzuvollziehenden Handlung besteht – und das vor dem Erscheinen des Albums und nachdem die Progrockriesen von Yes mit genau demselben Konzept auf ihrer Tales-Tour eindrucksvoll gescheitert waren. Dass die Wertschätzung für The Lamb mit der Zeit immer größer wurde, führt er auf die höchst bizarre Geschichte zurück, die sich zudem vielfältig deuten lässt: als religiöse Allegorie, als faszinierende psychologische Studie und als historisches Dokument, das die ökonomischen und politischen Probleme seiner Entstehungszeit widerspiegelt.

Das Buch beleuchtet das Album aus sechs verschiedenen Blickwinkeln. Zunächst erörtert Holm-Hudson den Wandel in der Musikbranche hin zu einer echten Industrie sowie Auswirkungen der Energiekrise und des Watergate-Skandals als Hintergrund für den Abstieg des Progressive Rock. Das zweite Kapitel thematisiert die eigentliche Entstehung der Musik und der Songtexte und bietet eine Synopse von Gabriels Darstellung der Handlung (Texte, Geschichte und Äußerungen in Interviews). Etwas ganz Neues bietet Holm-Hudson im dritten Abschnitt, nämlich eine detaillierte Analyse nicht nur der Texte, sondern vor allem auch der Musik. Der musiktheoretisch gänzlich unbedarfte Rezensent des Buches ist dem Autor dankbar, dass selbst dieser akademisch anspruchsvollste Abschnitt durchaus lesbar und halbwegs verständlich geraten ist; es handelt sich nämlich hier um den Kern des Buches, und es gelingt Holm-Hudson sehr gut, wichtige textliche Vorlagen des Albums (z.B. das tibetanische Totenbuch und die Schriften von C.G.Jung) in ihrer Wirksamkeit darzustellen. Darüber hinaus belegt er, dass die Anspielungen auf andere Musikstücke (z.B. Needles and Pins von den Searchers) – an sich schon ein Novum im Schaffen von Genesis – bewußte Anklänge sind, die auf die Handlung von The Lamb verweisen.

An ein knappes Kapitel über die Rezeption von The Lamb schließt ein weiteres sehr erhellendes Kapitel über mögliche Interpretationen des Albums an; Holm-Hudson räumt hier ein, dass zahlreiche Lamb-Deutungen von Genesis-Fans im Internet ihm hierbei sehr hilfreich waren. Er geht hier vertieft auf die religiösen und die psychologischen Deutungsmöglichkeiten ein, bevor er im Schlußkapitel darstellt, wie The Lamb die musikalische Laufbahn von Peter Gabriel, von Genesis und von anderen Progressive Rock- (Tribut-)Bands beeinflußt hat.

Genesis‘ magnum opus mag zwar (außerhalb der Fankreise) die Stellung eines Albums wie Dark Side Of The Moon oder Tales From Topographic Oceans verwehrt geblieben sein, jedoch, so fasst Holm-Hudson zusammen, „verkörpert The Lamb Lies Down On Broadway den Gipfelpunkt des Progrock und nimmt den wirtschaftlichen Niedergang und die zunehmenden Zwänge, die den Künstlern von der Musikindustrie auferlegt werden, vorweg.“

Genesis And The Lamb Lies Down On Broadway ist eine wissenschaftliche Publikation und als solche deutlich anspruchsvoller zu lesen als etwa Chapter & Verse oder Armando Gallos Bücher. Wer sich darauf einläßt, wird viele spannende neue Aspekte an Genesis‘ größtem Konzeptalbum entdecken und einige Stücke und Passagen vielleicht in ganz neuem Lichte sehen. Und das ist doch das Besondere an dieser musikalischen Gemme, dass man wie an einem Diamanten ständig neue reizvolle Facetten findet, vor allem, wenn einmal das Licht seiner Entstehungszeit darauf fällt.

Autor: Martin Klinkhardt
| Kevin Holm-Hudsons Vita auf der Homepage der Universität von Kentucky
| The Lamb Lies Down On Broadway – Rezension
| The Musical Box – Berichte von den Lamb Lies Down-Konzerten