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John Hackett – Prelude To Summer – Album-Sleevenotes

Normalerweise gibt es zu einem neuen Album eine Rezension. Im Falle von John Hacketts Album Prelude To Summer ist es der Künstler selbst, der etwas zu seinem Album schreibt. In der Fachsprache spricht man von Sleevenotes.

Prelude To SummerPrelude to Summer

Bei der Einleitung habe ich mich von Bachs Sicilianaaus der Flötensonate in Es inspirieren lassen. Die Musik von Bach habe ich schon immer gemocht – seit den Tagen, als ich in der Schule in unserem staubigen alten Musiksaal saß und in die Geheimnisse der zweischichtigen Invention und der Choralkomposition von Norris Marshall eingeweiht wurde, der nicht nur ein toller Organist war, sondern auch ein Experte in Wolkenbildung. Bis heute wünsche ich mir, ich hätte seinen klugen Worten besser zugehört – dann hätte ich auch wohl bessere Kontrapunkte geschrieben und öfter mal Murks vermieden.

Nippy Tune

Die meisten anderen Stücke, Six-Eight For Starters! mal ausgenommen, wurden für dieses Album geschrieben. Diese fröhliche Nummer hier ist aber schon gute 25 Jahre alt. Die BBC hatte es ursprünglich mal für eine ihrer Sprachlernsendungen namens Get By In German (Schlag dich auf Deutsch durch) verwendet; den Titel hat sie schon damals von Nick Magnus bekommen. In meinem Flötenlehrbuch Freewheeling gibt es auch eine Rockversion davon – Nick Magnus und ich haben sie aufgenommen, aber Flötisten, seid auf der Hut: Das Stück ist in E-Dur (vier Kreuze!), setzt beide kleinen Finger ein und diese schicken Synkopen müssen genau richtig sitzen.

Duende

Hier spiele ich zu Beginn tuckernde E-Moll-Akkorde und Arpeggios; den Rest macht Steve. Achtet aber trotzdem auf das diskrete Mandolintremolo in der Mitte, gespielt von Nick Magnus, einem Meister des Mellotrons.

Le Chat Noir

So heißt der Club in Paris, wo Erik Satie Klavier spielte, um sich ein paar Happen oder auch das eine oder andere Glas Absinth zu verdienen.

Lonely Man

Dieses Stück ist offenkundig stark von Saties Trois Gymnopédies beeinflußt. Den Titel verdanke ich meinem Freund Jonny Drury von Freenoise, der ganz außerordentliche frei improvisierte Konzerte hier in Sheffield spielt und organisiert. Jeder Mensch, der ein Stück Be Serious With That Kaleidophone, or Beautifully Chaotic Planting Arrangements nennt, hätte mit Sicherheit Saties Zustimmung gehabt.

John HackettSix-Eight For Starters!

Dieses Stück heißt so (Für den Anfang mal 6/8-Takt), weil nach dem Anfang die Takte ziemlich durchknallen, einige sind in 5/8, andere können sich nicht entscheiden, ob sie ein 3⁄4-Takt oder ein 6/8-Takt sind. Wenn das kompliziert klingt, solltet ihr erstmal abwarten, bis ich meine Einspielung von Stravinsky’s Sacre De Printemps für Kazoo und Waschbrett veröffentliche!

Love Lies Sleeping

Ursprünglich hieß das Stück Evening In Madrid und war inspiriert von einem Konzert, dass das Steve Hackett Acoustic Trio vor ein paar Jahren in einem Club im Herzen von Madrid spielte. Steve eröffnete das Konzert, indem er zirka die ersten 20 Minuten solo spielte. Ich mischte mich unter das Publikum, und alle hörten still und höchst aufmerksam zu, wie dieser Engländer die spanische Gitarre an ihren Ursprungsort zurückbrachte. Ich glaube, ich war nie so stolz auf meinen Bruder wie damals.

Closure

Hier bot sich mir die Chance, dieses Stück „anspruchsvoller Klempnerkunst“ einzusetzen (im Booklet ist es zu sehen), nämlich meine geliebte Altflöte mit dem gebogenen Kopf. Sie hat einen tieferen, schallenderen Klang (um Steves Beschreibung zu verwenden), und ist daher bei Filmkomponisten sehr beliebt. Es heißt, dass Böhm, der Entwickler der modernen Systemflöte gegen Ende seines Lebens immer die Altflöte bevorzugte.

Where Flowers Bloom Unseen

Noch ein Stück, bei dem der herrliche Klang von Chris Glassfield und seiner Ramirez-Gitarre zu hören ist. Wie das erste Stück auf dem Album ist auch dieses hier eine Siciliana in G-Moll. Der Anfang wurde angeregt von Faurés berühmter Siciliana. Aber hier befinden wir uns bald in einer kleinen Stadt aus einem Seemanns-Shanty, obwohl das wohl nicht alle so sehen. Allen, die noch nicht vertraut sind mit Chris‘ Arbeit als Komponist und Gitarrist, darf ich Autumn Kiss, Acoustic Heart und Amembo wärmstens ans Herz legen.

Tomorrow

Geschrieben für vier Gitarren. Ursprünglich dachte ich mir, Steve würde eine der beiden oberen Harmonielinien spielen wollten, aber als er meine Version hörte, fand er sie gut und fing gleich an, am Anfang ein paar Schnörkel zu spielen, die das ganze Stück zum Leben erweckten. Bei seinem Solo in der Mitte habe ich ihn gebeten, so freudenvoll wie möglich zu spielen – und das hat er wirklich getan. Tanzen wir in Spanien oder donnern einen Highway in Kalifornien entlang? Was kümmert es uns, solange wir daran denken, dass, was auch immer passiert, es ein Morgen gibt!

"image.Voices Of The Sea

Es war reiner Zufall (oder?), dass unser Vater Peter mir das Bild schenkte, das auf dem Cover zu sehen ist. Steve hatte gerade dieses Stück eingespielt und als Clive das Bild einscannte, wußte ich: Das passt hervorragend, nicht nur zu diesem Stück, sondern auch zum dunkleren Wesen manches anderen Stückes auf dem Album. In den ’50ern brachte mein Vater eine gewaltige schwarze Kiste aus seiner Zeit in Kanada zurück. Sie enthielt ein Monster von einer akustischen Gitarre, die dann wirklich der Startpunkt für Steves und mein Interesse an der Musik war.

Twilight Forest

Es kommt alles immer wieder zur Gitarre zurück. Dieses Stück stand am Anfang in A-Moll als ein von Shadows beeinflusstes Riff da, ein wenig wie Apache. Dann habe ich es für Klavier umgeschrieben, nach C-Moll transponiert und bin dann in einen tiefen, seltsamen Wald irgendwo in Osteuropa geraten – ich bin mir allerdings nicht sicher, wo genau.

Ice-Cream Waltz

Es gibt Stücke, die der Künstler erst nach Monaten voller Pein, Seelenerforschung und leibzerfleischender Sehnsucht (und reichlich Alkohol, halluzinogenen Drogen sowie, im Falle von Berlioz, Mordabsichten) den Tiefen seiner selbst entreißen kann. Dieses Stück gehört nicht dazu. Ich schrieb es in einer Viertelstunde, während meine Frau Katrin an einem Sonntag das Essen vorbereitete.

Flight To Seville

An dieser Stelle muß ich zugeben, noch nie in Sevilla gewesen zu sein. Aber in diesem Stück geht es darum, irgendwohin aufzubrechen, wo es warm und sonnig ist und wo man riechen kann, wie die Orangen duften. Wenn ein solcher Ort für jemanden ein wenig näher an deinem Heim liegt, dann benennt es von mir aus gerne um in Flight To Bognor [Red.: ein Badeort im Süden Englands]. Es klingt zwar nicht so schön, aber ich habe immerhin dort als Kind schöne Zeiten am Strand verbracht.

Gaudi’s Dream

Der Arbeitstitel für dieses Stück war Pictures. Ich fand immer, dass die Einleitung etwas von Mussorgskys Pictures At An Exhibition hatte. Als die Aufnahmen voranschritten, merkte ich, dass es nicht um die Bilder in einem Gebäude geht, sondern eher um das Gebäude selbst, und zwar um ein sehr großes Bauwerk. Es war natürlich eine Kathedrale, nicht unter den Wellen wie die von Debussy, sondern eine, die nach oben hin wächst wie in einem Traum.

Home

Ich glaube, je älter und brummiger ich werde und je mehr es mich ärgert, dass ich meine Schuhe an den Scannern am Flughafen ausziehen muß (die Moral daraus: Reisen ist nichts für Leute mit Rückenbeschwerden und ältere Menschen), desto mehr glaube ich, dass Kant es richtig gemacht hat, indem er sich nie weiter als 40 Meilen von seiner Heimatstadt entfernt hat. Es ist halt nirgends wie zuhause.

Velvet Dusk

Nichtmusiker merken wahrscheinlich gar nicht, wie schwierig es ist, heutzutage einen originellen neuen Titel für ein Lied oder Musikstück zu finden. Bei diesem Titel dachte ich allerdings, ich hätte es geschafft – ein schöner Nachfolger zu Velvet Afternoon (Leather Evening könnte es schonmal woanders gegeben haben), aber ein kurzer Ausflug zu Google korrigierte das schnell. Es scheint, dass Velvet Dusk ein italienischer Motorroller ist. Eigentlich hatte ich etwas anderes im Sinn, als ich dieses ruhige, leicht melancholische Stück mit einem Gruß an Satie in der Mitte geschrieben habe.

June

Und damit kommen wir schlußendlich zu June, einem Stück, das unserer Mutter gewidmet ist. Dass ihre beiden Söhne in einer Rockband spielen, erfüllt manche Mütter mit Horror, aber als ich regelmäßig mit Steves Band in den ’70ern und ’80ern auf Tournee war, war das bei ihr ganz entschieden nicht der Fall.

Ich erinnere mich besonders an ein Konzert in Worthing; Steve hatte sehr spendabel eine weiße Limousine nach London geschickt, um unsere Mutter abzuholen und zum Konzert zu bringen. Unglücklicherweise waren einige Flaschen Champagner im Fond verstaut … Ich erinnere mich daran, wie ich auf der Bühne stand und auf die E-Gitarre eindrosch, als ich aus dem Augenwinkel jemanden völlig abgedreht direkt vor der Bühne tanzen sah. Niemanden sonst, nur diese einzelne Gestalt, die sich da verrenkte – und dann merkte ich zu meinem Schrecken: Das war meine Mutter!

Autor: John Hackett

Übersetzung: Martin Klinkhardt