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Genesis – Invisible Touch – CD Rezension

1986 veröffentlichten Genesis ihr erfolgreichstes Album, Invisible Touch

1986 – Genesis waren in der Mitte der ’80er Jahre eine Firma, eine millionenschwere Produktionsmaschine. Drei Jahre zuvor landeten sie mit dem eher sperrigen, aber einzigartigen Mama einen Welthit und mit That’s All knackten sie erstmals die amerikanischen Top 10. In der Folge landete Phil Collins den ersten seiner vielen Nummer-Eins-Hits in den USA, sein darauf folgendes Album No Jacket Required geriet zum Mega-Seller und Collins wurde mit drei Grammies ausgezeichnet. Mike Rutherford landete aus dem Nichts einen Welterfolg mit seinem Projekt Mike + The Mechanics und Tony Banks vertiefte sich in sein Soundtrack-Faible.

Jahre zuvor hatten Genesis den ’80ern in verschiedenen Variationen bereits ihren Stempel aufgedrückt – allen voran Phil Collins, dessen legendärer Drumsound des Peter Gabriel Albums III (Melt) auf weiteren Solo- und Bandveröffentlichungen noch verfeinert wurde. Außerdem entdeckten Genesis den Drumcomputer und 1983 kam auf dem Genesis-Album der Einsatz so genannter Drumpads hinzu. Nicht Genesis passten sich den ’80ern an, vielmehr nahmen die ’80er einiges von dem mit, was Genesis produzierten. Zeitgeist bewiesen Genesis erst mit Invisible Touch auf einem ganz anderen Gebiet – im Bewerben ihres Entertainmentpotenzials, vor allem in der Form von Musik-Videos.

Als sich Genesis Ende 1985 wieder trafen, bereitete Peter Gabriel seinen Klassiker So vor, und Steve Hackett formte mit Yes-Gitarrist Steve Howe die Supergruppe GTR. Genesis waren „in“ wie vielleicht zu keinem anderen Zeitpunkt ihrer Karriere. Tony Banks sagte 2006 dazu: „Wir trafen uns und wir wussten, wir können nichts falsch machen – es würde erfolgreich sein. Und die Ideen sprudelten aus uns heraus.“

Produzent war einmal mehr Hugh Padgham, mit dem Genesis seit Abacab zusammen arbeiteten und der mit seinem Faible für einen knalligen Sound den Stilwechsel in den frühen ’80ern noch verstärkte. Padghams größter Vorteil war, dass er einfach abwarten konnte, was passiert. Genesis trafen sich, setzten sich ins Studio und begannen zu jammen. Es gab kein bleischweres oder verkopftes Konzept, dem sich alles unterordnen musste, keine Kunst, der man unbedingt folgen muss und keinen Zwang seitens der Plattenfirma. Genesis waren 1985/86 vielleicht zum ersten Mal seit langem das, was sie immer sein wollten – eine Hobby-Band, die das macht, was sie will. Genesis entwickelten eine Band-Chemie, die durch das Ausleben der Solokarrieren eine völlige Reinheit besaß und sich außerdem in ein leeres Reagenzglas ergießen musste, denn Genesis kamen ohne jegliches vorbereitetes Material. Diese Mischung produzierte ein ausgewogenes Bandgefüge und die Band konnte hörbar besser atmen. Im Umkehrschluss bedeutete das aber auch, dass die verquert-verkopften Elemente und Songs seltener wurden – bzw. sich in den Jam-Sessions entwickeln mussten.

Die LP war noch das beherrschende Format und die CD hielt langsam Einzug ins heimische Wohnzimmer. Ein mysteriöses „ADD“ auf dem Backcover deutete es an – analog aufgenommen, digital gemischt und digital produziert. Dass digital nicht immer gut heißt, weiß heute jeder, damals war es das non plus ultra. Das Cover reiht sich ein in die wenig inspirierenden Werke seit Abacab, erfüllt aber seinen Zweck – es ist plakativ und irgendwie eben doch ein Blickfänger. Das kann man vom Schriftzug Marke „Franklin Gothic fett, kursiv“ sicher nicht behaupten. Zum ersten Mal wurde ein Genesis-Schriftzug nicht künstlerisch in Szene gesetzt (zwar basiert der Schriftzug des Mama-Albums auch auf einem Font, sieht aber eher künstlerisch aus). Nur acht Songs befinden sich auf dem Album – eigentlich ein normales Maß für ein Genesis-Album, wenngleich es so wenig Songs seit A Trick Of The Tail nicht mehr gab. 

· Invisible Touch

Der Opener beginnt kaum, und schon ist er zu Ende. Jeden Genesis-Fan der Hackett-Ära dürfte beim ersten Hören das kalte Grauen erfasst haben. Genesis zelebrieren einen lupenreinen Pop und klingen, als wüssten sie selber nicht so recht, was das soll. Der Song wurde schnell zum Aufhänger des Albums, erklomm als einzige aller Genesis-Singles den Spitzenplatz der amerikanischen Charts und hatte auch noch die Lacher auf seiner Seite. Im Musikvideo veralbern Genesis ihren eigenen Videodreh – Mike Rutherford kommt zu spät zu seiner Gitarre, Phil Collins verpasst den Playback-Einsatz. Genesis sind plötzlich die Spaßband auf MTV – ein weiter Weg für eine Band, die 14 Jahre zuvor mit Supper’s Ready das Kernstück des Progressive-Rock-Genre produzierte …

· Tonight, Tonight, Tonight

Wem der Titelsong zuviel war, wird mit „Tonight’3“, wie es seit dem Internet-Zeitalter unter Fans heißt, erst einmal entschädigt. Zwar wurde auch dieser Song zu einem Welthit, jedoch in einer gnadenlos kastrierten Version. Auf dem Album entfaltet die kraftvolle Nummer über knapp neun Minuten ihre Stärken. Der instrumentale Mittelteil ist sicher keine Offenbarung, aber ein typisches Jam-Session-Ergebnis der modernen Genesis. Und schließlich begeben sich Genesis mit dem Thema Drogenmißbrauch auch textlich in die reale Welt. Das Finale des Songs ist furios und es ist kaum nachvollziehbar, dass es komplett nur auf der Invisible Touch Tour gespielt wurde.

· Land Of Confusion

Genesis schreiben einen Protest-Song! Was in früheren Jahren – wie zum Beispiel mit Blood On The Rooftops- wesentlich subtiler passiert, wird 1986 offensiv angegangen. Land Of Confusion ist einer der Songs, die das Talent der Gruppe, einen perfekten Poprock-Song zu produzieren, unterstreicht. Der Song ist kraftvoll, eingängig, zielführend, konsequent. Genesis trafen damit den Nerv der Zeit, auch unterstützt durch das Spitting-Image-Musikvideo, das bis heute als einer ihrer besseren Videos gilt und der Band den einzigen Grammy einbrachte. So simpel der Song auch ist, Land Of Confusion ist extrem gut gemacht und zählt zu den Highlights des Albums.

· In Too Deep

Ein weiterer Welthit und ein weiterer Graus für viele Fans. In Too Deep wurde immer als Phil-Collins-Ballade verachtet, insbesondere auch von Musikkritikern, dabei ist der Song im Kern von Tony Banks. Als Ballade funktioniert er gut, doch muss man die Frage stellen, was den Song von anderen Popsongs dieser Machart abhebt? Für viele Fans war die Single dennoch interessant – sie enthielt auf der B-Seite den Non-Album-Track Do The Neurotic, ein sieben Minuten langes Instrumental.

· Anything She Does

Auch dieser Song ist auf Hit programmiert. Etwas merkwürdige Sounds lassen vermuten, dass hier wieder Bläser am Werk sind, doch es ist nur die „Tony Banks Horn Section“ – Samples also. Anything She Does ist eine flippige Popnummer mit einem stampfend-hektischen Refrain und wieder steht der Spaß im Vordergrund – Benny Hill persönlich spielte im Video die Hauptrolle. Dass Anything She Does nie als Single erschien, war angeblich eine strategische Entscheidung – der Song soll der Plattenfirma zu nah am Phil Collins Solo-Sound gewesen sein.

· Domino

Ein zweigeteiltes Epos über eine fiktive Krisensituation in Beirut. Dass es ausgerechnet um Politik geht, deckte Tony Banks erst Jahre später auf. Dominoglänzt als Longsong und gehört ohne Zweifel zu den stärksten Titeln im Repertoir der Band. Im ersten Teil baut sich langsam eine Spannung auf, unterbrochen von hektischen Instrumentierungen in den Strophen – In The Glow Of The Night könnte auch als einzelner Song funktionieren und es wäre spannend gewesen, dieses Fragment als Single zu testen. Genesis‘ Faible für progressive Elemente kommt hier deutlich zum Vorschein, das Ganze verpackt in einen poppigen und leichter zu erreichenden Sound und auch in eine simple Struktur. Der zweite Teil, The Last Domino, ist dagegen der Kontrapunkt zum ersten Teil und wird zur treibenden Kraft. Hier bleibt die Studioversion zum Ende hin etwas auf der Strecke – erst live gewann der Song als Gesamtkonstrukt an Klasse und gehörte seit 1986 immer zum Live-Set von Genesis. Dominoist einer jener Songs, die Genesis von den Soloaktivitäten ihres Sängers klar abgegrenzt haben. Bis heute erfreut sich Dominogroßer Beliebtheit in allen Fanlagern.

· Throwing It All Away

Ein bluesig/souliges Liebeslied über das Ende einer Beziehung. Eigentlich ist Throwing It All Away eine relativ harmlose Nummer, doch es wurde nicht nur ein weiterer großer Hit, sondern bei Live-Konzerten ein Garant für gute Stimmung. Phil ließ sein Publikum während des Intros des Songs immer wieder ein „sigaleeeeooh“ singen – mit jeder Tour wurde es länger und länger. Kurioserweise nennt Chester Thompson gerade diesen Song, wenn man ihn nach dem Stück befragt, das er am liebsten spielt.

· The Brazilian

Zum Abschluss ein Instrumental – ein ungewöhnlicher Schluss für eine so genannte Mainstream-Platte. The Brazilian ist so etwas wie der Bruder von Do The Neurotic, das es nicht auf das Album schaffte. Schräge Sounds werden gesampelt und in Serie gespielt, während sich drumherum Keyboards, Gitarren und Schlagzeug eine Art „Kampf“ liefern. Auch The Brazilian funktionierte live noch einen Tick besser und ist – wie Domino – ein typisches Genesis-Stück. Als Finale eines Hit-Albums ist es fast schon gewagt, als Finale eines Genesis-Albums aber steht es in einer Reihe mit Juwelen wie Los Endosund Duke’s End – ob es an diese Stücke heranreicht, möge jeder selbst entscheiden.

Fazit

Fünf Pop-Rock-Songs, drei progressiv geprägte Stücke – der Vorwurf einer Pop-Platte lag immer schon über Invisible Touch. Tatsächlich haben die Hit-Singles vieles von dem kaschiert, was sich noch auf dem Album verbirgt. Fakt ist auch – es werden die Hit-Singles bleiben, die im Radio gespielt werden und die sperrigen Titel, die für Konzert-Höhepunkte sorgen.

Invisible Touch wurde zur Hassplatte für die progressiven Puristen unter den Fans. Dabei waren Genesis Mitte der ’80er als Studioband eingespielter als je zuvor. Dass sie ihren Sound modernisierten, muss man nicht mögen, man kann es aber nachvollziehen. Dass sie keine Supper’s Readys mehr schrieben, ist für viele bedauerlich, war aber in erster Linie auch die Überlebensgarantie der Band. Dass sie fünf US-Top-5-Hits produzierten und damit einen Weltrekord aufstellten, überraschte Fans gleichermaßen wie die Band. Dass sie ihre Wurzeln nicht leugnen können und wollen, beweisen die Epen Tonight, Tonight Tonightund Domino sowie das Instrumental The Brazilian. Man könnte sagen, es ist verproggter Pop. Am Ende dürften die Prog-Elemente im poppigen Outfit den Kern der Sache besser treffen. Invisible Touch ist vor allem ein Album wie aus einem Guss. Als Pop-Sünde beschimpft, als Mainstream-Manifest gefeiert – der Erfolg von Genesis nahm der Band aber definitiv ihren mystischen Touch. Sie wurden begreifbar, sogar lustig, waren kein Kleinod mehr in der Poleposition des Plattenschranks, sondern ein Massenprodukt für jedermann. Invisible Touch schloss viele Türen – und ebnete vielen neuen Fans den Weg in die progressiven Wurzeln der 70er Jahre. Dies dürfte das größte Verdienst dieses Albums sein.

Tony Banks sagte Jahre später, dass der ganze Hype und Erfolg für ihn eine Genugtuung war. Vier Mal spielten Genesis im Juli 1987 im ausverkauften Wembley Stadion und kamen zeitweise ins Guinness-Buch der Rekorde. Tony Banks dazu: „Vier Konzerte im Wembley-Stadion – damals dachte ich, es kann nicht mehr größer werden, das ist der Höhepunkt. Und das denke ich immer noch.“

Autor: Christian Gerhardts

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