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Peter Gabriel – A Family Portrait – DVD Rezension

Anna Gabriels persönliche Dokumentation der Growing Up Nordamerika-Tour 2002.

Seit 2004 zu haben, ist Growing Up On Tour – A Family Portrait. A Film By Anna Gabriel immer so etwas wie ein obskures Kleinod geblieben – vielen Fans ist diese DVD gänzlich unbekannt. Was ist das Besondere daran, und wer sollte sie sich anschaffen?

Technisches

Dies ist keine DVD für den Technik-Freak. Es ist alles recht einfach gehalten. Ganz gewöhnliches 4:3-Bildformat, normales 2-Kanal Dolby Stereo. Das Quellmaterial ist Digital Video, Super 8 und VHS, und es ist ganz beabsichtigt, dass sich die unterschiedlichen Qualitäten des verwendeten Materials auch zeigen.

Verpackung

Die DVD wird in einem einfachen Jewelcase ausgeliefert. Das beeindruckende Cover basiert auf einem Gemälde von Graham Dean. Graham Dean ist ein renommierter Künstler und enger Freund Peter Gabriels seit den Siebziger Jahren. Er ist bekannt für seine intensive Videoarbeit mit Peter Gabriel, wovon ein kleiner Teil auf der 1993er Version des Solsbury Hill – Videos veröffentlicht wurde. Graham Dean durfte Peter Gabriel und Anna Gabriel zu dieser DVD interviewen (das Interview wurde anschließend im 2004er Tourprogramm abgedruckt), und man fragt sich, ob das Porträt, das für das DVD-Cover verwendet wurde, vielleicht DANACH entstanden ist. Originalton Graham Dean : „I think you [Peter Gabriel] have also come to terms with who you are as a person, which probably wasn’t the case before. I think there are two sides to your character in a way. I mean there’s this front man; the star, the rock person, which I think you have a need for. This theatrical side. But then you have this other shyer one, which is meddling in the background. And in a way now I think that these two have fused more than at any other time. I think this DVD shows that. But I also think you are definitely the product of your parents. Of all the people I know, you are a merge of their two personalities.“ „Ich denke, Du [Peter Gabriel] bist jetzt mit Dir selbst im Reinen, mit dem, wer Du bist als Mensch, und das war höchstwahrscheinlich vorher nicht der Fall. Ich denke, in gewisser Hinsicht wohnen zwei Seelen in Deiner Brust. Ich meine, da ist einmal der Frontmann, der Star, der Rockmensch, und ich denke, Du hast ein inneres Bedürfnis danach. Das ist die theatralische Seite Deiner Persönlichkeit. Und dann hast Du diese andere, schüchternere Seite, die ständig päsent ist, aber im Hintergrund. Und ich denke, in gewisser Hinsicht verschmelzen diese beiden Seiten Deiner Persönlichkeit mehr als jemals zuvor, haben sich vereinigt. Ich denke, die DVD zeigt das ganz klar. Außerdem bist Du meiner Meinung nach definitiv das Produkt Deiner Eltern. Von allen Menschen, die ich kenne, bist Du als Einziger eine genaue Mischung ihrer beiden Persönlichkeiten.“ Betrachtet man sich das Coverporträt, fragt man sich, ob die Vierteilung vielleicht die verschiedenen Facetten von Peter Gabriels Persönlichkeit symbolisieren soll, Facetten, die in dieser DVD zutage treten . . . Das Booklet ist 10-seitig und beinhaltet viele Fotos, einige davon exklusiv in diesem Booklet zu finden, andere davon bekannt vom 2004er Tourprogramm.

Inhalt

Dies ist in erster Linie eine Dokumentation. Ursprünglich hatte Anna Gabriel – Peters Tochter und Regisseurin dieser DVD – vor, eine Dokumentation zu drehen aus dem Sichtwinkel ihrer Schwester Melanie Gabriel heraus, über deren erste Schritte auf der Bühne in einer Live-Situation vor Tausenden von Menschen. Also eine „Neuling sammelt Erfahrungen“-Story. Und dieser Teil der Dokumentation ist in der Tat auch sehr interessant: wir sehen Melanie Gabriel mit Selbstzweifeln am Anfang der Tour, die ihren Gesangpart lieber doch alleinig der Keyboarderin überlassen will, und wir erleben ihre Fortschritte in Gesangsqualität und Selbstvertrauen im Laufe der Tour. Aber, wie Anna Gabriel im Interview sagte : „I’ve got a lot of stuff of her [Melanie], but then it drifted more onto him [Peter] as it went along.“ – Graham Dean: „As things do . . . he’s like a magnet really isn’t he?“ – Anna Gabriel: „Unfortunately.“ ( Anna Gabriel: „Ich hatte schon eine Menge Material über sie [Melanie], aber dann driftete es immer mehr in seine [Peters] Richtung ab, je weiter es voranschritt.“ – Graham Dean: „Wie so einiges andere auch . . . er ist wirklich wie ein Magnet, nicht wahr?“ – Anna Gabriel: „Ja, leider.“ ). Also eine 40-minütige Dokumentation, erstellt zwischen 2002 und 2003 während der Proben in Sardinien und dem ersten Tourabschnitt der Growing Up-Tour auf dem amerikanischen Kontinent. Eine Dokumentation über das Leben der Musiker und Mitreisenden „on the road“, hinter der Bühne, beim Entspannen zwischen den Konzerten. Ein repräsentatives „Making of“ verschiedener Elemente der Growing Up-Show – wie sie zustandekamen und was man sich dabei gedacht hatte. Vor allem aber ein Blick auf die MENSCHEN hinter dieser Show, wie sie miteinander und mit dem Druck und den Freuden des Tourlebens umgehen, einander Streiche spielen, miteinander lachen. Und insbesondere ein Blick auf Familie Gabriel in drei Generationen – Anna nicht immer nur hinter der Kamera, Melanie als Backing-Sängerin, Peter als treibendes Element und absoluter Familienmensch – – – Peters Eltern backstage und der damals 2-jährige Isaac als kleiner umsorgter „Chaosfunken“ mittendrin. Interessanter Hinweis am Rande : Das Menü ist unterlegt mit einer Instrumentalversion von Baby Man, und man hört einen Teil der Studioversion desselben Liedes während des Nachspanns der Dokumentation – bemerkenswert insoweit, als dieses Lied (abgesehen von Liveversionen) bis zum heutigen Tage (2006) noch immer unveröffentlicht ist und eventuell einmal auf I/O erscheinen wird. Anna Gabriel hatte einige der amerikanischen Impressionen bereits auf www.petergabriel.com in wesentlich ausührlicherer Form als „Anna’s Tour Diary“ veröffentlicht, doch hier haben wir den Endschnitt vor uns.

Und der ist eine runde Sache. Da der Fokus auf Familie Gabriel liegt, beginnt die Dokumentation recht passend mit bewegten Bildern aus dem Gabrielschen Familienalbum – Anna und Melanie als Kinder, aber auch rare (stumme) Super-8-Film-Schnipsel von 1977er Gabrielkonzerten. Doch schnell ist mit den Bildern auch der Bogen zu Peter Gabriel als Performer und zum HEUTE geschlagen, und so sind bereits in den ersten 10 Sekunden die Hauptthemen festgelegt. Anna experimentiert mit Ausdrucksformen, mit verschiedenen Filmmaterialien, mit verschiedenen Schnittformen, unterstreicht Interviewaussagen durch Grafiken, in denen einzelne Textfetzen auftauchen – doch obwohl an jeder neuen Ecke eine Überraschung wartet, werden die Effekte nicht nur als Selbstzweck gebraucht, und sie sind niemals ermüdend oder anstrengend im Auge des Betrachters. Wie ihr Vater auch hat sie sich ein offenes Auge, eine gewisse Neugier bewahrt, und so bunt wie das Real World-Design sind auch ihre Videocollagen – und die „Cymatics“ (bewegte Muster, die vom Sound „geschrieben“ werden), die sie zur Herausstreichung von Aussagen verwendet, kennt man schon von den Tourprogrammen 2002 und 2003 – und der Kreis hat sich auch in dieser Beziehung wieder geschlossen. Ein Hauptbestandteil ihrer Geschichte ist das „Bonding“ sowohl zwischen den Musikern untereinander als auch mit Crewmitgliedern, das Schließen von Freundschaften, das Zusammenwachsen einer Gemeinschaft. Es ist so ähnlich, wie wenn man eine Gruppe völlig ernsthafter, erwachsener Menschen in eine Klasse zusammen steckt – zum Beispiel bei der Berufsausbildung – auf einmal werden daraus ganz alberne, herumalbernde Menschen, die sich gegenseitig Streiche spielen oder der Kamera (sofern eine vorhanden ist) die Zunge herausstrecken. Und genau das passiert auf Tour. Der Stress ist groß und „Stress Release“ ist von Nöten, und das beschert dankenswerterweise der Dokumentation die leichteren Momente, und man kommt über lange Zeit aus dem Schmunzeln nicht heraus. Außerdem zeigt es sich, dass mit „Family“ / „Familie“ nicht nur der Gabriel-Clan gemeint ist, sondern die ganze große Tour-Familie, zu denen alle Beteiligten zusammenwachsen, vielleicht sogar inklusive der (oftmals mitreisenden) Fans, deren Reaktionen und Aussagen auch in die Dokumentation mit aufgenommen wurden. Dies ist allerdings nur eine Dokumentation und KEINE Live-DVD, und so werden die einzelnen Songs nur meist kurz angespielt. Trotzdem bekommt der Betrachter einen guten Eindruck vom Ablauf einer Tour und sogar von Teilen des Konzerterlebnisses.

Zu Beginn allerdings erleben wir Sardinien, den Ort der Bandproben, im strömenden Regen. In wenigen Bildern wird die Atmosphäre festgelegt, exotisch und noch ein Ort des Übergangs – halb Entspannung und Urlaub, halb der Beginn der schweren Arbeit für jede einzelne Show! Und hier kommt dann auch gleich der einzige Einspruch / Regieeingriff Peter Gabriels in die Dokumentation. In einem genialen Schnitt zwischen zwei Einstellungen schneidet Anna von Richard Evans im Probenstudio „This is the second day [in three weeks] where we’ve had Peter for longer than an hour.“ ( „Das ist jetzt gerade mal der zweite Tag [in drei Wochen], wo wir Peter hier für länger als eine Stunde am Stück zur Verfügung hatten.“ ) zu einem im Mittelmeer herumplanschenden Peter Gabriel, nur Zehen und Kopf über der Wasserlinie. Peter Gabriel bestand auf eine nachträgliche Einfügung einer kleinen Gegendarstellung, die seine Leistung und seinen Anteil an der Gesamtarbeit in diesen letzten Wochen vor der Tour herausstellt. Dankenswerterweise sind aber alle anderen Momente dringeblieben, und wir erleben einen Peter Gabriel, der schlecht in ein engsitzendes Kostüm hereinpasst, einen Peter Gabriel, der ein eher ungünstiges Konzept von Robert Lepage – Peter tanzt spontan etwas vor, die Bandmitglieder müssen jeden einzelnen Schritt nachmachen – linkisch in die Tat umzusetzen versucht, einen Peter Gabriel, der respektlos im Boule herausgefordert wird – er wird von seiner Tochter, der Filmemacherin, nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Und das macht den Reiz dieser Dokumentation aus, sie ist intim, erfrischend ehrlich, menschlich, humorvoll – wie ist es hinter den Kulissen, wie ist es, auf Tour zu sein? Wie sieht die Arbeit, aber wie sehen auch die Ablenkungen vom Touralltag aus? Welchen Stellenwert haben Freundschaften und Familie? Wie sind die Menschen auf der Bühne und auch die Fans vor der Bühne? Was ist der Geist dieser Tour? Was macht den Menschen Peter Gabriel aus? Ein Lied wie Father, Son entsteht nicht im luftleeren Raum – hier erfahren wir über seine Entstehungsgeschichte – komplett mit den Privataufnahmen von Peter und seinem Vater bei den Yoga-Ãœbungen! Um einen Eindruck vom Inhalt dieser Dokumentation zu geben: Man bekommt die (mit einigem Bedenken erwarteten) Vorbereitungen auf die Kopfüber-Akrobatik während Downside Up zu sehen, kurze Ausschnitte, die den absoluten Charme der Vorgruppen sichtbar machen, Dreharbeiten-Proben mit Hamish Hamilton zum Growing Up Live-Video, man erhält einen kurzen Blick auf Robert Lepage, der das Konzept der Show entwickelt hat, man erfährt die Absichten hinter dem Gebrauch des Zorb-Balles während Growing Up, . . . – kurz gesagt, alle Aspekte dieser Tour werden beleuchtet. Es geht um Arenen-Neulinge, Reisen im Charterflugzeug, um das, was unmittelbar nach dem Verlassen der Bühne passiert, um eine leicht unbequeme Konfrontation mit einem Auftritt der Band zehn Jahre zuvor, es geht um den Wettstreit im Boule . . . Wenn Anna einzelne Lieder herausstellt, stellt sie auch gleich die richtigen Interviewfragen dazu – und meist muss die ganze Band daran glauben, auch wenn die Antworten dann nicht immer ganz ernst gemeint sind! Der Inhalt kann hier natürlich nicht im Einzelnen vorgestellt werden, einige Überraschungen sollen ja schließlich noch übrigbleiben . . .

Bonus Material

Das Bonusmaterial ist nicht untertitelt. Man findet hier ein My Head Sounds Like That-Video, von Anna mit den passenden Bildern versehen (die auf der 2004er Tour dann anschließend noch einmal für die Live-Präsentation von Darkness recycelt wurden), das Making Of zu Sean Penn’s The Barry Williams Show-Video (welches vorher schon mal in ähnlicher Form auf www.petergabriel.com zu sehen war), eine Dokumentation von Stephen Lovell-Davis‘ Programme-Photoshoot der einzelnen Bandmitglieder – – – – – – und einen wahren Schatz, der allein schon das Anschaffen dieser DVD rechtfertigt : Anna Gabriels 11-minütige Dokumentation von Peters Solo-Performance beim Newport Film Festival, wo Anna ihre Dokumentation bereits vorab einem kleinen Publikum vorführen durfte. Diese Solo-Performance zeigt Peter Gabriel allein am Piano – und allen Wunschträumen Peters zum Trotz werden wir diese Songs (Washing Of The Water, That Voice Again, Solsbury Hill, Mercy Street, In Your Eyes, Father Son) wohl nie wieder so erleben : „Stripped Down“ – einfache Versionen, nur Stimme und Piano (außer bei In Your Eyes, das noch einen gesampelten Rhythmustrack dazugespielt bekommt) – ganz anders als gewohnt, aber Musterbeispiele an Reinheit und Klarheit, die die Schönheit der Songs erst so richtig zutage treten lässt! In diesem Teil der DVD werden übrigens längere Teile der Songs ausgespielt als im Hauptteil, so dass man schon einen guten Eindruck bekommt, leider ist aber kein Song so richtig vollständig. – Und ein Wiedertreffen mit Isaac – inzwischen mächtig gewachsen – und seinen Streichen gibt es auch!

Fazit

Diese DVD ist nicht unbedingt etwas für den gelegentlichen Gabriel-Fan, der nur einmal kurz auf ein Konzert mit ihm war. Wie gesagt, es ist KEINE Live-DVD, und die Musik steht hier nicht als Einzelgenuss im Vordergrund, sondern dient nur der Erläuterung. Für wen ist also diese DVD? Sie ist für alle Fans, die von der Growing Up-Tour begeistert waren (und vielleicht eine von den offiziellen Live-DVDs bereits besitzen) und die einen Blick hinter die Kulissen werfen wollen, den Geist, die Essenz dieser Tour und der einzelnen Bandmitglieder noch mal aufleben lassen wollen. Und sie ist für alle „fortgeschrittenen“ Gabrielfans, die mehr über den Mann, die Show-Vorbereitungen, die er trifft, und über seine Persönlichkeit erfahren wollen. Es gibt nur wenige Dokumentationen über Peter Gabriels Arbeit oder sein Privatleben „behind the scenes“, also ist das alleine schon etwas ganz Rares für die Fans. Und der Einblick ist extrem „intim“ gelungen, weil es sich eben bei der Filmemacherin um Peters Tochter handelt, und eben, weil seine Familie diesmal mit auf Tour war. Zusammengefasst ist diese DVD eine viele Einsichten gebende, extrem kurzweilige Abendunterhaltung für den Gabrielfan, die man nicht übersehen sollte. Und das Bonusmaterial ist wichtig genug, um allein diesem noch einmal die volle Aufmerksamkeit zu schenken – allein der Newport Film Festival – Auftritt ist den Kauf dieser DVD wert!

Autorin: Karin Woywod


Technische Daten:

Europäische Version 1 DVD
Sound: PCM, Dolby Digital 2.0 Stereo
Bild: 4:3, PAL,
Sprache: Englisch
Untertitel (nur im Hauptteil): Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch (auf der Hülle stehen noch mehr Sprachen, aber die werden in Wirklichkeit NICHT angeboten)

Anna Gabriels Growing Up On Tour – A Family Portrait gibt es bei amazon.de und amazon.co.uk zu kaufen.

Weitere Links:
Still Growing Up Live And Unwrapped – DVD Rezension
Growing Up Live – DVD Rezension
Play – The Videos – DVD Rezension
Encore Series 2003 – Rezension
The Making Of I/O