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Peter Gabriel – II (Scratch) – Rezension
1978 veröffentlichte Peter Gabriel sein zweites Album, das insgesamt etwas unterging. Heute genießt das Album bei vielen Fans Kultstatus.
Peter Gabriels zweites Album. Scratch“) ist mit Sicherheit das am stärksten diskutierte und am wenigsten geliebte in seiner gesamten Diskographie. Schuld daran: Auf dem Album befindet sich kein Hit wie Solsbury Hill oder Biko und die Atmosphäre strotzt nur so vor Zerissenheit und Depression. Auch das Artwork wirkt kalt und unwirtlich. Dennoch lohnt es sich einen genaueren Blick auf dieses verkannte Meisterwerk zu riskieren!
Wir schreiben das Jahr 1978: Peter Gabriels Ausstieg bei Genesis liegt nun bereits vier Jahre zurück. Während seine Ex-Kollegen es erstmals mit eingängiger Popmusik versuchen (Follow You, Follow Me) steht Gabriel vor der schwierigen Aufgabe, sein zweites Soloalbum zu produzieren. Sein erstes, schlicht Peter Gabriel genanntes Solowerk war noch als Suche zu verstehen, eine Suche nach musikalischer Identität und künstlerischer Richtung. Trotz der sehr verschiedenen Stile und fehlenden Geschlossenheit wurde das Debütalbum sehr positiv von der Kritik aufgenommen. Mit Solsbury Hill legte er gar einen unkaputtbaren Welthit hin. Das zweite Album sollte und musste nun richtungsweisend sein für seine weitere Laufbahn als Künstler.
Peter Gabriel gelingt es ein Album mit einer durchgängigen Atmospäre zu schaffen und seinen inneren Zwiespalt in den Songs zu konservieren. Der Sound ist sehr speziell und einzigartig. Nicht zuletzt dafür verantwortlich ist Robert Fripp, der als Produzent am Werke war. Der Klang ist flach, dreckig, beinahe gequält, der Gesang oft verfremdet. Kritiker beschreiben den Sound als saft- und kraftlos, ohne den richtigen „Wumms“. Aber diese Stimmung war durchaus beabsichtigt, pendelt das Album doch ständig zwischen Depression, Hilflosigkeit und Zynismus. Der Gipfel der inneren Anspannung ist Exposure, ein stark von Fripp beeinflusstes, auf ständiger Wiederholung beruhendes E-Gitarren-Stück (Frippertronics) mit einer wahrlich ätzenden und schier unerträglichen Verzweiflung. Diese düstere Grundstimmung darf sich aber auch an einigen Stellen des Albums entladen. Mit Mother Of Violence gelingt Gabriel z.B. eine wunderschöne, zerbrechliche Ballade. Aber auch einige flotte und fetzige Stücke wie On The Air, D.I.Y., Animal Magic oder Perspective fehlen nicht.
Das von Hipgnosis wie gewohnt sehr sorgfältig gestaltete Cover passt perfekt zur Musik. Auf der Vorderseite sehen wir Peter Gabriel, der sein eigenes Foto mit den Fingernägeln zu zerkratzen scheint. Daher ist dieses Album auch unter dem Namen Scratch bekannt. Auf der Rückseite sieht man eine einsame, karge Stadt-Szenerie im Winter. Eine Person läuft unter einer Brücke hindurch, frierend und sich nach Wärme sehnend. Doch die Umwelt ist kalt, einsam und düster. Diese beiden Pole – Aggression und Zerissenheit auf der einen und Hilflosigkeit, Verlorenheit und Einsamkeit auf der anderen Seite – finden sich in vielen Songs wieder.
So zwiespältig wie das Album ist auch seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: Kaum ein Gabriel-Fan würde hier von seinem Lieblingsalbum sprechen. Vielleicht ist es korrekt, dass sich Gabriels innerer Zwiespalt erst nach diesem Album auflöst und in perfekter Popmusik wie auf III, IV und So manifestiert. Mit einem perfekten Album in Gabriel-Manier haben wir es hier in der Tat nicht zu tun, aber durch den experimentellen und konzeptionellen Charakter erinnert das zweite Album wie kein anderes Solowerk an Genesis und insbesondere The Lamb Lies Down On Broadway. Künstler und Fan haben sich spätestens auf der Warm Up Summer Tour 2007 mit dem zweiten Album versöhnt: Erstmals wurden hier wieder vermehrt Stücke dieses Albums live dargeboten und begeistert aufgenommen.
Die Besetzung
Wie üblich konnte Gabriel wieder eine exzellente Band für sein zweites Studioalbum zusammenstellen. Neben seinem langjährigen Begleiter Tony Levin sind auch Larry Fast und erstmals Jerry Marotta mit an Bord. Aufgenommen wurde das Album von November 1977 bis Februar 1978 in den Niederlanden und in New York.
Peter Gabriel – Gesang, Orgel, Piano, Synthesizer
Tony Levin – Bass, Chapman Stick, Kontrabass, Background-Gesang
Sidney McGinnis – Elektrische und akustische Gitarre, Mandoline
Larry Fast – Synthesizer
Bayete – Keyboards
Roy Bittan – Keyboards
Robert Fripp – Gitarre
Jerry Marotta – Schlagzeug, Background-Gesang
Timmy Capello – Saxophon
George Marge – Recorder
John Tims – Insektengeräusche bei Mother Of Violence
Die Songs
On The Air
Das Album beginnt fetzig mit einem Rockstück. Pulsierend und ohne Kompromisse lebt es vor allem von der exzellenten Arbeit von Tony Levin an Bass und Chapman Stick. Der Gesang von Peter Gabriel wirkt schmutzig und gequält. Im Text taucht hier wieder die ominöse Figur Mozo auf, welcher scheinbar ein größeres, aber nie ganz fertiggestelltes Konzept zugrunde liegt. In On The Air wird berichtet, wie der der heimatlose Mozo Nacht für Nacht ein Kurzwellen-Radioprogramm sendet und damit die Außenwelt auf sich aufmerksam macht.
D.I.Y.
Mit D.I.Y. (Do It Yourself) folgt eine weiteres flottes Stück mit pumpenden Bass. Der relativ kurze Song (2:34) besticht durch seine Leichtigkeit, welche im Gegensatz zu der Schwere des übrigen Albums steht. Auf Konzerten mausert sich D.I.Y. sogar zum regelrechten Stimmungsmacher. D.I.Y.mahnt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht zum „Dummy“ zu machen, indem man nur die Erwartungen anderer Menschen erfüllt. Andere wiederum verstehen den Text einfach als sexuelle Anspielung. D.I.Y. wurde auch als Single ausgekoppelt, hatte aber keinerlei Erfolg in den Charts.
Mother Of Violence
Mother Of Violence beginnt mit Insektengeräuschen, eine Sommerkulisse wird aufgebaut. Der Song wird dann von akustischer Gitarre und klassischem Klavier bestimmt. Peter Gabriel trägt seine Verse mit zerbrechlicher Stimme vor und singt über die Angst als Mutter aller Gewalt. Diese wunderschöne, rührende Ballade stellt einen starken Zusammenhang zwischen Musik und Text her und ist mit Sicherheit zu den Highlights von Peter Gabriel zu zählen. Interessantes Detail: Auf der 2007er Tour wurde der Song komplett von seiner Tochter Melanie gesungen.
A Wonderful Day In A One-Way World
Hier haben wir es mit einer bissigen Satire auf die westliche Supermarkt-Gesellschaft zu tun. Musikalisch besteht A Wonderful Day In A One-Way World aus einem eigenwilligen Mix aus Reggae und Funk, angereichert mit ein paar abgedrehten Keyboard-Sounds. Der Titel ist eher sarkastisch als trüb und somit ein Farbtupfer im Kontext des gesamten Albums.
White Shadow
White Shadow ist ein weiteres Highlight des Albums. Es beginnt zunächst mit einem recht langen instrumentalen Vorspiel. Getragen wird das Stück einmal mehr vom exzellenten Bassspiel Tony Levins. Das muffige Schlagzeug und die Keyboard-Akkorde erzeugen eine Stimmung von Resignation und Hoffnungslosigkeit. Zum Ende hin gibts es sogar ein längeres Gitarrensolo zu hören, was nicht gerade typisch ist für Peter Gabriels Musik. Der Text ist ziemlich krytisch und bietet viel Spielraum zur Interpretation rund um den „weißen Schatten“.
Indigo
Melancholie pur gibt es in Indigo zu bestaunen: Der Titel beginnt herzzereißend, Gabriel singt nur vom Piano begleitet über das Loslassen, das Abschließen mit dem Leben, das Sterben. Dabei manifestiert sich die ganze Frustration in der besonders ergreifenden Stelle „Alright, I’m giving up the fight“. Die Musik verstärkt die Stimmung noch durch ihre gequälte Langsamkeit und elegische Getragenheit. Ein weiterer emotionaler Höhepunkt!
Animal Magic
Nach den beiden emotionalen Highlights White Shadow und Indigo folgt mit Animal Magic nun ein eher fröhliches Lied. Eine kurze Entspannung auf dem düsteren und kalten Trip den Peter Gabriel auf dem Album eingelegt hat. Ein stimmunsvolles Bar-Piano und fetzige Gitarre kreieren einen Sound, der eine poppige Seite an Peter Gabriel ans Tageslicht befördert, die in späteren Songs wie Sledgehammer oder Steam pefektioniert werden sollte. Inhaltlich geht es um das tierische Verhalten, welches Menschen zeigen, wenn sie Kriege führen.
Exposure
Exposure ist das Stück, in dem die gesamte Depression des Albums auf die Spitze getrieben wird. Der Song wird von einem manischen, sich ständig wiederholenden Motiv getragen. Dabei wird immer wieder und extrem verfremdet das Wort „Exposure“ aufgesagt. Auch hier ist ein sehr prägnantes Bass-Riff zu bestaunen und die von Robert Fripp eingesetzten Gitarren-Effekte, die so genannten Frippertronics. Eine alternative und noch etwas verrücktere Version von Exposure befindet sich auf dem gleichnamigen Solo-Album von Fripp.
Flotsam And Jetsam
Ein weiterer vom Piano getragener Song mit eigenartig verzögertem Gesang. Mit etwas über zwei Minuten ist der Titel recht kurz und wirkt eher wie ein Fragment als ein vollwertiger Song. Eine lethargische Stimmung wird erzeugt, Peter Gabriel beschreibt eine innere Leere. Doch wie das Strandgut in der See (Flotsam And Jetsam) gibt es im Ozean des Lebens immer noch Hoffnung und er wünscht diese Hoffnung erfassen zu können.
Perspective
Perspective ist wieder ein Rocker – ein fettes Gitarrenriff, ein stetig wiederholter Akkord auf dem Piano, dazu ein fetziges Saxophon und souliger Gesang. Perspective ist sicher der optimistischste Song des ganzen Albums. Inhaltlich geht es um die verschiedenen Perspektiven die man als Kind der Erde. Gaia“) haben sollte, um die verschiedenen Bereiche des Lebens und der Natur zu erfassen.
Home Sweet Home
Home Sweet Homebildet das schaurige Finale eines düsteren Albums. Es wird die Geschichte eines Ehepaares erzählt, welches all ihr Geld ausgibt für eine Wohnung im elften Stock, dem „Home Sweet Home“. Doch das süße Zuhause entpuppt sich eher als unwirtliches Gefängnis. Eines Tages kommt der Protagonist von der Arbeit und seine Frau ist mit dem Kind aus dem Fenster gesprungen. Von dem Geld der Versicherung geht er ins Kasino, gewinnt und kauft sich ein Landhaus – er hat sein „Home Sweet Home“ endlich gefunden. Diese kleine Horrorgeschichte singt Peter Gabriel mit einer atemberaubender Dramatik in seiner Stimme und ist unterlegt mit Piano und klagendem Saxophon. Ein würdiger Abschluss für ein großes Album!
Autor: Sebastian Wilken