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Yngve Guddal und Roger T. Matte: Genesis For Two Grand Pianos – CD Rezension
Ein buchstäblich beflügelndes Musikerlebnis verspricht eine neuartige CD-Veröffentlichung aus Norwegen: Genesis für zwei Flügel lautet die pragmatische Bezeichnung für ein Projekt aus den Jahren 1999 und 2000, das zu Jahresbeginn 2002 veröffentlicht wurde.
Ein buchstäblich beflügelndes Musikerlebnis verspricht eine neuartige CD-Veröffentlichung aus Norwegen: Genesis für zwei Flügel lautet die pragmatische Bezeichnung für ein Projekt aus den Jahren 1999 und 2000, das zu Jahresbeginn 2002 veröffentlicht wurde. Neben mehr und weniger guten Genesis-Coverbands, die auch CDs veröffentlichten, hatte es bekanntlich in den vergangenen zehn Jahren auch diverse Genesis-Tribute-CD-Projekte gegeben, zum Beispiel in Italien und den USA, bei denen im Unterschied zu den meisten Coverbands nicht immer versucht wurde, die Musik originalgetreu zu reproduzieren, sondern stilistische Veränderungen vorzunehmen. Dabei wurde aber, von einzelnen Aufnahmen abgesehen, das herkömmliche Instrumentarium der Rockmusik in der Regel beibehalten, elektrische und elektronische Instrumente waren stets vertreten.
Einige kreative Köpfe wagten es, den kompositorischen Gehalt der Genesis-Kreationen auf Instrumente zu übertragen, die nicht zur Hauptausrüstung in der Rock-Sparte zählen. Man entsinnt sich beispielsweise noch gerne David Palmers und seines Projektes mit dem London Symphony Orchestra von 1987. In diese Rubrik gehören auch die mittlerweile schon legendären Live-Acts bei den it-Clubtagen.
Einen Schritt weiter gingen nun Yngve Guddal, Tontechniker an der Norwegischen Musikhochschule (Norges musikkhøgskole, NMH), und Roger T. Matte. Sie arrangierten die Musik nicht nur für zwei Klaviere, sondern nahmen die Arrangements auch professionell, zudem „live“, also ohne Overdubs, auf zwei Steinway-Flügeln, Modell D, auf und veröffentlichten sie auf CD. „Echte“, also mechanische Klaviere sind der musikalischen Rubrik, der Genesis für gewöhnlich zugeordnet wird, zwar nicht fremd, aber insbesondere bei Tourneen werden sie meist durch elektronische Instrumente ersetzt. Die sogenannte „klassische“ Musik hingegen kommt seit Mitte des 18. Jahrhunderts ohne das Klavier nicht mehr aus. Zum einen ist die Literatur für dieses Instrument so vielfältig und großenteils überaus hörenswert, zum andern ist das Klavier ein wichtiger Gebrauchsgegenstand: Sowohl im musikalischen Unterricht als auch bei der Komposition und beim Einstudieren zum Beispiel von Chor- und Orchesterliteratur ist es kaum wegzudenken. Dabei werden – häufig auch von den Komponisten selbst – so genannte Klavierauszüge von Orchesterwerken und dergleichen angefertigt, die das Spielen des Werkes mit allen wesentlichen musikalischen Elementen (außer dem tatsächlich gewünschten Klangvolumen und den Klangfarben) ermöglichen. Doch nicht nur, weil man hier mit zwei Händen sehr vielschichtige Klanggewebe erzeugen kann, bietet sich dieses praktische Instrument für die Wiedergabe der Essenz komplex arrangierter Kompositionen an. Nein, auch seine Klangeigenschaften ermöglichen es dem menschlichen Ohr, die einzelnen Töne und Harmonien herauszuhören und das ganze als transparentes Klanggebilde zu erfahren. Dies rührt sicherlich daher, dass beim Klavier jeder Ton dem darauffolgenden sofort den ihm gebührenden Platz einräumt, indem er sofort zu verklingen beginnt. Auch das Projekt von Guddal und Matte verbindet die guten Eigenschaften eines Klavierauszuges mit der konzertanten Brillanz des Klaviers oder vielmehr zweier Klaviere, denn man wollte offenbar, wie im Laufe des Albums immer wieder festzustellen ist, nahezu alles mögliche einfangen, was da an Melodien, Harmonien, Kontrapunkten und rhythmischen Impulsen in den Original-Tracks kreucht und fleucht, und dazu wären zehn Finger einfach zu wenige gewesen. Die Auswahl von sechs Stücken umfasst den Zeitraum von Nursery Cryme bis zur Duke-Periode, also in etwa die zehn konzentriertesten Jahre im Schaffen der Gruppe. Zwei der Titel, One For The Vine und Evidence Of Autumn, entstammen der Feder von Tony Banks, der sie auch klavier-basiert schrieb, die übrigen vier wurden von der Band gemeinsam erarbeitet. Die Reihenfolge auf der CD entspricht der chronologischen Reihenfolge der Veröffentlichung. Die Eröffnung macht The Fountain Of Salmacis. Musikalisch erfreulich detailgetreu, gibt das Arrangement sein bestes, um den Zuhörer auch ohne Mike Rutherfords Lyrics in den griechischen Sagenwald zu entführen.
Zwei Schwachstellen sind anzumerken: An der Stelle: „Where are you my father …“/“Then he could go no farther …“ und den späteren Parallelstellen ist die Melodie mit süßlichen Sexten harmonisiert, was dem Original nicht entspricht und den Stil (der bei einem Klavierauszug und in der Regel auch bei den Arrangements Guddals und Mattes erhalten bleibt) ins Kitschige hinabzureißen droht. Die Stellen „Away from me cold-blooded woman …“ und „Nothing will cause us to part …“ wirken außerdem in Tonsatz, Rhythmik und Phrasierung sehr unsicher; diesem dramaturgischen Angelpunkt der Geschichte hätte man besser gerecht werden müssen. Ein großes Lob muss für Can-Utility And The Coastliners ausgesprochen werden. Die Herausforderungen der Dynamik und wechselnden Atmosphären werden tadellos gemeistert, wenn auch die Wellen der See geglätteter wirken als im Original. Letzteres liegt an dem Klangfarben-Spektrum der Klaviere, das gegenüber dem einer Band wie Genesis doch ziemlich eingeschränkt ist. Auch ist spieltechnisch bedingt und unter Verzicht auf tontechnische Eingriffe die dynamische Bandbreite nicht sonderlich groß. Anders als diese beiden Stücke erzeugt One For The Vine keine so große Lust auf wiederholtes Anhören. Die Darbietung wirkt streckenweise sehr müde. Das Arrangement nutzt die Möglichkeiten, mit zwei Klavieren den gesamten Klangfülle des Originals auszuschöpfen, nicht aus, der mittlere Frequenzbereich ist überbelegt. Nicht sehr gelungen ist der Teil nach „… he talked with water and then with vine“: Die Süße, die Salmacis und Duke im Übermaß haben, fehlt hier, zum Beispiel in Form von Oktavverdopplung der Melodie; obendrein wurde eine überflüssige Wiederholung dieses schwachen Abschnitts eingebaut. Im Anschluss wird man sofort entlohnt, denn in der nun folgenden Sektion (nach der zweiten von drei Erscheinungen des Einleitungsthemas) hat man sehr fantasievoll die Perkussionsinstrumente reproduziert. Eine echte Bereicherung erfährt Down And Out durch das Piano-Arrangement. Der stellenweise unscharfe Klangfilm David Hentschels (Produzent des Originals) erhält bei sparsamem Pedaleinsatz deutlichere Strukturen, und bei konstantem Tempo ist es wohl das Stück mit dem meisten „Drive“ auf dieser CD. Wahrlich entzückend sind die filigrane Ausarbeitung des Keyboard-Intros wie auch die Übertragung des E-Gitarrensolos.
Eine weniger glückliche Wahl war Duke’s Tavels. Denn es lebt nun einmal von den rhythmischen Klanggeflechten, die das Schlagzeug bereitstellt, und die können nur unzureichend ins Klavierspiel integriert werden, da man noch genügend anderes Wichtiges zu tun hat. Die Einleitung des Stückes wurde gleich weggelassen, obwohl ein interessantes Äquivalent auf den Klavieren gut vorstellbar wäre. Und ohne Duke’s End hat das Stück leider auch keinen angemessenen Schluss. Und dazwischen? Dazwischen leidet vor allem der Part, der im Original mit dem Guide Vocal-Text unterlegt ist und fieberhaft dem Höhepunkt entgegenstrebt, an Unterkühlung und Lähmungserscheinungen. Und wie schon bei Salmacisschmecken die Keyboardsoli zu süßlich. Die Wahl von Evidence Of Autumn bezeugt wie schon One For The Vine die Verehrung für Tony Banks, dem die CD gewidmet ist. Das Arrangement wird dem Song im großen und ganzen gerecht. Etwas mehr Emotion hätte man in die kräftigeren Forte-Passagen legen können. Das Original wurde an manchen Stellen bewusst abgeändert, indem man geschmackvolle, aber unnötige Überleitungstakte einbaute, die den Hörer schonmal darauf vorbereiten, dass nun ein neuer Teil kommt. So stellt der „Herbst“ einen dezenten Schlusspunkt dieses Albums dar.
Im Sommer 2002 wurde Genesis For Two Grand Pianos bei Camino Records neu aufgelegt mit einer zusätzlich an zweiter Stelle eingeschobenen Aufnahme von Mad Man Moon, bekanntlich ebenfalls einem Banks-Stück. Während auch hier 95 Prozent des Arrangements keinerlei Tadel verdienen und der Mittelteil eine kleine Meisterleistung darstellt, trifft für den (im Original gesungenen) Melodieteil zu, was auch bei den sechs anderen Aufnahmen mal mehr, mal weniger stört: Er ist oft zu plump, als monodische Aneinanderkettung oder, besser gesagt, Nebeneinanderstellung von Tönen wiedergegeben. Was mit der vielseitigen menschlichen Stimme möglich und von dem nicht ganz so vielseitigen (wenn auch vielsaitigen) Klavier nicht imitierbar ist, müsste durch Verzierungen, Einsatz der Pedale und bewusstere Artikulation und Phrasierung der Melodie im Klavierarrangement kompensiert werden. Mad Man Moon kann man auch von der Camino-Records-Website laden (6,81 MB), was insbesondere denjenigen entgegenkommt, die bereits die Erstauflage erworben haben. Trotz kleiner Schönheitsfehler ist dieses erste Werk seiner Art, bei dem Genesis-Musik für Klavier bearbeitet wird, gut gelungen und empfiehlt sich zur Nachahmung. Ein besonderes Erlebnis wären Live-Darbietungen dieser und vergleichbar guter Arrangements – man sollte darauf hinwirken bzw. danach Ausschau halten.
Auch die Gestaltung der CD-Hülle mit nur 4-seitigem Booklet ist mehr als nur erwähnenswert. Nachdem ursprünglich ein anderes Front-Cover geplant war (mit etwas anderem CD-Titel), kann man nun ein neues Gemälde von Paul Whitehead bestaunen, der ja bereits die Genesis-Alben Trespass, Nursery Cryme und Foxtrot sowie die it-Fanclub-CD It’s Only Knock And Knowall gestaltet hatte. Die Rückseite der CD-Hülle wirbt mit zwei lobenden Zitaten aus dem Progressive-Rock-Magazin Tarkus und von Thomas Holter (norwegische Genesis-Website The Path). Die Zweitveröffentlichung zitiert außerdem lobende Worte von Steve Hackett, der den Interpretationen seine Anerkennung zollt und durch die Arrangements an Werke Strawinskis für zwei Klaviere erinnert wird. Die innere Doppelseite des Booklets bildet die Fotografie mehrerer Notenblätter, zweier Polaroid-Fotos (das Haus, in dem die Arrangements erarbeitet wurden, und ein Klavier in diesem Haus), der CD-Cover von A Trick Of The Tail(Genesis) und Still (Tony Banks), eines (nachträglich ins Foto montierten?) Kärtchens mit den Credits sowie eines Bleistifts, eines Radiergummis und einer halbgeschälten Mandarine. Schaut man sich die acht Notenblätter genauer an oder zumindest die fünf, auf denen wenigstens ein Stück Notentext erkennbar ist, so bemerkt man, dass es sich um Notationen der auf der CD vertretenen Genesis-Werke handelt: Das mit „One“ überschriebene Blatt offenbart die Abschnitte „Then one whose faith had died … on to a wilderness of ice“ bzw. „Simple were the folk … kings on this world“ und „Follow me! I’ll play …“ aus One For The Vine. Vom Trick-Cover wird der Notentext zu Can-Utility verdeckt, und zwar der Instrumentalteil zwischen „… where offerings fell, where they fell …“ und „Nothing can my peace destroy …“. Unter der Mandarine verbirgt sich ein Band-Arrangement von Salmacis. Die Bleistift-Spitze zeigt auf das Blatt mit dem Anfang von Duke’s Travels. Der Rest sei der analytischen Begabung oder der Fantasie des CD-Käufers anheimgestellt …
Autor: Andreas Lauer