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The Musical Box – Die Band, The Lamb und Italien – eine Analyse

Zum ersten Mal seit 30 Jahre The Lamb Lies Down On Broadway…die Konzerte, die Besonderheiten Italiens im Zusammenhang mit The Lamb und die Musik werden hier näher beleuchtet.

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Nun können wir nachholen, wovon wir vor zehn Jahren nicht einmal
zu träumen wagten, für immer dazu verdammt, dieses sagenhafte,
wahnsinnige Gesamtkunstwerk nur aus Erzählungen der Glücklichen oder aus
zweiter Hand kennen lernen zu können. Bei Musical Box ist nichts aus
zweiter Hand, es ist ein Artrock-Festschmaus, so etwa wie einen ganzen
Tag im Louvre nur die Mona Lisa zu betrachten oder in Roms Sixtinischer
Kapelle Michelangelos Deckengemälde. In Mailand drängt sich noch ein
anderer Vergleich auf, der mit der Betrachtung der Scala auf dem
Domplatz. Aber die Lamb-Show
ist gleichzeitig mehr als nur eines der großen Kunstwerke der
Menschheit, und zwar weil sie mehrdimensional ist, ein Zusammenwirken
mehrerer Kunstformen, die erst durch ihre Kombination zu ihrer vollen
Entfaltung drängen.

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Nehmen wir nur, und das muss angesichts der zentralen Bedeutung
für die Bühnenchoreographie hier gebührend gewürdigt werden, die
Dia-Sequenzen dieser Show: es ist eine bereits untergegangene Technik,
die Dia-Serie, Vorgängerin des Videos und Anfang der achtziger Jahre vom
Video bereits verdrängt (so wie die VHS-Videos heute von der DVD
verdrängt werden). Aber Mitte der siebziger Jahre waren Diaserien uns
allen vertraut, die Lehrer und Lehrerinnen benutzten sie in der Schule,
politische Vorträge waren in der Regel begleitet von Diaserien, deren
Projektoren uns regelmäßig einen Streich spielten. Wohl niemals vor oder
nachher ist die Diaserie so zentral in eine Bühnenchoreographie eines
Konzertes eingeflochten gewesen wie bei Lamb,
eine ganz eigene Kunstform, mit drei parallel laufenden Diaserien auf
drei Projektionsflächen, erhoben über dem Bühnenaufbau, um die Inhalte
der einzelnen Stücke mit Bildsequenzen zu illustrieren. Und wie später
beim Videoclip hat Gabriel hier alle ästhetischen Möglichkeiten
ausgelotet und bis ans Ende verfolgt! Die Diasequenzen zeigen manchmal
drei unterschiedliche Bilder; manchmal alle drei dasselbe Bild; manchmal
wechseln sie nur ein Detail und es folgt eine Sequenz, die sich wie ein
kleiner Film weiterentwickelt; manchmal erfolgen schroffe Bildsprünge.
Mal werden nacheinander ein, zwei Projektionsflächen ausgeschaltet und
nur eine bleibt übrig. Mal werden die Projektionsflächen durch Auftritte
von Gabriel-Rael-Denis – das ist besonders genial – hinter der Bühne
zum Schattenspiel benutzt, etwa beim Auftritt des Todes, der anfangs zu Here Comes The Supernatural Anaesthetist einen Schattenspiel-Tanz aufführt.

Die Dia-Bilder wirken nur im Gesamtzusammenhang der Show,
deshalb der Rat an alle Konzertbesucher: nehmt so weit wie möglich in
der Mitte Platz, um den Eindruck, den die Dias zusammen mit dem
Bühnenaufbau und der Lightshow hinterlassen, so uneingeschränkt wie
möglich mitzubekommen. The Lamb
ist ein Sinnengewitter, wie schon die Studio-LP immer wieder neue
Entdeckungen ermöglicht, je öfter man sie hört, so müssten wir diese
Show wohl über 100mal sehen, einerseits um alle Dias wirklich
aufzunehmen und zu würdigen, andererseits würden wir immer noch Neues
und bisher Ungesehenes entdecken. Die Bildüberflutung, die auf den
Betrachter einstürmt und den Eindruck erzeugt, das alles bewusst gar
nicht aufnehmen zu können, ist allerdings gewollt und bereits ein
Kunststilmittel des Surrealismus: die Dias sollen im Unterbewusstsein
wirken, der Sinnesrausch ist Stilmittel. Dazu muss wohl etwas weiter
ausgeholt werden. Die Dias selbst, das wird beim Betrachten erst
deutlich, haben nämlich drei Dimensionen, die sich in verschiedene
Kunstströmungen aufteilen lassen: erstens Realismus, zweitens
Surrealismus, drittens Situationismus. Alle drei Kunstströmungen wurden
von linken Intellektuellen in der Zeit nach 1968 benutzt und
durcheinander gewürfelt. Beim Betrachten der Dias fallen mancherorts
Parallelen zu den frühen Filmen von Monty Phyton auf. Zunächst zum
Realismus, das ist natürlich die Paradeanwendung der Photographie
überhaupt, das Photo ist der Inbegriff der realistischen Kunstform.
Genesis hatten bei The Lamb
durch die Story eines New Yorker Immigranten aus Puerto Rico viel mehr
Realitätsbezug als bei ihren eher antiken, mystischen (trotzdem
natürlich wunderschönen und auch eine Idee transportierenden)
Geschichten vorher (allerdings auch schon durchsetzt durch Realismus wie
bei Foxtrots Get ‚Em Out By Friday oder beißenden Zynismus wie bei Sellings The Battle Of Epping Forest). Die Dias beim Eröffnungssong The Lamb Lies Down On Broadway, bei Back In NYC und bei The Light Dies Down…
zeigen immer wieder realistische Sequenzen von den Elendsvierteln und
dem Alltag der kleinen Leute in New York, keine Mythen mehr, sondern
harte soziale Realität. Rael ist damals schon ein verfrüht
daherkommender Punk (in gewisser Weise auch „ohne Zukunft“, zumindest zu
Beginn, nicht am Ende!); leider hat das die Punk-Generation nur drei
Jahre später längst wieder vergessen, auch Szenen von Straßenschlachten
der Jugend- und Studentenbewegung mit der Polizei, für Italien damals in
den frühen siebziger Jahren wohlbekannt. Damals fand ja nur ein Konzert
in Turin statt, der Rest wurde wegen „politischer Unruhen“ abgesagt,
äußerst sinnig von heute aus betrachtet, und das passt zum Stück, denn
Raels Herkunft bildet diese Realität politischer Unruhen ab, und das
spiegelt sich in der Kostümierung Raels als Streetfighter ebenso wie in
den Dias. Zweitens Surrealismus, die erste Übersteigerung des Realismus.
Der Surrealismus entstand in Frankreich in den zwanziger Jahren,
wichtigster Theoretiker war André Breton, sicher bekanntester
surrealistischer Maler war Dali. Viele Dias bei Lamb transportieren surrealistische Motive, die nackten Frauen mit eingekreisten erogenen Zonen bei Counting Out Time, die Bilder zu The Lamia,
und im zweiten Teil der Show kommen weitere Sequenzen mit
dali-ähnlichen Abbildungen oder sogar Dali-Bildern selbst vor. Der
Surrealismus, von dem Gabriel ganz sicher schon bei seinen Texten
beeinflusst war (neben C.G. Jung), vertrat die Befreiung des
Unterbewussten: durch Konvention und repressive Erziehung seien die
Wünsche ins Unterbewusste verdrängt und müssten unentstellt durch
rationale Erwägungen (die nur die repressive Ideologie wiederspiegeln)
wieder ausgedrückt werden, das sei Befreiung. Das ist natürlich eine
etwas zu einfache Ideologie, weil sie letztlich darauf hinausläuft, dass
gesagt wird, alle Gefühlsausbrüche sind gut und prima, weil die
verdrängten Wünsche endlich an die Oberfläche kommen, Hauptsache, sie
sind authentisch. Dass auch im Unterbewussten Probleme angehäuft sind,
dass das Unterbewusste nicht per se emanzipativ ist, haben die
Surrealisten nicht sehen wollen oder abgewehrt. Sie hatten Techniken,
das Unterbewusste unbeeinflusst hervorzuholen, ein surrealistischer
Maler z.B. durfte sich keine rationale Zielvorstellung vom Endbild
machen, er musste losmalen, ohne groß nachzudenken, so werde das
Unbewusste im Kunstergebnis zum Ausdruck kommen. Ähnlich bei André
Breton das „automatische Schreiben“: er schrieb Poesie ohne
nachzudenken, möglichst schnell in die Tasten hauen, was das
Unterbewusste uns vorgibt. Ein bisschen hat Gabriel im Chaos der
Aufnahmen zu Lamb und seiner Privatprobleme wohl auch automatisches Schreiben betrieben, als er in fieberhafter Eile die Texte zu Lamb
schrieb. Was heute so genial, überlegt und poetisch klingt, sind ja
Textzeilen, die zum Teil in totaler Eile entstanden. Aber darin sieht
ein Surrealist keinen Widerspruch: das ist ganz im Sinne des
Surrealismus, es wurden sogar Maler oder Lyriker aus der
surrealistischen Bewegung ausgeschlossen, die zuviel nachdachten, zu
lange brauchten oder deren Produkte zu „rational“ oder auch zu sehr
Realismus, Abbild der Wirklichkeit und nicht der Träume, des
Unterbewussten, der Wünsche waren. Deswegen sind surreale Bilder immer
ganz anders als realistische. So sind viele Dias in der Show im Grunde
surrealistische Gemälde, Traumerlebnisse, ungefilterte Wünsche des
Unterbewussten (wie bei Dali). Die Ambivalenz des Surrealismus kommt bei
den Diasequenzen von Counting Out Time
gut zum Ausdruck: verschiedene Bilder zeigen Nacktszenen von Frauen,
bis hin zur Vulva, typisch für den Surrealismus, denn unterdrückte
Sexualität war eines der Hauptthemen des Surrealismus, aus heutiger
Sicht kann mann (und frau) das auch typisch patriarchal nennen, denn die
meisten surrealistischen Theoretiker waren Männer und wenn sie über ihr
unterdrücktes Unterbewusstes nachdachten, kamen sie natürlich auf
Bilder nackter Frauen. Aber Gabriel blieb dabei auch nicht stehen (ich
unterstelle jetzt, dass Gabriel bei der Auswahl der Dias natürlich ein
gehöriges Wort mitsprach!), bei Counting Out Time
werden diese Patriarchalismen in den Diasequenzen auf mehreren Ebenen
transzendiert: einmal sind die „erogenous zones“ ja überall auf dem
weiblichen Körper, nicht nur im Genitalbereich, die Botschaft ist also:
der ganze Körper ist eine erogene Zone, es geht um eine ganz neue
Sexualitätserfahrung, weiter gedacht wird durch die Dias sogar gesagt:
erogene Zonen finden sich überall im Leben, insofern ist der Text,
verstärkt durch die Dias sogar ein Vorgriff auf It, auf die utopische Verwirklichung des Glücks (It, das sich auch in allen Dingen, Wesen und Menschen wieder findet!) am Ende von The Lamb.
Diesen Vorgriff realisieren die Dias durch das dritte Stilmittel: den
Situationismus. Der Situationismus entstand in den fünfziger Jahren in
Frankreich, an den Universitäten von Straßburg und Paris, wichtigster
Theoretiker: Guy Debord. Die situationistischen Dias sind daran zu
erkennen, dass sie im Grunde konservative Fotos sind, die aber dadurch,
dass sie in der Show in einen anderen Kontext (in eine andere
„Situation“, daher der Name dieser Kunstrichtung) gestellt werden, eine
Spannung aufbauen und zu neuen Interpretationen einladen. Bei Counting Out Time
tauchen zum Beispiel zwischen realistischen und surrealistischen Dias
plötzlich Fotos von klischeehaft lächelnden Paaren, konservativ
angezogen, aus den biederen fünfziger Jahren auf, die durch die sexuelle
Revolution der 68er ja gerade überwunden werden sollten. Sie lachen
aufdringlich, stehen aber in einem anderen Kontext und sagen dadurch,
dass sich die Vorstellung dessen, was eine glückliche Erfahrung ist,
gewandelt hat. Aber selbst Counting Out Time
ist ja in seiner inhaltlichen Aussage mehrfach ambivalent: der
surrealistische männliche Blick auf die erogenen weiblichen Zonen wird
gebrochen dadurch, dass die „Mistress“ dem Rael „unexpected distress“
verursacht („I’m a red-blooded male and the book said I could not
fail“), hier wird also schon der Protest der Frauenbewegung
eingeflochten, nicht nur sexuelles Objekt für die durch den Surrealismus
losgelassenen Obsessionen der Männer sein zu wollen. Auch die
Selbstironie und die Satire des Songs lassen zugleich die Lächerlichkeit
ahnen, Frauen nur als Sexualobjekte zu betrachten. Das ist nicht die
definitive Botschaft des Songs, sondern nur eine mögliche
Interpretation, zu der die Diasequenzen und der grundsätzlich offene
Textcharakter des Songs einladen. Solche Interpretationen sind natürlich
immer subjektiv. Im Konzert arbeiten die Dias oft mit diesen
situationistischen Stilmitteln, zum Beispiel geliehen aus Comics oder
Collagen. Die erogenen Zonen werden in den Dias zum Beispiel durch einen
papiernen, gezeichneten Fingerzeig verdeutlicht, so etwa wie ihn Monty
Phyton in ihren ersten Filmen immer wieder eingesetzt haben – ein
eindeutig situationistisches Stilmittel.

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Das ist nur ein Beispiel dafür, wie viel in diesen
Diasequenzen drinsteckt, nur am Beispiel eines Songs ein wenig vertieft,
aber das Wahnsinnige an The Lamb
ist, dass solche Überlegungen für alle Songs angestellt werden könnten,
was den Rahmen eines Konzertberichts dieses Überereignisses wahrlich
sprengen würde. Zurück also zum Ausgangspunkt Mailand und Turin.

In beiden Konzerten und angesichts der kunstvollen Gestaltung
der Dias wird klar, warum es gerade die Studenten in den
oberitalienischen Städten wie Mailand und Turin waren, die Genesis ab
1971 entdeckten und in ihrer Musik ein Abbild ihrer intellektuellen –
und vielleicht sogar politischen Entwicklung (die heiße Terrorphase von
links kam erst später) sahen. Die Städte waren Zentren der italienischen
Studentenbewegung, die Anfang der siebziger Jahre längst nicht zu Ende
war, was die Absage der Lamb-Konzerte
angesichts „politischer Unruhen“ ja gerade nahe legt. Diese
Studenten-Generation, radikal kunstinteressiert, aber interessiert an
revolutionärer Kunst, die ihren Erfahrungshorizont erweitert und in
Beziehung zu sozialen Problemen setzt, hat sich gerade für diese Musik
interessiert, von wegen Genesis als Mittelklasseband, wie ein beliebtes
Vorurteil der Musikpresse lautet, das schon immer ganz besonders blöde
war: Herkunft sagt gar nichts, auch Marx kam aus der Mittelklasse!
Insofern ist The Lamb natürlich
auch ein Vorgriff auf den Menschenrechtsagitator Peter Gabriel, auf den
Unterstützer von Amnesty International, auf den mit bedrohten
GewerkschafterInnen in der „Dritten Welt“ solidarischen Gründer von
Videowatch, auf den Begründer der Worldmusic, der sein Studio
mittellosen AfrikanerInnen kostenlos zur Verfügung stellt. Frage: wenn
der Einfluss des Surrealismus und des Situationismus so stark war, wieso
Oberitalien und nicht Frankreich, wo diese Kunstrichtungen herkamen?
Versuch einer ersten Antwort: der Mai 68 in Frankreich wurde viel
abrupter durch Repression beendet als in Italien, wo Revolten und
Aufstände die gesamten siebziger Jahre prägten und der 68er-Impuls
weiterging in immer neue Bewegungen: in Mailand und Turin entstanden
damals unter StudentInnen etwa die „Autonomia Operaia“, die autonome
Bewegung, in Italien aber enger verbunden mit Arbeiteraktionen bei
Fiat/Turin, als das bei der autonomen Bewegung in der BRD jemals der
Fall war… Wenn man noch heute durch Mailand und Turin wandert oder mit
dem Bus die Stadt durchquert, wird auch klar, warum. Im Januar 2005
bieten diese Städte ein tristes Bild, eine Dunstglocke hängt bedrohlich
über dem Stadtkern, die Architektur so unitalienisch klobig und
hässlich, mit großen Ausfallstraßen und unwirtlichen Wohnsilos überall.
Kein Wunder, dass jeder Tourist die oberitalienischen Städte großräumig
umfährt. Stressig, dort zu leben, lädt die Tristesse tatsächlich ein zur
permanenten Revolte.

Autor: fang