1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 32 Minuten

Peter Gabriel – UP – Album Rezension

Peter Gabriels neues Studioalbum von 2002 wurde mit hohen Erwartungen belastet – nicht zuletzt auf Grund der zehnjährigen Produktionszeit. Karin Woywod analysiert das Album und verrät, ob sich das Warten gelohnt hat.

„This is going to be unlike any previous Gabriel album.“ – Radio Real World, 1996

OVO doesn’t work on its own as an album. Isn’t very satisfying. Probably because it’s not personal enough. It’s too universal. And the Peter we kind of love is the Peter that is expressing his inner passions.“ – Spencer Bright, September 2001

Kaum hatte sich Peter Gabriel nach dem letzten Gig der Secret-World-Tour, dem Woodstock-Festival 1994, ins heimische Studio zurückgezogen, richteten sich die Augen der Fans in aller Welt kontinuierlich nach Box. Die Frage, die heute wahrscheinlich den meisten von uns auf den Lippen brennt, lautet : „Mein Gott – acht lange Jahre! – War es das Warten wert?“ – Oh ja, das war es, und es wäre sogar noch eine viel längere Wartezeit wert gewesen: Peter Gabriel hat mit UP ein Meisterwerk abgeliefert!

Kennt Ihr dieses Gefühl, wenn ein Album trotz der Variationen in den Songs irgendwie eine Einheit bildet, eine eigene Welt? PETER GABRIEL 4 war so ein Album, SO ebenfalls, US hatte dieses Flair, und in UP taucht man wieder ein in eine ganz eigene Welt, aus der man mit dem atemberaubenden Crescendo von Signal To Noise und dem eher als Nachsatz gedachten The Drop entlassen wird, atemlos, und ganz schwindlig von der „Reise“.

Wie sieht diese Welt aus? Einige würden sagen „düster“, doch wo es Schatten gibt, gibt es auch Licht, ganz so wie in der Chiaroscuro-Malerei, die von den Hell-Dunkel-Kontrasten lebt. Nein, UP ist zwar introspektiv, aber durchaus auch energiegeladen. Das Verdienst von Peter Gabriel ist es gerade, dass er es schafft, selbst die leisen, melancholischen Songs in einer positiven Note enden zu lassen. Und so ist der Titel UP vielleicht gar nicht so unpassend, wie man zunächst meinen möchte: Es gibt durchaus so einige „uptempo“ (schnellere, lautere) Songs, und als „uplifting“ (positiv, fröhlich) entpuppt sich so manches Lied, dem man das am Anfang überhaupt nicht zugetraut hätte.

UP CoverWorum geht es? Peter Gabriel hat mittlerweile seine Lebensmitte überschritten und ist zudem gerade erneut Vater geworden, und naturgemäß kommt man da ins Nachdenken über das Leben, die Geburt, den Tod, alles was jenseits unserer eng begrenzten Erfahrenswelt liegt, über Urängste, über unseren Platz im Universum und unser Bestreben, unseren Weg zu finden. – Das klingt hochgestochen und langweilig? – Abwarten! Peter Gabriel ist eben kein Hochschuldozent im Philosophie-Diskurs, sondern durchaus in der Lage, diese Gefühlswelten durch die Poesie in seinen Lyrics, die verwendeten ungewöhnlichen Bilder und generellen Erfindungsreichtum in der Musik zu vermitteln. Man könnte sagen, die Saiten, die er anschlägt, klingen im Hörer noch lange nach.

„Ausreisser“ aus dem Generalthema: Während My Head Sounds Like That nur teilweise den oben erwähnten Themenkomplex streift – denn dort geht es um unsere Sinne und wie unsere Innenwelt und die Erfüllung in unserem Leben die Sinne beeinflusst – gibt es jedoch einen Song, der so überhaupt nicht mit dem Gesamtthema vereinbar zu sein scheint, es sei denn, man argumentiert, dass Barry Williams Show, übrigens genauso wie Signal To Noise, um unser Mitgefühl und damit um unsere „Positionierung“ unseren Mitmenschen gegenüber kreist – auf jeden Fall jedoch ist die erste Singleauskopplung Barry Williams Show so fies, dass man’s schon wieder gut findet.

A propos Singles und deren Themen: Hatte US noch einen Sledgehammer-Klon aufzuweisen, so sind es diesmal andere Themen, die die Single-Qualitäten ausmachen. – Oh, nicht dass ihr mich falsch versteht: Sex kommt durchaus vor, aber in sehr ungewöhnlichen Inkarnationen!

Was ist neu? Bis auf zwei kleine Ausnahmen agiert Peter Gabriel das allererste Mal in seiner Karriere als sein eigener Produzent. Nun ja, um ehrlich zu sein, hätte wohl auch kein Producer eine achtjährige Arbeit an einem Projekt mitgemacht. Studio-Techniker Dickie Chappell sagte 1996 : „Wir HABEN einen Producer! Es ist nur ein bisschen anders. [Peter] macht sich ganz gut, und es gibt ihm momentan mehr Flexibilität.“ Nur für die allerletzte Phase des Abmischens wurde Tchad Blake hinzugerufen und das Abmischen von I Grieve geschah unter Beteiligung von Stephen Hague als Produzent.

Neu und kennzeichnend für den neuen Stil von UP ist außerdem noch, dass Peter viel „mit der Gitarre herumgespielt hat“. Er spielt sie zwar nicht in konventioneller Weise, aber er manipuliert und sampelt die Sounds, die er aus ihr herauslockt. Einige Songs auf UP(zum Beispiel More Than This) sind sogar auf diese Art und Weise auf der Gitarre geschrieben worden.

Erste Erfahrungen mit dem Einsatz von Streichinstrumenten – hauptsächlich von Geigen – und deren Arrangement hat Peter Gabriel zwar schon auf OVO gesammelt, neu ist allerdings, dass er dieses Mal überwiegend allein für die gesamten Streicherarrangements, insbesondere die für Signal To Noise, verantwortlich war. Einige wenige Wochen standen ihm dabei noch Will Gregory und später Nick Ingman zur Seite, ansonsten war er dabei völlig auf sich allein gestellt.

Und neu auf diesem Album und ebenso hörbar ist außerdem noch, dass er sich im Zuge der Arbeiten für UP von seiner damaligen Studiotechnikerin [und heutigen Ehefrau – aber das ist eine andere Geschichte.] Meabh Flynn eine Sammlung von Percussion-Samples hat anlegen lassen, die es ihm ermöglichte, direkt von seinem Keyboard aus neue Grooves aus diesen perkussiven Elementen zu spielen. Außerdem wollte Peter, der „verhinderte Drummer“, der er nun mal ist, bei diesem Album den Percussions und den Drums besonders viel Raum geben, und deshalb finden sich neben ihm selbst (mal abgesehen von den Samples hat er diesmal sogar einige Tom-Toms gespielt!) ungewöhnlich viele Schlagzeuger und Perkussionisten auf dem Album. Diese Vielzahl von Perkussionselementen und Schlagzeugformen hört man denn auch heraus, teilweise sind sie herkömmlich eingespielt, teilweise klingen sie sehr ungewöhnlich und sind keinem konventionellen Instrument zuzuordnen.

Und wie ist die Musik? – Im wahrsten Sinne des Wortes „VIELSCHICHTIG“: Peter Gabriel hat weiß Gott genügend Zeit gehabt, um an diesem Album zu werkeln, und so sind die einzelnen Stücke sehr „dicht“ : sowohl atmosphärisch als auch die Instrumentation betreffend. UP überzeugt durch eine Vielzahl von musikalischen Elementen. Einige davon führen uns zurück zu all dem, was wir an Peter Gabriels Musik der späten Siebziger und frühen Achtziger so liebten (ungewöhnliche Soundeffekte und Instrumente, starke Rhythmen, und – was die Themen angeht – ungewöhnliche Perspektiven und Charaktäre, Menschen in Extremsituationen, Exkursionen in Innenwelten), andere sind total neu und zeitgemäß. Clubsounds“ sozusagen). Peter Gabriel ist stilmäßig im neuen Jahrtausend angekommen und vieles hat man so bei ihm noch nie gehört. Doch wie immer ist es sein ganz eigener Mix, und noch hat man Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie einer von den UP-Songs in Gänze von den DJs in den Clubs gespielt wird. Doch manche (Growing Up zum Beispiel) sind sehr nahe dran, und es bedarf vielleicht nur eines ganz winzigen Remixes, um dieses zu vollbringen! War US stilmäßig noch sehr stark eine Mischung aus SO und PASSION, so ist der Einfluss der Weltmusikelemente bei UP stark zurückgeschraubt. Statt die Exotik von Weltmusikklängen zu nutzen, setzt Peter Gabriel eher auf innovative Nutzung selbst erfundener Klänge und Samples, sowie auf männliche Gospelchöre, Blechorchester, und im Einzelfall sogar auf den konzentrierten Einsatz von Streichern! Ebenso wie die perkussiven Elemente und Peters eigene Gitarrenparts sind dabei viele der sonstigen Sounds, die man in den Liedern hört, derart manipuliert und elektronisch verfremdet, dass man deren Ursprung nicht mehr eindeutig ausmachen kann. Generell kann man sagen, dass sowohl für die Musik als auch für die Vocals gilt: an jeder Ecke dieses Albums lauert eine Überraschung. Und dennoch strahlt das Ganze diese Art Einheit aus, wie ein roter Faden, der sich durch das ganze Album zieht.

A propos Vocals – Was ist mit Peter Gabriels Stimme? Zunächst mal ist sie sehr oft stark in den Vordergrund gemixt, was das Ganze sehr persönlich wirken lässt. Außerdem hat Peter Gabriel überraschenderweise seine Stimmparts nicht so stark „ausgebügelt“, wie man das von ihm kennt. Vieles ist frisch und rau geblieben, mit allen stimmlichen Unzulänglichkeiten, die eben manchmal auftreten. Aber gerade das macht das Ganze so menschlich-gefühlvoll. Diese in den leisen Parts doch manchmal sehr zerbrechlich wirkende Stimme ist an anderen Stellen wieder ungeahnt volltönend oder aggressiv-kraftvoll-röhrend, teilweise technisch „ins ultra-Dreckige verfremdet“, es gibt emotionale „Schreie“ oder lang ausgezogene Noten wie beim Ende von I Grieve, es gibt klagende Laute à la Mercy Street, es gibt traurig-schöne Blues-Lieder, es gibt verfremdete Parts (versucht mal, „knarzend“ beim Einatmen statt beim Ausatmen zu sprechen oder zu singen), die einen an Moribund The Burgermeister oder Kiss That Frog denken lassen, es gibt Teile, wo er mit sich selber Harmonie oder zwei verschiedene Textteile „gegeneinander“ singt, usw., usw.. – Kein Wunder, dass Peter damals bei OVOgezwungen war, gleich mehrere Vokalisten mit an Bord zu nehmen: in den unteren Registern klingt er wie Richie Havens, aber dieser wäre wohl zu den Oberstimmen und Lauten nicht fähig, die Peter hier auf UP bringt!

Was uns zum Thema Auf UP vertretenes Personal bringt (diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da uns die Credits des Albums noch nicht vorlagen):

Peter Gabriel (Gesang, Keyboards, Klavier, „Gitarre“, Drums, Tom-Toms)
Daniel Lanois (Gitarre) [ Sky Blue]
Hossam Ramzy (Percussions)
Nusrat Fateh Ali Khan (Gesang)
Melanie Gabriel (Gesang)
The Blind Boys Of Alabama (Gesang)
David Rhodes (Gitarre)
Peter Green (Gitarre) [Sky Blue]
The London Session Orchestra (Geigen, Violas, Cellos, Kontrabass)
The Black Dyke Mills Band (Blechinstrumente) [ My Head Sounds Like That]
Tony Levin (Bass)
Danny Thompson (Kontrabass, Bass)
Ged Lynch (Percussions, Drums)
Mahut Dominique (Percussions)
Chris Hughes (Drums, Drum Loops)
Manu Katché (Drums)
Steve Gadd (Drums, Brushwork)
Dominic Greensmith (Drums, Tom-Toms)
Will White (Drums)
Babacar Faye (Djembes) [My Head Sounds Like That]
Assane Thiam (Talking Drum) [My Head Sounds Like That]

Themen, die sich durch das gesamte Album ziehen: Der Alternativtitel, den Peter Gabriel für dieses Album erwogen hatte, lautete I/O = Input / Output oder In & Out oder IO, der Jupitermond. Vielleicht wäre das im Nachhinein der passendere Titel gewesen, denn es geht um Innenwelten und unseren Platz in der Welt, es geht um Informationen, die unser Gehirn aufschnappt, ohne dass wir uns das rational erklären können, und ja, es geht sogar auch – um mit Uhrwerk Orange zu sprechen – um „das alte Rein-Raus-Spiel“. . . – Und das Mondthema findet sich zwar direkt im Album nicht wieder, wurde aber von Peter Gabriel im Vorfeld stark genutzt, mit seinem Full Moon Club auf www.petergabriel.com und dem auf „Vollmond“ umgemünzten „theoretischen Veröffentlichungsdatum“ 21. September. Und MOND und WASSER [siehe unten] sollen ihren Widerschein auch in der für Ende 2002 / Anfang 2003 angesetzten Tournee finden, wenn auch Näheres dazu noch nicht bekannt gegeben wurde.

Peter Gabriel 2002, by Arnold NewmanDas zweite Thema, das immer wieder auftaucht, ist das Element WASSER. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht ganz klar, ob Peter Gabriel es schafft, seine ursprünglichen Pläne in die Tat umzusetzen, das fertige Album zu Musikern in Südamerika, Ägypten, Indien etc. zu schicken, die dann alle ihre eigenen Versionen des Albums anfertigen sollen – die entsprechenden Resultate würden dann „Up The Orinoco“, „Up The Nile“, „Up The Ganges“ usw. heissen. Auf jeden Fall jedoch taucht das Element Wasser in fast jedem Song auf, und ähnlich wie bei Here Comes The Flood oder Red Rain steht das Wasser auch hier teilweise für emotionale Fluten. Es heißt „I know how to drown in sky blue“ oder „but this display of emotion is all but drowning me“ – also geht es im übertragenen Sinne ums Ertrinken -, es geht um das Unbekannte in Meerestiefen, es geht um Fruchtwasser und andere Körperflüssigkeiten, es geht um Wolken, um Weinen, um das Geräusch von fallenden Wassertropfen, um Momente, die einem wie Wasser durch die Finger zerrinnen, um Visionen von Unglücken auf hoher See, – oder ein Bild von einem samt Plastikbeutel voller Wasser fallengelassenen Goldfisch steht für die Zerbrechlichkeit des Lebens.

Das Element Wasser findet sich auch auf dem Cover wieder (falls es denn so bleibt, wie auf der uns vorliegenden Promo vorhanden). Vorder- und Rückseite basieren auf Schwarzweißfotos und sind in einem eher grauen Farbton gehalten. Auf der Vorderseite erkennt man im Vordergrund fünf einzelne Wassertropfen im freien Fall, schräg (diagonal) über die Bildoberfläche verteilt, und darunter irgendwelche unscharfen Schemen. Erst bei längerer Beschäftigung mit dem Cover wird deutlich (kleiner Tipp: den eigenen Kopf nach rechts neigen oder die Scheibe diagonal nach links ankippen), dass die Schemen in Wirklichkeit ein unscharfer (weil nicht im Brennpunkt der Kamera befindlicher), extremer Close-Up von Peters Gesicht sind und sich in den Wassertropfen auch noch mal – verzerrt und auf den Kopf gestellt, aber wenigstens scharf / im Focus – das Gesicht Peter Gabriels widerspiegelt. Also alles wie gehabt: kein Peter-Gabriel-Album ohne sein (mehr oder minder unkenntlich gemachtes, verstecktes) Gesicht auf dem Cover! Die Rückseite ist leichter erkennbar, dort „regnen“ die vereinzelten Wassertropfen, die an Tränen erinnern, auf seine Handfläche mit allen ihren „Lebenslinien“ usw..

Für die Coverfotos zeichnete übrigens die Künstlerin Susan Derges verantwortlich, die ähnliche Werke bereits seit den frühen 90er Jahren herstellt. In dem Fall hat also nicht Peter das Konzept für das Cover total allein erarbeitet, sondern er ist auf die bereits vorliegenden Arbeiten der Künstlerin aufmerksam geworden, und hat sich gedacht, dass ein ebensolches Foto mit ihm als Motiv gut zu dem Themen Wasser und „Innen und Außen“ und zu seiner üblichen Praxis passen würde, sein Gesicht auf dem Plattencover zu verstecken!

Vergleiche: Wenn man UP denn unbedingt mit früheren Werken vergleichen muss, so ist es von der vorherrschenden Atmosphäre her wohl am ehesten mit dem Lied Red Rain vergleichbar, der Stil ist eine Mischung aus allen bisherigen Studioalben Peter Gabriels mit der Red Planet-Soundtrack-Version von The Tower That Ate People, und die Reise durch Innenwelten und Lebensabschnitte erinnert sogar an das epische The Lamb Lies Down On Broadway!


Doch nun endlich zu den einzelnen Songs: Schon allein beim Betrachten der Songliste gibt es gleich zwei Überraschungen: Das lange für UP angekündigte Nocturnals ist nun doch nicht enthalten. Und betreffend I Grieve, bekannt vom City Of Angels-Soundtrack, war der letzte Stand der Dinge, dass es nicht auf UPlanden sollte, was nun aber doch geschehen ist. Diese Last-Minute-Entscheidungen (nicht, dass es nicht noch spätere „Latest“-Minute-Entscheidungen gegeben hätte) haben schon zu heftigen Diskussionen unter den Fans geführt, ob man dem „wirklich neuem“ Material wie Nocturnals nicht doch hätte den Vorzug geben sollen – aber es gibt ja immerhin noch die Möglichkeit, den Track auf B-Seiten oder ähnlichem unterzubringen. Generell kann man sagen, dass die Songauswahl mit den Fans bereits bekannten Songs I Grieve und Signal To Noise (schon im Konzert erprobt bei drei Gelegenheiten zwischen 1996 und 2001) etwas sehr „altlastig“ ist. Vielleicht wäre es besser gewesen, nach einer solch langen Wartezeit UP ausschließlich aus den Fans total unbekanntem Material zusammenzustellen und die bekannten Tracks auf das angeblich direkt nach der UP-Tour erscheinende zweite Album namens (- nun doch ! -) I/O zu verlegen.

Und die Songlängen sind (bis auf eine Ausnahme) erfreulicherweise alle zwischen 6 und 8 Minuten – da werden für die Radioausstrahlung wohl so einige Edits fällig sein.

UP besteht aus:

Darkness [06:49]

In diesem Song geht es um Urängste und Unsicherheiten, wie sie in der Kindheit, aber auch noch beim Erwachsenen auftreten. Da gibt es beispielsweise dieses unheimliche Haus tief in den Wäldern, kein Mensch weiß, welches Ungeheuer darin wohnt – Aussage des Songs ist: Wenn man seine Ängste und Phobien verdrängt und dem Objekt der Angst ständig aus dem Weg geht, werden sie nur noch umso stärker – nur wenn man seine Ängste akzeptiert und sich ihnen stellt, kann man mit ihnen leben.

Ganz dem Thema entsprechend gibt es in diesem Song die leise Stimme des Opfers der Angstattacken, das mit Vernunft versucht, die Ängste zu bewältigen und im starken Kontrast dazu die laute, verzerrte Stimme des „Monsters“ der Angst. Der erste Track des UP-Albums beginnt mit einem leise klopfenden Introrhythmus (ähnlich wie bei der Secret World-Tour das Intro zu Sledgehammer) – doch wer auf Grundlage dieser Töne die Lautstärke seiner HiFi-Anlage einstellt, hat schon verloren, denn kurz darauf zerreißt einem ein schreiend lauter, „fetter“, mehrschichtiger Gitarren- und Schlagzeugpart schier die Ohren. Dies ist im Übrigen signifikant für das ganze Album. Wie kein anderer versteht es Peter Gabriel auf UP, die leisen Töne mit den energiegeladenen abzuwechseln, und das Erstaunliche dabei: es passt dennoch alles zusammen und unterstützt die Aussagen der jeweiligen Songs!

Wie bei vielen Liedern auf UPwendet Peter Gabriel bei den leisen Parts Darkness‚ hier den Kunstgriff an, dass sie nur mit dem Gesang starten, und dann nach und nach mehr und mehr Instrumente eingeführt werden, von sparsamer Percussion über das Klavier zu Geigen und vereinzeltem Einsatz mehrstimmigen Gesangs.

Die lauten Parts sind wahre „Explosionen“ aus mehreren „elephantösen“ Schichten von teils brummenden, teils aufheulenden Gitarren, lautem Schlagzeug und einer elektronisch verfremdeten Stimme Peter Gabriels, die klingt, als sei sie durch einen Telefonhörer (And Through The Wire lässt grüßen) oder noch eher durch ein Megafon aufgenommen.

An der Stelle „lies curled up on the floor“ (03:09 im Song) setzt Peter Gabriel ein paar traurig-dissonante Piano-Akkorde, wie sie Tony Banks nicht besser hätte machen können.

Interessanterweise gibt es am Ende ein Vocoder-verzerrtes Lachen, das an dementsprechende Parts in Moribund The Burgermeister oder – künstlerübergreifend – in Genesis‘ Mama erinnert.

Growing Up [07:48]

„my ghost likes to travel so far in the unknown, my ghost likes to travel so deep into your space“

Hey! Ein Trance-Track! Erfrischend modern und clubtauglich! Und dabei geht es um ganz schön „schwere Kost“, nämlich um die sich ständig verändernde, fließende (- schon wieder so eine WASSER-Referenz!) Natur aller Dinge und darum, im Laufe seines Lebens seinen Platz zu finden, sowohl seinen Platz im Leben als auch in der Struktur des Universums! Passenderweise beginnt der Song gleich in der Gebärmutter und mit der Geburt, baut sich dann seine Welt aus Punkten auf (ein Punkt steht für an oder aus, für Sein oder Nichtsein, zwei Punkte für die Augen der Mutter, drei Punkte für Positionsbestimmung im Raum, vier Punkte für eine Ebene als Grundlage, um darauf aufzubauen), und führt über die Verbindung von „Innen“ und „Außen“ = SEX (!) schließlich bis an das Ende des Lebens, das jedoch nur für eine weitere Veränderung steht.

Musikmäßig erinnert Growing Up stark an die Trance-Elemente und leisen Passagen aus der RED-PLANET-Version von The Tower That Ate People. Wie noch auf anderen Stellen von UP gibt es in Growing Up eine Abfolge von leisen Parts mit rhythmusbetonten Parts. Der Song fängt ganz ungewöhnlich mit einem tieftönenden Cello an, danach setzt dann ein leiser, aber solider (wieder einmal ähnlich dem Secret-World-Live-Intro von Sledgehammer) Becken-Groove ein. Immer mehr Instrumente kommen hinzu, wellenartige Keyboards, Gitarrenzupfer, elephantöse Aufheuler, Radiointerferenzen, verzerrt hohe Hammondorgeltöne, vereinzelte „Pianotupfer“, abgedämpft-xylofonartige Klänge, etc., etc., etc. – musikalisch ein sehr reichhaltiger Track! Und extrem mitreißend und tanzbar – man ist kaum noch auf dem Stuhl zu halten, was unter anderem an der soliden Bassarbeit in diesem Lied liegt.

Höhepunkt ist übrigens die Stelle „on the floor, there’s a long wooden table.“ (circa 04:00 im Song), wo Peter zwei unabhängige Melodieteile (Strophe / Refrain) gegeneinander singt – einfach wunderschön!

Sky Blue [06:38]

Ein Blues! Selten hat Peter Gabriel soviel Soul in der Stimme gezeigt! Sky Blue erzählt davon, wie es ist, seinen Weg zu verlieren im Leben und in der Liebe und davon, in den unendlichen Weiten und der Verlassenheit der Natur zu versuchen, klarzukommen mit der eigenen Einsamkeit.

Sky Blueist einer der ältesten Songs auf dem Album. Bereits während der Arbeiten zu US begonnen, gewinnt das Lied viel durch die atmosphärischen Gitarren von Daniel Lanois und Peter Green (Fleetwood Mac). Und angesichts der Entstehungszeit ist es kein Wunder, dass Sky Blue starke klangliche und melodiöse Parallelen zu Lovetown aufweist. Daneben lässt einen die Melodie und der „Schmelz“ in Peters Stimme aber auch noch an ein langsames I Heard It Through The Grapevine denken.

Musikalisch webt der Track ein sparsames Gewebe aus „backwards“ abgespielter Gitarre, Orgelsounds, Maraccas, E-Gitarren, Piano, Bass und einem spät einsetzendem Schlagzeug, wobei die überwiegend „dumpf glucksende Percussion“ an Liquid Selves / das Ende von Fourteen Black Paintings erinnert. Sky Blue klingt ziemlich „rootsy“, was nicht nur an der ausdrucksvollen Stimme Peter Gabriels liegt, sondern auch an dem beeindruckenden Finale mit dem Gospel-Stimmen-Chorus der Blind Boys Of Alabama.

No Way Out [07:42]

Dieser Song geht um die Zerbrechlichkeit des Lebens und den Schock, den wir erleben, jemanden, dem wir nahe stehen, durch einen Unfall oder ein unerwartetes Ereignis im Sterben liegen zu sehen und letztendlich eventuell sogar zu verlieren.

No Way Out ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Bässen (neben „normalen“ Bässen auch ein akustischer Kontrabass!), ungewöhnlich tiefen, James-Bond-artigen Surf-Gitarrensounds und ein wahres Überangebot an Percussion und Schlagzeug (Chris Hughes, Steve Gadd, Manu Katché, Dominic Greensmith, sogar Peter selbst spielt einen Tom-Tom-Part!), das für einen interessanten Groove sorgt, der dem ganzen ein kraftvolles Grundgerüst verleiht. Peter Gabriel ist bekannt dafür, dass er bestimmte Themen musikalisch nicht so umsetzt, wie man es vom Thema her erwarten würde. Beispielsweise hatte er damals die Flugszene bei Birdy nicht mit sanften, schwebenden Klängen unterlegt, sondern mit kraftvollen, energiegeladenen. Und genauso ist No Way Out musikalisch nicht einfach nur ein stilles Trauerlied wie zum Beispiel die erste Hälfte von I Grieve, sondern ein kraftvoller Appell, fast schon ein fordernder Befehl an den Sterbenden, die Seinen nicht alleinzulassen. Es ist, als ob der Zusammenhalt in der Familie am Ende dem Sterbenden vielleicht doch noch genügend Energie geben könnte, „in unserer Welt“ zu bleiben. Dafür spricht auch die gegen Ende des Liedes zeitgleich [siehe unten] mit dem Refrain gesungene Strophe „your eyes are bright, your blood is warm, your heart is strong, you’re holding on, I feel your pulse, I hold your hand“. Und so entpuppt sich No Way Outam Ende als ein ziemlich positives Lied, eines, das zu Recht unter dem Schirm UPzusammengefasst ist.

An Soundelementen fallen neben den diversen „Tieftönern“ der „knarzende“ Introsound, „backwards“ abgespielte Gitarren, kraftvoll akzentuierte Klavierakkorde, hell strahlende, schwebende Keyboardhintergründe und klirrende „Übersteuerungssounds“ auf. Und auch hier [siehe oben] gibt es wieder eine Stelle (04:37 im Song), wo von Peter Gabriel zwei Melodieteile (Refrain und Vers) gegeneinander gesungen werden, was die Intensität sehr verstärkt.

I Grieve [07:24]

I Grieve war bereits vom City Of Angels-Soundtrack her bekannt, liegt hier allerdings in einer veränderten Version vor. Der Song ist 42 Sekunden kürzer geworden, dabei ist aber von den Strophen nichts weggefallen, sondern I Grieve wurde nur in den Instrumental-Intervallen gestrafft. Unter der Produktion von Stephen Hague und zusätzlichem „Programming“ von Tchad Blake wurden Extra-Instrumente (vor allem Perkussion-, Schlagzeug- und Gitarrenparts) eingespielt, erstmals erfährt der Song hier ein „Full-Band-Treatment“, was auch Peters Anlass für die Neubearbeitung war.

Bekannterweise behandelt I Grieve den Umgang mit der und die Verarbeitung von Trauer. Peter Gabriel wollte mit I Grieve ausdrücklich ein „emotionales Werkzeug“ zur Verarbeitung von Trauer und Verlustschmerz schaffen, ähnlich wie Don’t Give Up ein emotionales Werkzeug für Verzweifelte darstellte. Während die Ur-Version – obwohl auch hier schon die beiden gegensätzlichen Teile von unerträglichem Schmerz und positiver Rückkehr in das normale Leben vorhanden waren – eher still, leise und schwermütig daherkommt, legt die neue Version, die auf Wunsch von Peter ausdrücklich in die Richtung Phil Spector gehen sollte, eher den Schwerpunkt auf das Positive. Dazu trägt die Straffung bei, die neue Instrumentation, dass Peter mit der Stimme schon viel eher in die höheren Stimmlagen wechselt als bei der bekannten Version und dass die Lautstärke der von Peter gesungenen Harmonieparts zueinander verändert wurde.

Sehr positiv und wirkungsvoll ist auch, dass der Song schon kurz nach dem allerletzten, langgezogenen „I Grieve“ endet und nicht noch ewig lange instrumental nachklingt.

The Barry Williams Show [07:13]

Schnell, „funky“, furios und gnadenlos. Man könnte sagen, bei Barry Williams Show handelt es sich um eine bitterböse scharf-ätzende Satire, aber für eine Satire ist es noch viel zu nahe dran an der Wahrheit !

Barry Williams Showist thematisch zu vergleichen mit Genesis‘ Jesus He Knows Me, nur dass hier nicht die TV-Prediger, sondern die Talkshowhosts und die dort behandelten Themen aufs Korn genommen werden. Es geht um die Fragwürdigkeit von „Reality TV“ und dessen hämische Präsentation von Menschen und ihren äußerst intimen Problemen zur besten Sendezeit. In Amerika (wird auch in England ausgestrahlt) ist das Äquivalent zu unseren „Veras“, „Arabellas“ und „Bärbels“ männlich, 58-jährig, und heißt im Original Jerry Springer. Peter Gabriel spielt in diesem Song den – vollkommen fiktiven – „Barry Williams“ – dessen Name natürlich nur rein zufällig so ähnlich klingt wie „Jerry Springer“ – , einen rücksichtslosen Talkshowhost, der seine Gäste nur solange in Sicherheit wiegt, bis die Sendung losgeht, wo er sie dann mitleidlos „seziert“, auseinander nimmt und aufeinander hetzt. Die Themen seiner Show muten an wie aus dem menschlichen Kuriositätenkabinett – die Zurschaustellung von zerrütteten Verhältnissen und gestörter Persönlichkeiten, die eigentlich lieber unter Inanspruchnahme professioneller Hilfe im Privaten hätten geklärt werden sollen – Doch für Billy Williams zählt nur, dass genügend Sex und Skandal in seiner Show vorkommen, um die Einschaltquoten zu steigern. Zwischendurch von einer sehr viel jüngeren Nachfolgerin ausgebootet und aus seiner eigenen Show rausgeschmissen, plant Barry Williams „das finale Comeback“.

UP AnzeigeMusikmäßig ist Barry Williams Show eine Mischung aus Kiss That Frog und – dem Thema angemessen und höchst beabsichtigt – einem groß angelegten Samstagabendshow-Jingle. Virgin Deutschland nennt Barry Williams Show „unglaublich rockig“, aber das trifft die Spannbreite von Stilelementen in diesem Lied nur zum Teil. Es beginnt, harmlos genug, mit einem dumpf „quakenden“ Rhythmustrack, aber bald schon setzt dann diese „dreckige“ raue Stimme ein, die einen an die Stimme aus The Tower That Ate People erinnert. Nach und nach kommen dann Bass und irgendwie „gated“ abgeschnitten klingende E-Gitarre hinzu, die mit dazu beitragen, dass der Zuhörer schon bald keines der Glieder mehr still halten kann. Sehr eingängig ist dann natürlich auch der Refrain des Chors „Bab-Bab-Bab-Bab-Barry Williams Show“, so „cheesy“ und hart am Niveaulosen orientiert, dass er schon wieder gut ist. Daneben gibt es aber auch instrumentale Intervalle, „Auszeiten“ für Peters Stimme, in der neben dem Schlagzeug eine an Cantaloup von US3 oder an Herp Alpert erinnernde Trompete, weitere Varietäten (gestopfte?) desselben Instrumentes und Geigen eingesetzt werden. In diesem Song wimmelt es mal wieder von Soundeffekten, Keyboardeinsätzen, „Quak-Geräuschen“, Schnipseln von Kirmesorgel-Akkorden, E-Gitarrenparts, Beckenschlägen, Streichern, Schlagzeug etc., etc., etc. – was das Ganze ungeheuer reichhaltig macht. Die letzte Strophe, bevor dann die Mundharmonika (- wie gesagt, es erinnert an Kiss That Frog, insbesondere an dessen Secret-World-Live-Version! -) einsetzt, ist allerdings im Kontrast zu dem Vorhergehenden eher sparsamer instrumentiert (nur noch Geigen und später etwas Perkussion im Hintergrund) und in der Geschwindigkeit verlangsamt, was die Zeilen „the best TV you’ve ever seen […] just one more Barry Williams Show, we’re gonna take you where you want to go“ noch mal intensiviert. Peter Gabriel schlägt damit den Bogen zum Publikum vor den Bildschirmen und deren Anteil an der Verantwortung für diese mitleidlose Präsentation von sensationsheischenden Peinlichkeiten und Ausbrüchen.

My Head Sounds Like That [06:27]

Ruhig, getragen, reflektiv, introspektiv – mit eines der schönsten Lieder auf UP! Peter erwähnte im Jahre 2000 mal einen für UP geplanten Song namens Soft City, der zum Thema hatte, dass sich manchmal (zum Beispiel nach einem Schneefall) die Geräusche in einer Stadt total verändern, alles wird gedämpft und klingt ganz weich – und mit den Geräuschen verändern sich ebenfalls die Menschen der Stadt in ihrem Verhalten. Dieses Lied ist gewissermaßen der Umkehrschluss: Der Zustand unseres Gehirns beeinflusst die Art, wie wir Geräusche wahrnehmen. Das Lied behandelt den Effekt, dass in einem Moment der geistigen Betäubung und Orientierungslosigkeit – sowohl ganz profan durch einen Schlag gegen den Kopf hervorgerufen, als auch im übertragenen Sinne der Betäubung durch ein ereignisloses, leeres Alltagsleben – sich das Gehör verschärft, und einem die vielen kleinen Umgebungsgeräusche viel lauter erscheinen und auffallen. Im Interview vergleicht Peter Gabriel den Effekt mit jenem, der auftritt, wenn wir kurz davor sind, uns zu übergeben – auf einmal ist die Sensibilität für Gerüche aller Art enorm verschärft. Und was dieser Effekt für den Geruchssinn ist, ist der in My Head Sounds Like That beschriebene Effekt für unseren Gehörsinn.

Was die Musik und die Atmosphäre angeht, ist My Head Sounds Like That eine Mischung aus Me And My Teddy Bear, Flotsam And Jetsamund Strawberry Fields Forever(und dabei sind sowohl Peters 1976er Version dieses Liedes als auch generelle Beatles-Anklänge gemeint). Die eingangs erwähnte „Percussion Library“ kommt hier voll zum Tragen. Das sich in der Lautstärke langsam steigernde Intro besteht einerseits aus sanften Talking-Drum-Klopfern der senegalesischen Perkussionisten aus Youssou N’Dours Band, andererseits aber aus merkwürdigen, funksignalartigen, interferenzartigen Geräuschen, die im Studio ursprünglich per Zufall entstanden waren, als das Echogerät DL2 (nicht zu verwechseln mit R2-D2!) mal wieder einen Systemabsturz hatte. Doch neben den Geräuschen ist der Hauptteil des Liedes vor allem gekennzeichnet durch Peters Klavierspiel und die gedämpft wirkende Black Dyke Mills Band, bereits bekannt aus That’ll Do und Father, Son. Und tatsächlich wurde der Blechbläserpart bereits bei der That’ll Do-Session eingespielt, da hatte Peter wohl gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Diese beiden Hauptbestandteile und Peters langsamer, trauriger Gesang machen das ganze Lied sehr feierlich, ernst, getragen – sehr intensiv.

Entgegen dem ruhigen Gesamtcharakter des Liedes gibt es zwei Stellen, wo „die Hölle losbricht“ : bei der ersten Stelle durch lautes Schlagzeug, eine jaulende E-Gitarre und eine sehr verzerrte Stimme Peter Gabriels, und gegen Ende durch die wohl schrägsten Blechbläser(dis)harmonien, die es jemals gegeben hat (sie erinnern an die äthiopischen Flöten in The Family And The Fishing Net)! Das ist dann wohl die an Kopfschmerz erinnernde gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit oder aber – „to determine what’s left out and what’s left in“ – ein plötzlicher Moment der Klarheit im durch Verdrängung betäubten Gehirn des Protagonisten, in dem auf ihn einstürzt, was ihm in seinem Leben eigentlich doch alles so fehlt.

Übrigens: Passenderweise endet der Song mit dem Knarzen, das schon in Intruder verwendet wurde.

Zwei Randbemerkungen – Wen erinnert die Zeile „a freight train rumbles past my window“ nicht an die Lage der Real-World-Studios??? – Peter spricht hier wohl aus eigener Erfahrung! Und die Zeile „the knife, it scrapes across the burnt brown toast“ ist einfach zu köstlich!

Soeben wurde ein Remix dieses Tracks durch das norwegische House-Duo Röyksopp abgeliefert, mit dem Peter Gabriel laut eigener Äußerung sehr zufrieden ist, wenngleich das Lied bis zur Unkenntlichkeit verändert worden sei. Auf welchem Tonträger dieser Remix dann letztendlich veröffentlicht wird, war Peter Gabriel allerdings nicht zu entlocken.

More Than This [05:57]

Der zweite absolut modern wirkende Track auf UP. Gute Single-Qualitäten, in der Meinung der Schreiberin dieser Zeilen sollte er unbedingt als nächstes ausgekoppelt werden! More Than This ist des Albums positivster und „most uplifting“ Track. Er startet zwar in einer etwas unheimlichen Atmosphäre, die ein wenig an die von Red Rain erinnert, geht aber darum, dass – wie schon Shakespeare wusste – es zwischen Himmel und Erde mehr gibt, als sich unsere Schulweisheit erträumen lässt. Und viele von uns sind in der Lage, Informationen aufzuschnappen, die uns auf rein rationaler Ebene nicht zugänglich sind. Nennt es Intuition, nennt es Gedankenübertragung oder nennt es „das zweite Gesicht“, auf jeden Fall „ist da noch was anderes da draußen“ als das, was mit unseren normalen Sinnen erfahrbar ist.

More Than This ist einer jener radikal neuen Songs, die auf Peters Gitarre entstanden sind. Demzufolge ist er voll von Gitarrensounds, die man manchmal allerdings kaum für das erkennt, was sie in Wirklichkeit sind, so manipuliert und verarbeitet sind sie. Wie immer setzen die Instrumente – zunächst diese kurzen Gitarrensamples, dann Peters Gesang, noch mehr Gitarre, Perkussion, Bass, dumpfes Schlagzeug etc. – nach und nach ein, aber spätestens nach 25 Sekunden ist der Groove festgelegt, der das Ganze so eingängig macht. Auch dieser Track ist sehr reichhaltig instrumentiert und immer wieder werden überraschende neue Soundelemente eingeführt. Erwähnenswert sind dabei ein perkussiver Hintergrundgesang, der wie „Umtsch, Umtsch, Umtsch“ klingt, ein großer Anteil an akustischer Gitarre, dumpfe dröhnende Gitarrensounds, ein sehr „schnelles Schlagzeug“, das verdächtig nach dem Virtuosen Manu Katché klingt, hammondorgelartige Klänge, und irgendwie „aus der Mitte herausgeschnitten“ wirkende E-Gitarren-Heuler, die an Radiointerferenzen erinnern.

Sehr interessant ist bei diesem Lied auch der Umgang mit dem Rhythmus. Immer wenn man denkt, es müsste rhythmus- und groovemäßig immer so weitergehen, treten diese kurzen Brüche auf, wo jegliche Perkussion stark zurückgenommen wird und man sich wieder sehr stark auf Stimme, Klavier und Akustikgitarre konzentriert. Dieser Wechsel von stark rhythmusbetonten und stark atmosphärebetonten Teilen macht den Reiz dieses Stückes aus. Das furiose Finale vor dem eigentlichen Outro jedoch ist wieder voll im Groove gefangen, und es ist wohl das erste Mal in seiner Karriere (außer vielleicht bei Lay Your Hands On Me oder Kiss Of Life), dass Peter Gabriel in einem seiner Lieder ein- und denselben Textteil 13mal (!) hintereinander singt.

Übrigens: Noch vor wenigen Monaten sprach Peter Gabriel davon, dass er bei diesem Stück noch die Blind Boys Of Alabama hinzufügen wolle. Dies ist jedoch offensichtlich am Ende dann doch nicht mehr passiert.

Signal To Noise [07:33]

Dies ist ein großartiges, episches, poetisches, dramatisches Werk im Cinemascope-Format – es ist wohl unmöglich, von Signal To Noise nicht berührt zu sein! Peter hat endlich einen würdigen Nachfolge für Biko gefunden!

Der Song geht um die ganz eigene persönliche Moral und ist ein Ruf nach Mitgefühl und Aktivismus, fordert die Menschen auf, sich einzumischen. Das „Noise“ ist das „Weiße Rauschen“, das Hintergrundgeräusch von allen Informationen und Nichtigkeiten, die täglich auf uns einstürmen. Und das „Signal“ ist das wirklich Wichtige darin, Reporte von Menschenrechtsverletzungen, Folter, Unterdrückung, Bürgerkrieg, Umweltverbrechen, Konzepten für unsere Zukunft etc.. Es geht aber nicht nur ums Empfangen. receive“), sondern auch ums Aussenden. transmit“), ums selber aktiv werden. Wir müssen uns auf die wirklich wichtigen Nachrichten einlassen und sie nicht nur an uns vorbeirauschen lassen, nein, wir müssen uns als Mitmensch angesprochen fühlen und selber zum „Signal“ werden, selber etwas in den Sachen, die uns als Mensch stören, unternehmen, uns engagieren. Es ist ein bisschen so wie in Biko die Aufforderung „The rest is up to you!“. – Und Peter sagt dazu im Interview : „Das ‚Signal‘ ist am Ende unser ’solides Gold‘, unser Wertvollstes, das, was wir anstreben sollen, das, worauf wir bauen können.

Signal To Noise fängt unschuldig genug ganz leise mit einem walgesangartigem Geräusch und 4 einzelnen tieftönenden Surdu-Trommel-Klopfern an. Doch schon bald setzen die Geigen des London Session Orchestras ein, die diese neue Fassung des Songs (bisher nur bekannt von drei Liveversionen in 6 Jahren) so dominieren. In diesem frühen Stadium stellen die Geigen allerdings nur einen auf- und abebbenden melodiösen Hintergrund-Drone dar, der auch hinter den Gesangsparts zusätzliche Akzente setzt und diese dadurch noch intensiviert. Im Laufe des Liedes werden die Streichinstrumente (unter anderem sind in bestimmten Abschnitten auch tieftönende Cellos dabei) allerdings immer „wichtiger“, wirken feierlich, getragen, erinnern an Kirchenmusik, an wirklich gute Klassik. Nach und nach ergänzen noch zusätzliche Keyboard-Drones, solides „Brushwork“, „tickende Grooves“, gated-reverb Perkussion, sowie das eine oder andere Sample aus Peters „Percussion Library“ den Hauptteil des Liedes.

Signal To Noise ist ein sehr intensives Duett Peters mit dem 1997 verstorbenen, pakistanischen Quawwali-Sänger Nusrat Ali Fateh Khan. Peter Gabriel lagen nur die Nusrat-Stimmparts von den Proben und dem eigentlichen Auftritt der 1996er VH-1 Honors vor, da es zu einem speziellen Real-World-Studiobesuch Nusrats in dieser Sache nicht mehr gekommen war. Dennoch sind die Khan-Improvisationen einfach unvergleichlich, absolut virtuos und voller Leidenschaft! Für Peter Gabriel ist Nusrat Ali Fateh Khan zusammen mit Otis Redding einer der Sänger, die er in seinem Leben am meisten bewundert und die ihn am meisten beeinflusst haben. Und wenn man diesen Gesangspart hört, stimmgewaltig, voller Emotion und Hingabe, dann versteht man auch, wieso. Peters eigene Vocals sind aber auch nicht zu verachten, verändern sich von flehend und verzweifelt nach und nach zu kraftvoll-fordernden Parts.

Ein ganz besonderer Kunstgriff ist ein scheinbares Ende des Liedes nach drei Gesangsteilen (bei 01:50 im Lied). Alle Musik verstummt komplett, und erst nach 2 Sekunden Stille setzt das Lied wieder ein. Diesen Effekt gab es auf früheren Versionen noch nicht, und er verstärkt den Rhythmus und die Wirkung des Liedes.

In der Studiofassung von Ende 2001 gab es auf Signal To Noise noch ein sehr hervorstechendes E-Gitarrensolo und begleitende E-Gitarre von David Rhodes. Diese E-Gitarrenparts sind jedoch in einer waghalsigen Last-Minute-Entscheidung nahezu komplett (bis auf wenige unterstützende Effekte) weggefallen. Man kann zwar argumentieren, dass durch diese Maßnahme der Kontrast zwischen den eher ruhigen Strophen und dem absolut furiosen Ende stärker ins Auge fällt, was höchstwahrscheinlich die Intention Peter Gabriels bei diesem Schritt war, jedoch brachte die E-Gitarre ein ganz eigenes energiegeladenes Element ein, was die Aussage des Songs noch unterstützt hätte.

Doch nun zum absolut besten Teil des Liedes, ja sogar des gesamten Albums: Ab 04:27 im Lied setzt nämlich der wohl faszinierendste durchgängige Mono-Trommelrhythmus seit Biko ein: Die Basstrommeln klingen verdächtig nach der Dhol Foundation unter Johnny Kalsi, erinnern einen aber auch an die Ekome Dance Group damals bei Rhythm Of The Heat. Und von da ab geschieht etwas Merkwürdiges mit den Streichern: sie steigern sich immer mehr, werden nach und nach „bedrohlich“ und aggressiv wie bei Hitchcocks Film Psycho, und übernehmen schließlich gemeinsam mit den dumpfen Trommelschlägen „in einem Gewaltstreich“ den Hauptkörper des Liedes. Wohl noch niemand hat Geigen auf diese Art und Weise in einem modernen Popsong eingesetzt (außer vielleicht anklangweise Puff Daddy bei Come With Me vom Godzilla-Soundtrack ) – Hut ab vor Peter Gabriel, der insbesondere bei diesem Lied fast allein für die Arrangements verantwortlich war! In einem unnachahmlichen dramatischen Crescendo endet dieser Song und lässt einen sehr atemlos zurück. Die Schreiberin dieser Zeilen konnte den Song noch nie beenden, ohne dass ihr ein “ – WOW! entfuhr. Doch noch ist das Album nicht zuende.

Denn als letztes kommt noch

The Drop [02:29]

Im starkem Kontrast zum vorhergehenden Song das kürzeste Lied auf dem Album, eine jener sparsam (nur mit Stimme und Piano) instrumentierten, gefühlvollen Balladen in der Tradition von Here Comes The Flood oder auch Wallflower. The Drop ist ein weiterer der Songs auf dem Album, die sich mit dem Sterben auseinandersetzen. Diesmal geht es um die Frage, was wohl nach dem Tode kommen mag. Das Bild, das Peter hier verwendet, ist das eines Flugzeugpassagiers. Es scheint aber ein ganz besonderes, ins Traumhafte/Phantastische verfremdetes Flugzeug zu sein, denn dessen einziger Zweck scheint es zu sein, mitten im Flug hoch über den Wolken seine Passagiere aus der geöffneten Flugzeugtür hinaus einen nach dem anderen nach draußen zu entlassen. Der Flugzeugpassagier, der selber noch nicht an der Reihe zu sein scheint, versucht vergeblich, unterhalb der Wolken den Bestimmungsort der Menschen auszumachen. Bei einer anderen Gelegenheit beobachtet der Passagier auch die nächtlichen Lichtpunkte der Städte unter ihm, die einer nach dem anderen schwächer werden und verlöschen „wie die einzelnen Nerven im Gehirn“.

The Drop ist ein sehr bewegendes kleines Stück, das einem ob der Intensität Schauer den Rücken hinablaufen lässt. Das fängt schon an mit den paar sparsam gesetzten Pianoakkorden, die als Intro dienen. Und genauso, wie hin und wieder auf der Secret-World-Tour spontan als allerletzte Zugabe die „Minimalversion“ von Here Comes The Flood gebracht wurde, kann man sich The Drop sehr gut als feierlichen, getragenen Abschluss der nächsten Peter Gabriel-Konzerte vorstellen. Die leisen, fast geflüsterten langsamen Vocals sind nicht 100%ig perfekt: Sie klingen rau, zerbrechlich, schwankend, und bei einigen Tonlagen kann Peter die Stimme nicht halten. Dennoch hat er die Vocals – zu Recht! – so in diesem Lied belassen, um die emotionale Wirkung zu erhalten. Der einzige Effekt, der eingesetzt wurde, ist die Hinzufügung von Hall beim „Where They’ve Gone“-Part.

Peter Gabriel sagt zu diesem Song, dass er selbst zwar gerade einmal seine Lebensmitte überschritten habe, aber Menschen kenne (vermutlich spricht er vor allem von seinen betagten Eltern), die schon relativ nahe an ihrem Lebensende stünden. Also kein Wunder, dass er sich mit diesem Song gewissermaßen fragt, was mit ihnen (und mit ihm selbst) wohl nach dem Tode passieren mag. Peter sagt dazu: „- Aber ich denke, wo es Tod gibt, findet man oft auch Leben – und umgekehrt genauso – ein schöner, erfreulicher Gedanke!“


Und mit diesem positiven Gedanken beenden wir unseren Einblick in die einzelnen Tracks von UP. Unsere Empfehlung: unbedingt kaufen – und wir sind nicht von der Plattenfirma geschmiert worden, um das hier zu schreiben)! Dieses Album behandelt zwar andere Themen, ist aber mindestens ebenso wertvoll wie US, ein wahres Meisterwerk eben. Man hätte es fast nicht mehr zu hoffen gewagt, aber „trotz“ der ausgedehnten Studioarbeitszeit, die in dieser Scheibe steckt, legt uns Peter Gabriel hier ein absolut beeindruckendes Werk vor, das mit gar nicht genug Superlativen belegt werden kann. Hier sind Peter Gabriels brillante Einfälle der frühen achtziger Jahre eine magische Verbindung mit stark beeindruckenden neuen Elementen eingegangen – dass wir das noch erleben durften.!

P.S. Mal sehen, ob Phil Collins zwei Monate später da mithalten kann.

Autorin : Karin Woywod

Eure Wahl: Nennt die 3 besten Soloalben von Peter Gabriel