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Steve Hackett – Tokio 1996 (Shinjuku Kosei Nenkin Hall) – Konzertbericht
Im Dezember 1996 spielte Steve Hackett anlässlich der Veröffentlichung des Albums Genesis Revisited eine kleine Tour in Japan. Zu den beiden Konzerten in Tokio haben wir einen Konzertbericht.
Völlig unerwartet hatte Steve Hackett im Dezember 1996 seine allerersten Liveauftritte in Japan. Der Hauptgrund für die vier Konzerte, die Steve in Japan spielte, war die Veröffentlichung seines neuesten Albums Genesis Revisited, welches am 24. August 1996 in Japan erschien. Noch während der Aufnahmen für dieses Album sagte Steve in einem Interview für eine japanische Musikzeitschrift, dass es durchaus möglich sei, dass er aufgrund seines neuesten Albums nach Japan kommen würde. In einem anderen Interview erwähnte er dann, daß die Band, die er mit nach Japan bringen würde, aus einem wahren „All-Star-Lineup“ bestehen würde. „All-Star-Lineup“ – bei einersolchen Ankündigung lag natürlich sofort die Vermutung nahe, dass die Besetzung aus einigen bekannten Musikern bestehen würde, die auch auf Genesis Revisisted vertreten waren. Die kurze Tour wurde am 7. Oktober 1996 bekanntgegeben. Neben Steve Hackett spielten noch folgende Musiker in der Band:
Chester Thompson (Schlagzeug)
John Wetton (Gesang / Bass)
Ian McDonald (Keyboards / Flöte / Saxophon / Gitarre)
Julian Colbeck (Keyboards)
Bis auf Julian Colbeck, der seit mehr als sechs Jahren mit Steve arbeitet, war die Band-Besetzung eine Überraschung für Progressive Rock Fans. Chester Thompson hat mit Steve bereits bei der Wind & Wuthering Tourvon Genesis zusammen gespielt. Zudem hat Chester auf Steves zweitem Solo-Album, Please Don’t Touch, mitgewirkt, und er war einer der drei Schlagzeuger, die auf Genesis Revisited getrommelt haben. Seine Anwesenheit stellte für die meisten Konzertbesucher also keine Überraschung dar. Für einige Genesis-Fans aber war es doch eine Überraschung, Chester zu sehen, da dieser vor nicht allzu langer Zeit seinen Rücktritt vom Touren mit Genesis und Phil Collins bekanntgegeben hatte. John Wetton, bekannt als Sänger und Bassist bei Family, King Crimson, RoxyMusic, Uriah Heep, Asia etc., hatte an den beiden Genesis-Klassikern Watcher Of The Skies und Firth Of Fifth auf Genesis Revisitedmitgewirkt. Einer der Mitgründer von King Crimson und ein fantastischer Multiinstrumentalist ist Ian McDonald. In der Band-Besetzung war er wohl die größte Überraschung, da er nicht auf Genesis Revisited mitspielte. Außerdem war Ian seit Anfang der achtziger Jahre, nachdem er Foreigner nach drei erfolgreichen Alben verlassen hatte, von der Musikszene verschwunden. Vor kurzem hatte Steve in einem Interview erwähnt, dass er Ian McDonald seit Ende der Sechziger kennt. Die Bekanntschaft entstand vor vielen Jahren durch ein Mitglied von Quiet World, eine Band, in der Steve spielte, bevor er zu Genesis kam. Julian Colbeck ist den progressiven Rock-Fans ja bestens bekannt, seitdem er 1990 mit ABWH (Anderson, Bruford, Wakeman und Howe) auf Tournee war. Julian arbeitet seit 1989 mit Steve zusammen.
Japan, Tokio, 16. & 17. Dezember 1996
Die beiden Konzerte fanden am 16. und 17. Dezember 1996 in Tokyo in der 2.000 Besucher fassenden Shinjuku Kosei Nenkin Hall statt. Schon Genesis hatte während ihrer Welttournee 1978 in dieser Halle gespielt. Nur acht Varilites waren oberhalb der Bühne angebracht, und insgesamt acht Fernsehkameras nahmen das Geschehen für einen japanischen PayTV-Kanal auf. Nachdem die Musiker die Bühne betreten hatten, beleuchtete ein einzelner Lichtstrahl eines der drei Keyboards von Julian Colbeck.
Wie in alten Genesis-Tagen begann das Konzert mit Watcher Of The Skies. Ein anderer Opener wäre wohl auch nicht denkbar gewesen. Aufgrund des Nebels auf der Bühne, der für die Fernsehaufzeichnung verwendet wurde, konnte John Wetton den Zettel mit dem Text nicht mehr erkennen, was dazu führte, dass sich beim Singen einige textliche Fehler einschlichen. Die Band hatte nur zehn Tage für die Proben zur Verfügung gehabt. John Wetton war erst am Vortag des ersten Konzertes dazugestoßen. Nach Watcher Of The Skies folgte Riding The Colossus, ein Instrumentalstück vom Genesis Revisited Album, das erstmalig 1990 als Depth Charge auf Time Lapse erschienen ist. Nachdem Steve das Publikum auf japanisch (!) begrüßt hatte, kündigte er den nächsten Song als „eine Nummer von Selling England By The Pound“ an. Es folgte Firth Of Fifth, welches zur Überraschung aller ohne Piano-Intro gespielt wurde. Das Flöten-Solo im Mittelteil des Stückes wurde ja ursprünglich von Peter Gabriel gespielt, nachdem er allerdings die Band verlassen hatte, übernahm Tony Banks diese Passage. Auf Genesis Revisited spielte Steve diesen Teil auf der Akustik-Gitarre. Wie zu erwarten war, stellte Ian bei diesem Song seine Gitarre zur Seite und spielte die besagte Sequenz auf der Flöte. Für viele Fans war allerdings die Tatsache unbegreiflich, dass Steve sein berühmtes Gitarren-Solo in Firth Of Fifth nicht spielte. Es folgte Battle Lines, ein Track von John Wettons letztem Studio-Album, Voice Mail.
Nun stellte Steve dem Publikum alle Musiker vor. Eines von Steves Lieblingsstücken vom Album Highly Strung, Camino Royale, wurde danach gespielt. Steve fügte Soli auf der Gitarre und der Mundharmonika ein. Zudem spielte Ian McDonald am Saxophon sowohl ein Solo als auch zwei Duets mit Steve an der Gitarre, was zugleich den größten Unterschied zur Originalversion und zur Version auf Time Lapse darstellte. Julian Colbeck spielte ebenfalls ein kurzes Solo in diesem Stück. Als das Keyboard-Intro zu In The Court Of The Crimson King ertönte, folgte ein tosender Applaus. Dieser Klassiker des progressiven Rocks aus dem Jahre 1969 wurde von Ian McDonald geschrieben, der die Keyboards und die Flöte exakt wie auf dem gleichnamigen Album spielte. Dieser Song gehörte zu den Höhepunkten dieses Konzertes und war ein sehr nostalgischer Moment für das Publikum. Den ursprünglich von Robert Fripp auf der Akustik-Gitarre gespielten Gitarrenteil spielte Steve in einer etwas anderen, allerdings sehr feinfühligen und beeindruckenden Weise auf der elektrischen Gitarre. John, Ian und Chester verließen für den nun folgenden Akustik-Teil die Bühne. Steve setzte sich auf einen Klavierhocker und spielte für das Publikum Horizons. Dieses Stück aus dem Jahre 1972 hatte Steve unter dem Einfluss seines Lieblings-Komponisten Johann Sebastian Bach geschrieben. Walking Away From Rainbows, ein weiteres wunderschönes Stück, welches Steve zusammen mit Julian am Keyboard spielte, folgte danach. John Wetton und Ian McDonald kehrten mit Akustik-Gitarren in ihren Händen auf die Bühne zurück. Steve kündigte das nächste Lied mit den Worten: „Hier ist ein weiteres von John“ an. Zu hören war sodann eine akustische Version von Heat Of The Moment, einem der größten Hits des Debütalbums von Asia. Diesen Song sang John und spielte dabei Gitarre. Begleitet wurde er von Steve und Ian, die ebenfalls Gitarre spielten. Es folgte ein Stuck, das Steve schondes öfteren bei seinen Konzerten gespielt hat, … In That Quiet Earth. Dieser Instrumentaltrack von Genesis stammt vom Wind & Wuthering Album. Wie schon auf dem Time Lapse Album wurde nur der erste Teil des Stückes gespielt. Zunächst spielte Ian die Flöte in Einklang mit der Gitarre, bevor er dann zum Saxophon griff, um darauf ein kurzes Solo darzubieten. Danach folgte ein Keyboardsolo von Julian. Anschließend war Vampyre With A Healthy Appetite zu hören. Diese rockige Nummer, gesungen mit einer verstellten Stimme, stammt vom Guitar Noir Album. Am 16. Dezember benutzte Steve ein kleines Megaphon, um seine Stimme, ganz wie auf dem Album, zu verstellen. Am folgenden Tag verzichtete er darauf. Vielleicht waren der Grund dafür die anwesenden TV Kameras. Das gesamte Arrangement des Stückes entsprach exakt der Studio-Version. John Wetton kündigte das nächste Lied wie folgt an: „Dies ist weiterer Song von Ian, auf dem auch sein Flötenspiel zu hören ist“. Die Rede war von I Talk To The Wind, einer anderen wundervollen Ballade des Debütalbums von King Crimson, die aus der Feder von Ian McDonald stammt. Ian spielte bei diesem Stück nicht nur Flöte, sondern sang auch gemeinsam mit John einige Strophen und Refrains. I Talk To The Wind stellte einen weiteren Höhepunkt für die alten King Crimson Fans unter den Konzertbesuchern dar. Ohne irgendwelche Ansagen beganndie Band eine mystische Melodie zuspielen. Einige Leute im Publikum schienen die Sequenz sofort zu erkennen. Es handelte sich um den Schlussteil von Shadow Of The Hierophant, welches sich auf Steve Hacketts erstem Soloalbum Voyage Of The Acolyte befindet. Ähnlich wie Phil Collins beider Studio-Version improvisierte auch Chester zunehmend bei dieser Nummer, so dass die anderen Bandmitglieder irgendwann aufhörten zu spielen, um ihm die Möglichkeit zu einem Schlagzeugsolo zu geben. Aus diesem Schlagzeugsolo entwickelte sich dann das Intro zu einem derwohl kraftvollsten Instrumentalstücke von Genesis, Los Endos. Während sich von 1977 bis 1987 dieser Track live zu Drum Duets zwischen Chester und Phil entwickelte, war die Original-Version ein von Phil komponiertes Jazz-Fusion-Stück. Ian spielte die Flöte in Einklang mit Steves Gitarre, ähnlich wie es Tony Banks bei der Studioversion auf dem Keyboard tat. In Los Endos wurde eine kurze Sequenz von Dancing With The Moonlit Knight vom Selling England By The Pound Album eingefügt. Zu genießen war dabei die legendäre Tapping-Technik von Steve Hackett. Von diesem Teil wechselte die Bandin eine Art jazzige Improvisation, bei der Ian am Saxophon zu hören war. Nach dieser Sequenz begann der Dance On A Volcano-Part von Los Endos, wobei die Melodie gegenüber der Studioversion auf dem Keyboard und dem Saxophon gespielt wurde. Nach einigen „KratzGeräuschen“, fabriziert von Steve auf seiner Gitarre, folgte, genau wie bei dem Original, der Squonk-Teil von Los Endos. Die Melodie wurde dabei nur von Ian auf der Flöte gespielt. John Wetton spielte auf einer roten Telecaster und bediente dabei die Basspedale, genau wie es damals Mike Rutherford tat. Das Ganze hinterließ den Eindruck einer neuen Version von Los Endos, und man konnte sich gut vorstellen, dass es sich dabei um die Version handelte, die als Bonus-Track für Genesis Revisitedangekündigt war. Nach diesem Stück verließ die Band die Bühne. Ironischerweise riefen viele Besucher „John!“ anstelle des eigentlichen Haupt-Acts. Steve Hackett kam allein auf die Bühne zurück. In den Händen hielt ereine Nylon-Akustikgitarre. Für die Genesisfans im Publikum spielte erkurze Teile aus Blood On The Rooftops, Unquiet Slumbers For The Sleepers und Cuckoo Cocoon, die zu einem Medley zusammengefügt wurden. Nahtlos fügte Steve Black Light, ein weiteres Akustik Stück, an. Black Light stammt vom Bay Of Kings Album.
Danach betraten die anderen Band-Mitglieder wieder die Bühne. Ein starkes Instrumental Piece vom Defector-Album, The Steppes, folgte. In diesen Track wurden sowohl ein Flöten als auch ein Gitarren-Solo eingearbeitet. Die Band verließ dann erneut die Bühne. Alle Musiker traten aber wieder ins Rampenlicht. Sie spielten nun I Know What I Like, die erste Hitsingle von Genesis im Jahre 1973. Am ersten Tag der beiden Konzerte in Tokio, also am 16. Dezember, wurde I Know What I Like nach I Talk To The Wind gespielt. Nachdem man allerdings feststellte, dass dieser Song eine große Popularität genießt, entschied man sich dazu, die Reihenfolge des Sets zu ändern. Auf Genesis Revisitedbefindet sich ja eine recht lustige Version von I Know What I Like. Die Band spielte bei den Konzerten in Japan allerdings eine Version, die eher dem Original nahe kommt. Ian übernahm nicht den FIöten-Teil, den einst Peter Gabriel spielte. Statt dessen bot Steve ein Gitarren-Solo dar. Steve sang, ähnlich wie es in alten Genesis-Tagen Peter mit Phil tat, gemeinsam mit John Wetton.
Im großen und ganzen war es ein besonderes Erlebnis, Steve Hacketts vollendetes Gitarrenspiel live zu sehen und zu hören. Dies galt nicht nur für die Genesis Fans, sondern bestimmt auch für die angereisten King Crimson Fans. Chester hat einen professionellen Job abgeliefert und war ein wahres Rückgrat für diese Band. Wir werden ihn bei der nächsten Genesis Tour sicherlich vermissen. Einige John Wetton Fans waren bestimmt enttäuscht, da nur sehr wenig Material dieses Künstlers gespielt wurde. Die Tatsache, dass Ian McDonald mit von der Partie war, stärkte mit Sicherheit die Erkenntnis, dass diese Shows etwas ganz Besonderes darstellten.
Autor: Hisao Chida
Übersetzung: Bernd Zindler
Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht im it-Magazin #23, erschienen im März 1997
Das Konzert am 17.12.1996 wurde für das Live-album The Tokyo Tapes gefilmt. Eine Rezension dazu findet ihr hier. The Tokyo Tapes gibt es als 2CD/DVD (Live-Album und Konzertfilm) und ist in Deutschland ab Januar 2023 wieder bei JPC erhältlich.
Die Bilder des Flyer & Tickets wurden freundlcherweise von George German zur Verfügung gestellt! Vielen Dank.
Außerdem danken wir Hisao für seinen Konzertbericht!