1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 19 Minuten

Anthony Phillips – Archive Collection: The Masquerade Tapes – Hintergründe und Details

Eines der größten Mysterien des Schaffens von Anthony Phillips ist sein Masquerade-Projekt. Mit der veröffentlichung der Masquerade Tapes lag es nahe, dieses Projekt und seine Hintergründe näher zu betrachten.

Die fünfte CD des neuen Archive Collection 5CD-Boxsets enthält mit The Masquerade Tapes einen wahren Schatz, den wir in diesem Special im Detail betrachten wollen. Dazu haben wir einige Hintergrund-Infos zum Kinderbuch, das als Vorlage dient, sowie zum Musical, das nur ein kurzes Leben hatte, zusammengetragen. Direkt zum Kern der Aufnahmen von Anthony Phillips könnt ihr unter diesem Link gelangen.

Hintergrund I: Das Kinderbuch als Vorlage

Kit Williams MasqueradeDer britische Autor, Illustrator und Maler Christopher „Kit“ Williams wurde am 28. April 1946 geboren. Mit seinem Buch Masqueradeund den verschlüsselten Hinweisen auf das Versteck eines juwelenbesetzten goldenen Schmuckstückes in Hasenform, löste er einen Hype aus. Das Objekt der Begierde wurde 1979 in Großbritannien vergraben und 1982 gefunden. Für einen Skandal sorgte 1988 eine Veröffentlichung der Sunday Times, die enthüllte, dass der Finder des Schatzes das Rätsel nicht auf regulärem Weg gelöst hatte. Er hatte vielmehr Insider-Informationen von Veronica Robertson, der ehemaligen Lebensgefährtin des Autors, erhalten. Ausführliche Informationen findet man bei Wikipedia unter diesem Link.

Die Geschichte, die Kit Williams in diesem Buch erzählt, „klingt wie ein Märchen, von Liebe, von Abenteuer, vom verlorenem Glück, und einem Schmuckstück aus massivem Gold“ – so der Text im Vorwort.

Die Mondin (The Moon) verehrt den Sonnenmann (The Sun). Und so beschließt sie, ihm ein Zeichen ihrer Zuneigung zu senden. Sie pflückt den glitzerndsten Mondstein aus dem Wolkenmeer und formt mit Gold ein prächtiges Schmuckstück daraus. Sie schickt ihre Kuriere Jack Hase (Jack Hare) und den weisen Frosch (The Frog) hinaus auf einen gefährlichen Weg, bei dem sie den Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft trotzen müssen.

Jack Hase hoppelt wild entschlossen von dannen, verläuft sich und kracht mit der Pfennigtäschchendame (The Penny-Pockets Lady) zusammen, deren Rätselaufgabe er problemlos löst, woraufhin sie ihm den Blick nach oben weist. Dort erblickt er Tara Baumkrone (Tara Treetops) und deren Freund, den Raben Kropf (Craw), die sich auf der Suche nach verlorenen Träumen befinden und Jack einen verschlüsselten Hinweis geben, wie er zum Sonnenmann gelangt.

Die Mondin übertritt beim Beobachten des Hasen und des Frosches Isaac Newtons Gravitationsgesetze und verlässt ihre vorgeschriebene Bahn, womit sie schreckliche Tumulte unter den Menschen und Tieren auslöst (All Horrors Of The Night). All sie dies feststellt, stößt sie einen furchtbaren langen Schrei aus. Von der Sonne ist zunächst nichts mehr zu sehen, doch die Mondfinsternis hat alsbald ein Ende.

Jack Hase setzt seine Reise fort und trifft auf einen komischen kleinen Mann, der auf einem Hügel sitzt und auf seiner Geige das Lied der Sonne spielt. Der Musiker empfiehlt Jack, den Praktischen Mann (The Practical Man) in der Stadt aufzusuchen. Er findet ihn in einem kleinen Trödelladen. Der Praktische Mann packt allerlei Kram zusammen und macht sich mit Jack auf den Weg zu einem verlassenen Platz am Strand. Dort kippt er die Utensilien aus und spricht: „Das ist genau der richtige Platz für unser Experiment. Sammle Treibholz und schichte einen Holzstoß auf.“ So geschieht es. Der Praktische Mann nimmt ein Vergrößerungsglas und erzeugt damit eine winzige Sonne auf einem der Reisigzweige, bis dieser in Flammen aufgeht. „Die Sonne ist da!“ ruft der Praktische Mann und rammt Jack einen Grillspieß ins Hinterteil. Aua. Jack springt ab Richtung Feuer. An dieser Stelle betritt Sir Issac Newton die Szene. Trotz seines Ärgers über die Mondin rettet er Jack und befördert ihn inmitten seines Sprungs ins Wasser.

2Irgendwo in den Tiefen des dunklen Wassers erblickt Jack ein gelbes Licht. „Das ist bestimmt die Sonne“, denkt Jack, doch es ist Frau Fisch (Mrs. Fish), die er sogleich nach dem Weg zum Sonnenmann fragt. Doch stattdessen bekommt er verschlüsselte Hinweise, wie er zur Wasserfee (The Spirit of the Water) gelangen kann.

Die Wasserfee rät ihm: „Stelle Dich vor Sonnenuntergang im Westen an den Rand des Wassers und Du wirst einen gelben Teppich (Yellow Carpet) sehen. Wenn es dir gelingt, bis an sein Ende zu rennen, bevor die Sonne Zeit hatte unterzugehen, wirst du dein Ziel erreichen.“

Jack rennt so schnell, dass er Newtons Gesetze der Schwerkraft überwindet und fliegt durch den Weltraum auf die Sonne zu. Beim Sonnenmann angekommen stellt er fest, dass das Schmuckstück verschwunden ist. Der Sonnenmann fragt: „Warum bist du hergekommen“ – Jack antwortet: „Erhabene Majestät, ich überbringe Euch ein kostbares Geschenk von einer adligen, gütigen jungen Dame und es wäre Ihres, wenn es die Lösung dieses Rätsels gäbe:

Mich führt die alte Fünf an.

Jetzt wähl hier den Zweiten.

Richtig als Dritter ist der Zweite vom Ersten.

Das Ende der Wahl findet Ihr ohne Qual.

Mein Fünfter ist nichts, der Sechste ein Zwilling meines Dritten.

Nehmt von Sieben den Dritten

Und endet mit dem Schluss des Letzten.

Setzt meine Teile zusammen, und Ihr wisst, wie ich heiße.

Ich bin nichts als Eure Vergangenheit,

Und doch fürchtet Ihr Euch vor mir, wenn es kalt wird?“

Die Sonne geht unter und der Tag ist beendet.

Kit Williams beschließt sein Buch mit folgenden Worten: Lieber Leser, wenn Du dieses Buch erneut liest, wirst Du vielleicht entdecken, wann und wo der Hase den Schatz verloren hat. Wenn Dir das gelingt, geh hin, suche ihn und behalte ihn. Vergiss aber nicht: Der Beste aller Menschen ist bestenfalls ein Mensch, und ein Hase bleibt, wie jedermann weiß, immer nur ein Hase.

Masquerade begründete das Genre der so genannten Sessel-Schatzsuche (engl. armchair treasure hunt). Das Buch wurde unter anderem ins Deutsche und Französische übersetzt und fand großen Anklang in den Vereinigten Staaten, Australien, Südafrika und Japan.

Hintergrund II: Das Musical-Projekt

Die Popularität des Buchs führte unweigerlich zu einer Reihe verschiedener Vorschläge, einschließlich der Idee, die Geschichte in einem Musical zu erzählen. Kit Williams kannte Tony Smith (der zu dieser Zeit sowohl Genesis als auch Ant managte) und das Management von Hit and Run Music erwarb die Theaterrechte an dem Buch. Eine Reihe von Musikern wurde daraufhin angesprochen, ob sie Interesse daran hätten, das Musical zu schreiben, darunter auch der Produzent Rupert Hine, der zuvor mit Ant bei Wise After The Event und Sides zusammengearbeitet hatte. Rupert fand die Idee von Masquerade interessant und sagte seine Teilnahme zu. Er reiste nach Gloucestershire, um Kit Williams zu treffen und etwas Zeit mit ihm zu verbringen und um mit ihm über ein mögliches Musical zu sprechen. In Bezug auf die Texte für die Show einigte man sich auf Rupert Hines Freundin Jeannette Obstoj, die bereits Lyrics für Hines Solo-Veröffentlichungen sowie für die Band Quantum Jump (mit Bassist John G. Perry) verfasst hatte.

Ein weiterer Vorschlag war, dass Ant die Musik mitkomponieren könnte, obwohl nicht ganz klar war, wie das in der Praxis funktionieren sollte. Ant: „Daraus entsprang die ungewöhnliche Vorgehensweise, dass Rupert und Jeanette den Großteil schrieben und ich sozusagen nebenbei beteiligt war, um Teile zu schreiben oder einige Arrangements zu machen. Tony Smith war kaum in die Koordination des Ganzen involviert, aber seine jetzige Frau Suzie Rogers war an den Treffen beteiligt. Sie kannte keinen von uns sehr gut und wer was bis wann tun sollte, war alles sehr vage. Es wurde sehr kompliziert, denn durch seine Produzententätigkeit war Rupert nie wirklich da. Ich hatte also diese merkwürdigen Treffen mit Jeanette, in denen wir sozusagen halbe Sachen schrieben. Da ich nicht der Hauptautor sein sollte, wusste ich nicht, wie weit ich gehen sollte.“

3Trotz dieser ungewöhnlichen Umstände fand Ant das Vorhaben interessant, für ein Musical zu schreiben, bei dem das Drama und die Emotionen durch die Musik vermittelt werden. Er erinnert sich: „Ich fand die ganze Idee ziemlich faszinierend mit den verschiedenen Charakteren in der Geschichte wie z.B. Tara Treetops[siehe Track 4, Tara’s Theme]. Es hat Spaß gemacht, die Dinge nicht so ernst nehmen zu müssen und ein paar Teile musikalisch in ungewöhnlicher, erforschender Form umzusetzen. Ich schrieb also sehr viel, aber weil ich mich in gewissem Maße auf Zehenspitzen bewegte, unabhängig davon, ob es gut oder schlecht war, wurde eine Menge davon abgelehnt, weil es eigentlich Ruperts Sache sein sollte – der aber nicht wirklich daran gearbeitet hat. Ich glaube, er wollte mehr daran arbeiten, aber er war als Produzent dort unterwegs, wo es Geld zu verdienen gab. Letztendlich war es ein seltsam schlecht durchdachtes Szenario.“

Im Januar 1980 beschloss Ant, alles in Demo-Form aufzunehmen, was er bisher für das Projekt komponiert hatte. Dies geschah schwerpunktmäßig in Form klavierbasierter Arrangements. Rupert und Jeanette mochten einige der Lieder, die Ant komponiert hatte, wie die Ballade Moonfall(aka Moon’s Lament For The Sun), bei der noch eine Passage eingeflochten wurde, die Rupert komponiert hatte. Andere Lieder jedoch (wie die Originalversion von Tara’s Theme) trafen nicht so sehr ihren Geschmack und fielen unter den Tisch. Die Energie für das Masquerade-Musical ging mehr und mehr verloren, trotz der Gerüchte, dass z.B. Kate Bush eine Rolle bei den Aufführungen spielen sollte. Im Sommer 1980 war das Projekt faktisch zum Erliegen gekommen.

Rupert Hine erinnert sich 1994 in einem Gespräch mit Jonathan Dann daran, dass es der größte Stolperstein für diese erste Version des Masquerade-Projekts war, dass sich keiner von ihnen wirklich auf dem Gebiet des Musiktheaters auskannte. „Was bei diesen Dingen unweigerlich passiert, ist, dass die Geldgeber in Anbetracht der zu erwartenden Kosten nach den profitabelsten Namen suchen. Das ist einfach die Art und Weise, wie diese Seite der Branche funktioniert. Ich denke, irgendwann wurden wir alle als nicht lukrativ genug eingestuft, um seitens der Geldgeber die nötige Summe für eine wirklich gute Show zur Verfügung zu stellen.“

Trotzdem fand Rupert die Arbeit am Musical inspirierend. Ihm war aber auch bewusst, dass es sich um ein Projekt handelte, das keineswegs garantiert Früchte tragen würde: „Die Arbeit daran hat einige wirklich gute Songs hervorgebracht. Anthony schrieb den Großteil, Jeanette und ich trugen unseren Teil dazu bei und waren begeistert bei der Sache. Es gab Momente, in denen wir dachten, das Ganze könnte wirklich etwas ganz Besonderes sein. Wenn man sich in derlei experimentelle Bereiche begibt, muss man immer daran denken, dass jeden Tag die Möglichkeit besteht, dass die Dinge einfach verschwinden. Es gibt aber Projekte dieser Art, die am Ende sehr erfolgreich sind.“

Phillips, Hine und Obstoj stellten die Arbeit am Musical ein. Rupert Hine wandte sich wieder seinen Produktionsaufgaben zu, während Ant sich auf die Arbeit an seinem neuen Album 1984 konzentrierte.

Wars das? Nein. Die Geschichte des Musicals Masqueradeging weiter, allerdings ohne Beteiligung von Anthony Phillips. Im Winter 1980 gab es einen neuen Anlauf. Musiker und Komponist Rod Argent (auf dessen Alben Counterpoints, Moving Home und Wild Connections Phil Collins 1975, 1978 und 1987 trommelte) und Regisseur Frank Dunlop wurden verpflichtet, um die Show in die Tat umzusetzen. Der Plan sah vor, das Musical als Workshop-Produktion am Young Vic Theatre in London zu inszenieren und es in der Folge am Broadway in New York mit 30 Darstellern und Darstellerinnen und einem Orchester auf die Bühne zu bringen.

4In der Theater-Zeitschrift The Stage wurde Tony Smith mit den Worten zitiert: „Wir eröffnen in den USA, weil die Amerikaner offener für neue Ideen sind und das Publikum bereit ist, für eine neue Show Geld zu bezahlen“. Typischer Fall von „Denkste“! Die Broadway-Show fand nie statt, aber immerhin wurde Masqueradeam 5. März 1982 im Londoner Young Vic Theatre uraufgeführt. Mit Roger Rees in der Rolle des Hasen Jack Hare, Sarah Brightman als Tara Treetops und Sinitta Renet, die in den 80er Jahren in Großbritannien drei Top-Ten-Hits landete, war der Cast prominent besetzt.

Die Darstellerinnen und Darsteller:

The Sun: Maynard Williams

The Moon: Celena Duncan

The Frog: Robert Lang

Jack Hare: Roger Rees

Mrs. Pennypockets, a fortune teller of sorts: Gaye Brown

Tara Treetops: Sarah Brightman

The Practical Man: Desmond McNamara

Mrs. Fish: Gaye Brown

The Spirit of the Water: Chrissy Wickham

Weitere Darsteller: Madeleine Loftin, Alan Radcliffe, Sinitta Renet, Mark Tyme, Heavon, Voyd

Choreografiert wurde die Inszenierung von Arlene Phillips – nicht verwandt oder verschwägert mit Anthony Phillips.

Der nächste Rückschlag ließ aber nicht lange auf sich warten: Neun Tage nach Beginn der Aufführung wurde bekannt, dass der Juwelenhase, der im Mittelpunkt des Buches steht, bereits am 24. Februar 1982 gefunden worden war. Dies hatte letztlich zur Folge, dass das Masquerade-Musical nach 31 Vorstellungen bis heute nicht wieder aufgeführt wurde.

Die Masquerade-Demos

Ant hatte die Masquerade-Stücke, die ihm durchaus gefielen, für die Arbeiten an 1984 erst einmal beiseite gelegt. 1984 wurde im März 1981 fertiggestellt und die Masquerade-Kompositionen rückten von April bis Juni 1981 wieder in den Mittelpunkt. Ant war der Auffassung, dass er nicht der Richtige war für das Schreiben der Songtexte und engagierte hierfür Richard Scott. Er erinnert sich: „Ich hatte zwar versucht, die Texte zu schreiben, aber die Worte kamen bei vielen dieser Stücke nicht aus dem Herzen, und so fand ich das Schreiben sehr schwierig. Wie ein professioneller Autor Texte über jedes beliebige Thema zu schreiben, ist nicht gerade meine Stärke, und so war ich ganz froh, dass ich diese Aufgabe an Richard weitergeben konnte.“

Für dieses neue Befassen mit Masquerade beschloss Ant, alle Stücke neu aufzunehmen und entschied sich dafür, hierfür ganz oder teilweise den ARP 600, den Polymoog und die Roland CR 78 Drumbox zu verwenden – die gleichen Instrumente, die er bereits für die erste Phase

von 1984 verwendet hatte. Er arrangierte nicht nur die Songs neu, die seiner Meinung nach in der ersten Version des Musicals am besten funktioniert hatten, sondern schrieb auch weitere Stücke, während sich Richard Scott mit der Handlung und den Charakteren befasste, um dem ganzen Projekt eine Struktur zu geben. (Siehe unten: Bootleg Masquerade Demos).

Die Aufnahmen für die neuen Versionen begannen mit den instrumentalen Backing Tracks im April 1981 in Send Barns. Richard Scott assistierte Ant bei der technischen Bearbeitung einiger Stücke. Es folgten die Aufnahme der Gesangsstimmen, für die Scotts Freundin Lindsey Moore gewonnen werden konnte.

5Nach dem Aufnehmen und Abmischen der Demos, wandte sich Ant dem zu, was in das nächste Private Parts and Pieces-Album mit dem Untertitel Antiques münden sollte. Ant erinnert sich daran, dass sich sein damaliger Manager Tony Smith recht positiv über einige fertige Songs äußerte. Da das Masquerade-Musical zu diesem Zeitpunkt bereits von Rod Argent geschrieben wurde, schlug Tony vor, die Stücke zu überarbeiten und zur Grundlage eines Musicals zu machen, das auf Lewis Carrolls Roman The Hunting Of The Snark basiert. Er schlug später die Alice-Romane desselben Autors vor. Ant und Richard nahmen das Projekt im Februar 1982 in Angriff. Daraus resultierte letztendlich das Musical Alice (siehe und höre Archive Collection Volume 2, Disc 2, Tracks 7 und 13).

Dass fast das gesamte Material von Masquerade nicht das Licht der Welt erblickte, seit es geschrieben und aufgenommen wurde, empfand Ant als eine Schande. Und so beschloss er, Klavierversionen von zwei Stücken aufzunehmen und sie auf Ivory Moon, dem sechsten Album der Private Parts and Pieces-Serie, im Sommer 1985 zu veröffentlichen. Er erinnert sich: „Ich emfpand es als Verschwendung, das mit diesen Stücke nichts passiert war. Tara’s Theme hatte eine schöne Melodie. Freunde von mir mochten es immer, und ich brachte es ein oder zwei von ihnen bei. Richard und ich arbeiteten daran und wollten einen Song daraus machen, was uns aber nie wirklich gelang, obwohl wir nah dran waren. Aus diesem Grund ist der Refrain etwas ‚poppiger‘, denn dieser Teil hat sich über die Jahre hinweg verändert. Und die große Ballade Moonfall war etwas, wovon wir dachten, es könnte etwas sein, das jemand wie Shirley Bassey singen könnte.“

Über eine Veröffentlichung der ursprünglichen Masquerade-Demos wurde schon seit einiger Zeit diskutiert. Ants frühere Plattenfirma Voiceprint hatte Interesse daran bekundet und Masquerade in den späten 1990er Jahren bereits als kommenden Albumtitel gelistet. Ant und Richard Scott waren diesbezüglich jedoch zurückhaltend: Würde das, was schon immer für ein Musical und nicht für ein Albumprojekt gedacht war, als CD-Veröffentlichung funktionieren? Und so blieben die Stücke leider zum wiederholten Male in der Schublade.

Im Jahr 2008 wurde die originalen 8-Spur-Master der Demos, die Ant für die erste Version des Musicals 1980 geschrieben hatte, in seinem Archiv gefunden. Diese wanderten zunächst in den Backofen (!). Die eingedrungene Feuchtigkeit konnte mittels dieses hochsensiblen Prozesses bei 50-60 Grad „herausgedampft“ und die Zerstörung der wasseranziehenden Leimschicht in weiten Teilen rückgängig gemacht werden. Anschließend wurden die Aufnahmen digitalisiert. Als die Bänder von 1980 übertragen wurden, entdeckte man, dass fünf der Demos einschließlich der Originalversionen von Moon, Sunund Tara’s Theme nicht mehr existierten, da diese Bänder von Ant bei der Überarbeitung für ein späteres Projekt im Jahr 1982 wiederverwendet worden waren.

Auf der fünften CD der Wiederveröffentlichung der Archive Collection Volume I & II erklingen nun die besten Demo-Versionen aus Phase 1 (Januar 1980) und Phase 2 (April-Juni 1981) des Masquerade-Projekts. Da das ursprüngliche Mehrspur-Master für das Demo von Craw nicht mehr existiert, wurde eine neu abgemischte Instrumentalversion des Stücks ausgewählt, das als eines der potentiellen Stücke für Alice im November 1983 aufgenommen wurde. Das einzige hier enthaltene Demo mit Gesang ist Moon’s Lament for The Sun, gesungen von der viel zu jung verstorbenen Lindsey Moore.

6Von den neuen Demo-Aufnahmen, die von April bis Juni 1981 entstanden, existiert ein Bootleg mit dem Titel Masquerade Demos, das man vor Jahren mit viel Glück auf den mittlerweile selten gewordenen Plattenbörsen erwerben konnte. Im Unterschied zu den nun offiziell veröffentlichten Versionen erklingen die 1981er Aufnahmen bis auf eine Ausnahme (Ouvertüre) alle mit Gesang – laut Credits auf dem Cover von Richard Scott, Lindsey Moore und Anthony Phillips. Explizit nennt Ant in einem Interview Richard Scott beim Song Magic Carpet als Sänger. Auf etlichen Stücken (siehe Tracklist) ist nahezu zweifelsfrei ebenfalls Richard Scott als Sänger zu identifizieren. Anthony Phillips ist zwar als Sänger gelistet, was jedoch einer intensiven Hörkontrolle nicht standhalten kann.

Trackliste des Bootlegs The Masquerade Demos:

1. Overture (Instrumental) (2:52)

2. Moon (3:28)
Vocals: Lindsey Moore

3. Sun (6:33)
Vocals: Richard Scott (?)

4. Hare (3:17)
Vocals: Lindsey Moore & Richard Scott (?)

5. Tara [Tara’s Theme] (3:47)
Vocals: Lindsey Moore & Richard Scott (?)

6. Craw (2:06)
Vocals: Richard Scott (?)

7. All Horrors [All Horrors Of The Night] (3:45)
Vocals: Richard Scott (?)

8. Moonrise[expanded version of Silver Song] (3:27)
Vocals: Richard Scott (?)

9. Masquerade (5:13)
Vocals: Lindsey Moore & Richard Scott (?)

10. Fire (6:10)
Vocals: Richard Scott (?)

11. Sir Isaac Newton (3:52)
Vocals: Richard Scott (?)

12. Magic Carpet [Yellow Carpet] (2:52)
Vocals: Richard Scott

13. Moonfall [Moon’s Lament For The Sun] (4:20)
Vocals: Lindsey Moore

14. Finale [Only A Dream] (3:36)
Vocals: Richard Scott (?) & Lindsey Moore

The Masquerade Tapes – Erstveröffentlichung 2022

Was hier so unscheinbar als „Disc Five“ daherkommt, ist nichts anderes als ein neues Anthony Phillips-Album mit fünfzehn Stücken aus dem geplanten Musical Masquerade, aus dem wir bislang nur folgende zu hören bekamen:

Tara’s Theme (Klavierfassung) auf Private Parts And Pieces VI: Ivory Moon

Moonfall (Klavierfasssung) auf Private Parts And Pieces VI: Ivory Moon

The Princess Waltz auf Private Parts And Pieces I-IV: Extra Pieces

Moonfall (Demoversion) auf Private Parts And Pieces V-VIII: Extra Pieces II

Sir Isaac(Klavierfassung) auf Private Parts And Pieces V-VIII: Extra Pieces II

Und dann gibt es da noch:

Arboretum Suite: (iv) Lights On The Hill(Instrumentalfassung des unveröffentlichten Songs Masquerade) auf Private Parts And Pieces IV: A Catch At The Tables.

Aus Lights On The Hillwurde der Song Masquerade. Und aus dem Song Masqueradewurde der Song Walls And Bridges im Musical Alice. In Fankreisen kursiert eine Aufnahme von Walls and Bridges.

Aber nun zu den Tracks auf CD 5 der Archive Collection-Neuauflage:

71. Overture (2:53)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Keyboard-Arpeggios im Intro, bei 0:20 kommt eine Basslinie hinzu, ab 0:40 Alan Parsons-artige Akkorde. Ab 1:12 klingt es dann nach Anthony Phillips der frühen Achtziger Jahre, was vermutlich daran liegt, dass dieses Stück in den frühen Achtziger Jahren entstand und aufgenommen wurde. Ab 1:25 folgt eine hohe Keyboardmelodie, ab 1:35 wird es rhythmischer. Ab 2:02 übernimmt die E-Gitarre die Melodieführung. Ab 2:30 steigert sich das Stück nach einem Rhythmuswechsel zum Finale. Unglaublich, was man in eine knapp dreiminütige Overture alles hineinpacken kann.

2. Moon (3:31)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Größtenteils locker-flockig-fröhlich erklingt das Playback für das Lied der „Mondin“, eine der Hauptfiguren im Buch und im Musical. Im Mittelteil (ab 2:15) wechselt das Stück in einen beschwingten Walzer-Rhythmus, um dann wieder leicht verlangsamt musikalisch zum ersten Teil zurückzukehren.

3. Sun (6:35)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Bedrohliche Keyboardklänge zum Einstieg. Die akustische Gitarre löst die Bedrohlichkeit auf. Gitarrenthemen und Stimmungen wechseln sich ab. Ab 1:43 erklingt das Stück rhythmischer und dichter arrangiert. Ab 4:12 wird es wieder düster und unheilschwanger. Ein sehr interessantes, abwechslungreiches Playback für das Lied des „Sonnenmanns“, der zweiten Hauptperson von Masquerade.

4. Tara’s Theme (3:25)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

In der Geschichte trifft Jack Hase (Jack Hare) auf Tara Baumkrone (Tara Treetops) und deren Freund, den Raben Kropf (Crow). Tara’s Theme, das hier ein wenig nach Vorabendserien-Titelmusik klingt, ist uns von der Klavierfassung auf Private Parts And Pieces VI: Ivory Moon bereits wohlvertraut. Die Demovariante ist üppiger instrumentiert und vermag auch in diesem Arrangement zu gefallen. Beide Versionen dieses Playbacks haben ihren besonderen Reiz und werden ihren Platz in der Welt des Anthony Phillips-Publikums finden.

5. Craw (2:05)
aufgenommen November 1983 (geplant für das Musical Alice)

Ein Ragtime mit einem Hauch von Golliwogg’s Cake-Walk aus Debussys Children’s Corner, bei dem vor dem inneren Auge der Rabe Kropf (Craw) über die Bühne tänzelt, um am Ende innezuhalten. Dieses Stück wird von Ant ausschließlich auf dem Klavier gespielt. Auf der offiziell unveröffentlichten Bootleg-Version von 1981 singt Richard Scott (?) mit südamerikanischem Akzent. Aus heutiger Sicht vermutlich politisch komplett unkorrekt.

6. All Horrors Of The Night (4:26)
aufgenommen Januar 1980

Ein fulminantes, rhythmisches Klavierstück mit einem Intro im 6/4-Takt, das gar nicht so viel Angst und Schrecken verbreitet, wie uns der Titel weismachen möchte. Als Hörer fragt man sich, warum diese grandiose Komposition so lange auf seine Veröffentlichung warten musste. Wer ganz genau hinhört, nimmt die Geräusche wahr, die von Ants langen Gitarristenfingernägeln erzeugt werden. Ein unlösbares Dilemma für Musiker und Musikerinnen, die Gitarre und Klavier spielen. In der Geschichte missachtet die „Mondin“ die Gravitationsgesetze und löst beim Verlassen ihrer Bahn Angst und Schrecken bei Mensch und Tier aus.

7. Penny Pockets (3:24)
aufgenommen Januar 1980

Ant erhebt sich vom Klavierhocker und greift beherzt zur Gitarre, bzw zu den Gitarren. Wie Moon ist Penny Pockets von einer positiven Atmosphäre gekennzeichnet, die nur durch ein kurze Moll-Passage im Mittelteil sanft überdeckt wird. In der Geschichte trifft Jack Hase auf die Pfennigtaschendame (Penny Pockets), die ihm bei der Suche nach dem Sonnenmann weiterhilft.

8. Hare B Minor (2:43)
aufgenommen Januar 1980

Überaus virtuos bewegt Ant seine Finger auch in diesem Stück übers Klavier. Für ein Klavierstück in moll kommen in Hare B Minor erstaunlich viele Dur-Töne vor. Über ein paar kleine rhythmische Wackler in Ants Spiel hören wir großzügig hinweg. Ist ja „nur“ ein Demo. Auch hier hört man wieder Ants Fingernägel auf den Tasten „klackern“. Unschön ist das Fadeout. Aber sind Fadeouts nicht fast immer unschön? „Ein Stück muss einen Schluss haben“ sagt der Musikanalytiker Hans Tausendfischler. Recht hat er.

9. Destiny (3:49)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Ein geradezu hymnisches, klavierlastiges Stück mit mehr als nur einem Hauch von Beatles und From Genesis To Revelation. Das Demo verlangt geradezu nach weiterer Ausarbeitung.

10. Fire (4:43)
aufgenommen Januar 1980

Ein perkussives Klavierstück mit etlichen Takt-, Rhythmus- und Tempowechseln, das man sich gut in einem Arrangement für Orchester und Bläser vorstellen kann. In der Geschichte trifft Jack Hase auf den Praktischen Mann (The Practical Man), der mit einem Brennglas ein Feuer entfacht.

11. Yellow Carpet (3:16)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Aus dem Playback Yellow Carpetentwickelte sich der unveröffentlichte Song Magic Carpet. Das verschrobene Gitarrensolo ab 1:36 gibt dem Stück seine besondere Note. Ab 2:29 läuft Rolands Schlagzeugmaschine (CR78 – nicht zu verwechseln mit CR7) zu Hochform auf. In der Geschichte erhält Jack Hase von der Wasserfee den Rat, auf seinem Weg zum Sonnenmann über einen gelben Teppich am Flussufer zu rennen.

12. Masque Moon (4:27)
aufgenommen Januar 1980

Ein zweiteiliges, majestätisch-feierliches Klavierstück, das ausgearbeitet zu einer Hymne werden könnte.

13. Moon’s Lament For The Sun (4:23)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Ein klein wenig Mad Man Moon schwingt mit, wenn Lindsey Moore dieses wehmütig-wunderschöne Klagelied der „Mondin“ an ihren geliebten Sonnemann mit ihrem einfühlsamen Gesang zu einem weiteren Höhepunkt der Masquerade-Demos werden lässt.

14. Last of the Heavy Hares (4:02)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Ein lebhaftes, melodienreiches Stück im vertrauten Anthony Phillips-Synthesizersound der frühen Achtziger Jahre.

15. Only A Dream (3:37)
aufgenommen April/Mai/Juni 1981

Das letzte der insgesamt 101 (!) Stücke, das uns in der üppigen Archive Collection Volume I & 2 zu Ohren kommt. Diesem schon recht weit ausgearbeitete Demo fehlen merklich die Melodielinien und der Gesang, die erst in dem (noch?) unveröffentlichten Song Finale ertönen sollten.

Fazit

Es ist unerklärlich, warum uns Anthony Phillips die überaus beeindruckenden Masquerade-Demos so lange vorenthielt. Umso erfreulicher, dass dies nun endlich geschah. Leider wird uns eine offizielle Veröffentlichung der hochinteressanten 1982er Demos verwehrt, die nur eine Handvoll Fans durch das oben beschriebene ultra-rare Bootleg kennt. Warum wurden die Masquerade-Demos aus beiden Aufnahmephasen nicht als Archive-Doppel-Album veröffentlicht? Dies geschieht dann dereinst vermutlich wie gewöhnlich hübsch verteilt auf diversen Private-Parts-And-Pieces-And-Missing-Links-Extra-Bonus-Spezial-Limited-Re-Realease-Editions. Ach, Ant, mach es uns doch nicht immer so schwer!

zurück zum Übersichtsartikel.

Archive Collection Volume I & II ist als 5CD-Boxset bei JPC und Amazon sowie in Großbritannien direkt bei CherryRed erhältlich.

Autor: Bernd Vormwald
Redaktion: Helmut Janisch und Christian Gerhardts
Grafikadaption: Helmut Janisch