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Steve Hackett – Wuppertal 2023: Genesis Revisited mit Orchester und Chor – Konzertbericht
Im April 2023 spielte Steve Hackett mit seiner Band drei besondere Shows mit Orchester und Chor in der Historischen Stadthalle Wuppertal. Thomas Jesse schildert seine Eindrücke.
Vorbemerkung:
Drei ganze Jahre warten auf ein musikalisches Ereignis, das unter keinem guten Stern zu stehen schien. Die Pandemie ließ es immer wieder verschieben. Hotel- und Zugbuchungen mussten storniert werden, Frau und Tochter konnten und wollten schließlich nicht mit, dafür mein alter Schulfreund.
Dann fuhr der gebuchte Zug nicht, die Hotelreservierung wurde an eine falsche E-Mail-Adresse geschickt und die Konzertkarten waren nach drei Jahren verlegt worden. Ich fand sie schließlich Dienstag vor dem Konzertwochenende in einem Buch in den Tiefen eines Bücherregals.
Nun, diese dunklen Wolken lösten sich in der Wuppertaler Abendsonne am Freitag auf.
Doch, dann Steves Ansage, dass er sich die Hand verletzt und Amanda erkältungsbedingte stimmliche Probleme habe? Ach und die Band musste getrennt anreisen, da ihr Flug gecancelt worden war.
Egal, Vorhang auf, lasst die Konzerte beginnen.
Location:
Die historische Stadthalle in Wuppertal erinnert mich als Berliner ein wenig an den Reichstag, kleiner, ohne Kuppel, aber ebenso ein Repräsentativbau aus der Gründerzeit, klassizistisch mit herrlichen Wandgemälden des Jugendstils im Innern, schnörkelhaften Intarsien, riesigen Kronleuchtern (hey: chandelier!) und marmornen Fußböden. So thront sie als Zierde über Wuppertal. *1
Ja, Wuppertal, die alte Metropole der Textilindustrie, muss einmal sehr wohlhabend gewesen sein. *2
Setlist:
Ich war über Meldungen und die (falsche) Ansage (ich beziehe mich auf Freitag), dass das komplette Selling England By the Pound Album gespielt werden würde, nicht erbaut. Dies hatte Steve bereits 2019 getan und aktuell beehrt er das Publikum mit Foxtrot in voller Schönheit. Für die Darbietung mit Orchester und Chor wünschte ich mir mehr Vielfalt – und wurde erhört. Man besann sich auf die originale Setlist der Orchester Tour 2018, also auch mit dem Gral der Genesis-Musik, Supper’s Ready. Möglicherweise war der Grund dafür die vorhandene Vorlage der Notation, der Arrangements, die Dirigent Thachuk mit Steve erarbeitet hatte. *3
Bühne / Sitzordnung:
Ich saß in der ersten Reihe mittig auf der Galerie mit wunderbarem Blick über den Saal auf die Bühne. Die Staffelung, vorne die Band, dahinter das Orchester und darüber der Chor, versprach akustisch sehr viel. Die Streicher des Orchesters fanden sich hinter der Band, von links nach rechts Violinen, Celli, Bratschen, schließlich Bässe, und, dahinter dann die Blasinstrumente, den Abschluss bildeten Pauken und Perkussion. Mit dem Chor waren ca. 75 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne.
Der Chor betrat als erstes die Bühne, dann folgte das Orchester. Nach der Ansage erschienen unter frenetischem Applaus schließlich Dirigent Thachuk, Steve und Band.
Konzert:
Die Halle wurde in lava-rotes Licht getaucht und die ersten Akkorde von Dance On A Volcano ertönten. Am Freitag verpatzte Nad (wie damals in London) seinen Einsatz, bzw. musste die Position des Mikrofons zurechtrücken. Alles ging zunächst in einem Soundbrei unter. Die Tontechnik regulierte schnell nach und in der Mitte des Songs wurde es besser. Am Samstag gab es diese Probleme nicht mehr. Kraftvoll war diese Darbietung, ohne Lücke, Leere zwischen den Versen, den Soli, des Spiels der Band. Dieser Effekt wird mit dem Orchester erreicht und vom Chor veredelt. *4
Schon die bunte Farbenpracht der Lightshow bei diesem Song kontrastierte herrlich mit der Stuckdecke, den arabeskenartigen Schnörkeln der Wände. Meine Augen wussten nicht, wohin sie zuerst blicken sollten.
Es folgten mit Out Of The Body und The Steppes zwei Solo-Nummern von Steve. Mit The Steppes erklang ein Highlight des Abends. Band, Orchester und Chor verschmolzen zu einer Einheit. Ich meinte die Weite der Steppe mit ihrem ganz eigenen Sound zu hören. Magisch! Ich habe dieses instrumentale Stück nie so kraftvoll, warm, organisch gehört.
Es blieb kaum Zeit zum Luft holen, denn nun folgte mit Firth Of Fifth DAS sinfonische Stück von Genesis. Hier nun zeigte es sich, wie sehr ein Chor diese wunderbare Musik veredeln kann. Mit seinen Mellotron-Stimmen ist es wie gemacht für ein Chor, aber livehaftige menschliche Stimmen sind nicht zu ersetzen. Man muss sich nur den Einsatz des Chors ab Minute acht während Steves Solo anhören. Mir fällt nur ein Begriff ein: Engelsgleich! Ich meine gesehen zu haben, wie glücklich lächelnd und ergriffen sich Steve umdrehte und sich gegenüber dem Chor verbeugte. Nicht nur er war ergriffen! Als das bombastische, wagnerianische Finale erklang, schämte ich mich meiner Tränen nicht. Das Publikum raste.
Mit Dancing With Whe Moonlit Knight kam Nads Sternstunde. Nicht nur wie er die ersten Strophen Acapella singt, verdient hohe Anerkennung. Nun war er sicher, intonierte gut. Apropos: Nad verzichtete vollkommen auf seine geckenhaften Manierismen. Er war in einem schlichten schwarzen Hemd gekleidet und verhielt sich dem Ambiente entsprechend distinguiert. Auch dieses Stück von Selling England By the Pound wurde vom Chor veredelt und ließ den Vergleich mit den Bayreuther Festspielen aufkommen. Ab „..You know what you are, you don’t give a damn“ setzt der Chor ein, geisterhaft umwebte er Nads Gesang, wurde von Steves Gitarre empfangen, um mit den Violinen das Stück voranzutreiben. Nach der Instrumentalpassage bei „There’s a fat old lady outside the saloon“ war es der Chor, der unvergleichlich die „Stimmung machte“ Gänsehaut pur. Ganz lange mit vielen kleinen instrumentalen Gimmicks klingt das Stück aus und lässt den Hörer/die Hörerin hypnotisiert zurück.
Nun nahm sich Steve einen Hocker und griff zur akustischen Gitarre. Er kündigte Blood On The Rooftops an – mit einer Entschuldigung, dass er aufgrund einer Verletzung seiner linken Hand nicht das Intro spielen könne. Ein kleiner Wermutstropfen. Doch, wie berührend sanft, schön und dezent wurde das Stück dargeboten. Ein klug gewählter Kontrast zu den beiden bombastisch – orchestralen England By the Pound – Stücken. Die Streicher und Holzbläser übernahmen viele Keyboardparts, luden zum Träumen und Versinken in Melancholie ein.
Da ich die Setlist kannte und wusste, dass Amanda Lehmann mit von der Partie war, atmete ich tief durch, denn nun kam Shadow Of the Hierophant in seiner ganzen progressiven Schönheit. Steve kündigte seine Schwägerin mit den Worten an, wir mögen Verständnis haben, dass sie aufgrund einer Erkältung ihre Stimme nicht so wunderschön wie gewohnt entfalten könne. Hätte ich geahnt, dass sie die folgenden Konzerte nicht mehr singen konnte, wäre mein Enthusiasmus noch größer gewesen. Mir fehlen über die dargebotene Performance des Stücks noch immer die Worte.
Habe ich damals in London 2018 nach dem Ausklang der Klangkaskaden noch lange in einer anderen Welt geschwebt, so halten mich diese der Wuppertaler Version heute noch immer umschlungen. Ist das Steve Hackett am Zenit seines Könnens? So verzückt er spielte, seinen Mitmusikern zunickte und am Ende kurz schwieg und sich tief verbeugte, kann man diese Frage nur mit „ja“ beantworten. Es entstand ein warmer, organischer, volltönender Klang, der die ehrwürdige Stadthalle in ihren Grundfesten erschütterte. Ja, ein musikalisches Beben, welches uns Zuhörer*Innen in die Pause entließ.
Mit einem Schlagzeugwirbel beginnt ...In That Quiet Earth und damit Hälfte zwei der Konzerte. Sehr schön spielt sich Steve in den Vordergrund, wieder ersetzt das Orchester Keyboardparts. Dabei stechen die Streicher hervor. Natürlich wird das bombastische Instrumentalstück von Afterglowabgelöst. Nads Gesang findet sich eingebettet im Chor. Das Orchester begleitet die Band in ungeahnte harmonische Höhen. War das Afterglowin London schon unbeschreiblich, so ist dieses hier so bewegend, so fantastisch, dass es nie enden möge. Ich wage die blasphemische Äußerung, selbst Genesis haben es nie besser hinbekommen.
Mit dem Serpentine Song betritt Amanda wieder die Bühne, um (am Freitag) Harmoniegesang und die zweite Gitarre zu übernehmen. Unauffällig geht dieser, fast poppige, geigenbetonte Song vorbei. Er wird abgelöst vom instrumentalen El Nino mit seinen nahöstlichen Klängen. Ich muss zugeben, hier etwas an Aufmerksamkeit verloren zu haben. Wartete ich doch auf Supper’s Ready.
Es begann abrupt, mit einem Schlag auf der Gitarre. Richtig, Steve hatte ja Probleme die akustische Gitarre zu spielen. So fiel das lange Intro mit den Zwölfsaitern aus. Dennoch wurde es eine Tour de Force der Klänge, der Sounds, der Rhythmen. Ich möchte hier auf meine Äußerungen zur Show in London verweisen. Damals hatte ich gedacht, dass diese Version nicht zu toppen sei. Doch weit gefehlt! Der Chor veredelte das damals Gesagte/heute Gespielte engelsgleich zart, schlachten – getümmelsgleich laut.
Er bekommt sein „Solo“ mit: „We will rock you, rock you little snake. We will keep you snug and warm“ Nad erwies mit seinem Gesang Peter alle Ehre. Die Band spielte aus einem Guss. Das Orchester setzte den Punkt auf das i in den dramatischen Wendungen von Willow Farm, Apocalypse in 9/8 und As Sure As Eggs Is Eggs. Endlich endet das Getöse der überirdischen Mächte in der Erlösung um das neue Jerusalem. Ja, ich habe in der Stadthalle den Engel in der Sonne stehen sehen und wollte ihm folgen. Es war unfassbar bewegend, ergreifend schön!
Nach nicht enden wollendem Applaus spielte die Band, zunächst ohne Orchester, ein routiniertes The Musical Box. Ich finde es belustigend, dass viele Besucherinnen und Besucher noch immer nichts mit den Tönen einer Musikbox, die Steve seiner Version als Intro „schenkte“, anfangen können. Ungläubig wird gestaunt und erst bei den gewohnten Klängen gejubelt. Steve entlockte seiner Gitarre jauchzende Klänge. Er war während des ganzen Konzerts der unscheinbare Spiritus Rector, kongenial unterstützt von Dirigent Brad Thachuck. So fanden gelungene Konzertabende in ohrenbetäubenden minutenlangen Jubel und Applaus mit Blumen für die Musikerinnen und Musiker ihr Ende.
Nachklang
Auch der Samstag, an dem Nad noch besser sang, Band, Orchester und Chor noch einen Tick besser aufeinander abgestimmt waren, hinterließ o.g. Eindrücke. Der Klang war oben auf der Empore etwas besser als auf dem Parkett unten – was vor allem daran lag, dass Chor und Orchester besser zur Geltung kamen bzw. im Gesamtsound optimaler eingewoben waren.
Wie soll ich nur meine Gefühle beim Hören, nein: Aufnehmen dieser großartigen Musik beschreiben? Wie, ohne das Gehörte auf irdisches Maß zu reduzieren? In der Zeit von Genesis mit Peter waren es die unglaublichen visuellen Eindrücke des Rocktheaters, Peters Masken mit einer für die damalige Zeit visionären Lightshow, die für Furore sorgten; für Genesis mit Phil als Sänger erlangte die perfekte Live-Umsetzung der Musik Ruhm und nun?
Wie ist es nun mit dieser Präsentation eines ehemaligen Mitglieds von Genesis mit seiner feinen Band, Orchester und Chor? Gewiss ein weiter Höhepunkt im großen Genesis-Universum. Ein Höhepunkt, der gleichberechtigt neben den Shows der Vergangenheit steht.
Auch jetzt noch, Tage danach, erstaunt mich die gelungene Verschmelzung von Band, Orchester und Chor zu einem fulminanten Organ der Musik, ihrer Fusion von E und U.
Jeder/Jede, der/die da war, kann sich glücklich schätzen, etwas Wunderbares, Historisches in Sachen Genesis-Musik erlebt zu haben.
Schlussbemerkung
Darf ich einen Wunsch äußern? Ich würde dieses Ensemble gerne in der Berliner Philharmonie hören.
Der Klangraum dort ist einzigartig. In der Stadthalle meinte ich, hin und wieder einen leichten Hall vernommen zu haben. Ach was, schließlich hat Sir Simon Rattle ihren Klang gelobt! *
Ich werde wieder kommen!
Anmerkungen:
1. Zur Historischen Stadthalle: https://www.stadthalle.de/de/das-haus/baukultur/
2. Sehenswert das Engels – Haus: https://www.mi-wuppertal.de/museum/engelshaus
und als Beispiel der Industriekultur: https://www.wuppertal.de/tourismus-freizeit/schwebebahn/schwebebahn.php
3. Vergleiche auch: https://www.genesis-fanclub.de/c-Steve-Hackett-Mit-Orchester-Genesis-Revisited-in-der-Royal-Festival-Hall-London-2018-Bericht-s806.html
4. Siehe *3. Im Folgenden habe ich versucht, Doppelungen mit dem o. g. Bericht zu vermeiden. Vergleiche durch den/die Leser*in sind natürlich sinnvoll.
5. Siehe *1
Autor: Thomas Jesse
Fotos: Michaela Ix
Für Robert. Danke für das Vorspielen von Foxtrot 1978. Einen besseren Freund kann es nicht geben.