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Steve Hackett – The Night Siren – Album Info & Rezension
Steve Hackett legt nur zwei Jahre nach dem letzten Studioalbum Wolflight den Nachfolger vor. Er selbst bezeichnet The Night Siren als Weckruf, Christoph Laakmann hat sich dazu eine eigene Meinung gebildet.
Steve Hacketts Präsenz und Produktivität gerade der letzten Jahre sind beachtlich: Der 67-Jährige tourt fleißigst um die Welt, spielt neue Studio-Alben ein, bringt alte neu heraus, veröffentlicht Live-Mitschnitte und kollaboriert zwischendrin auch noch mit anderen Künstlern, dass man sich einfach darüber freuen kann, wie viel unermüdlicher Vollblutmusiker in ihm steckt. Wer den Mann in gut besuchten und gar nicht mal kleinen Konzertsälen auf der Bühne sieht, wer darüber hinaus verfolgt, wie er sich über seine Arbeit, den positiven Zuspruch des Publikums und nicht zuletzt seine dritte Ehefrau Jo äußert, die sowohl private Lebensgefährtin als auch kreative Partnerin ist, kann zu dem Eindruck gelangen, dass es dem sympathischen Engländer derzeit kaum besser gehen könnte.
Und doch wird die anstehende Veröffentlichung seines neuen Albums The Night Siren (VÖ-Datum: 24.03.17) von sehr nachdenklichen Promo-Tönen weltpolitischer Relevanz begleitet: Hackett, ein auch unabhängig von Tournee-Terminen leidenschaftlich Reisender, der für sich das Ethos eines grenzenlos agierenden Musik-Migranten in Anspruch nimmt, kritisiert die Zunahme von Extremismus und nationalistisch motivierter Abschottung, zeigt sich als weltoffener Anti-Protektionist, als besorgter Brexit-Gegner und rückt zudem die global drängende Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingsbewegungen in den Vordergrund. Für ihn stellt sein jüngstes Werk eine Art Weckruf in finsteren Zeiten dar, ein Zeugnis der Möglichkeiten multikultureller Begegnung, die auf künstlerischer Ebene beispielhaft für umfassendere Lebensbereiche sein kann.
So passt es ins Bild, dass die Liste seiner musikalischen Wegbegleiter und deren Instrumentarium auf diesem Album besonders lang sowie international ausfällt und dass Aufnahmen hierfür laut seiner Frau Jo nicht nur im heimischen Studio (ein neues werde derzeit geplant) stattfanden, sondern partiell z.B. auch in Israel, den USA, Ungarn und auf Sardinien. Der Text von Behind The Smoke fokussiert emphatisch die krisenhafte Ausnahmesituation, in welcher sich Flüchtlinge befinden, die ihre zerstörte Heimat verlassen und sich ins Ungewisse begeben müssen. Und im Song West To Eastsingen der Israeli Kobi Farhi (wirkte u.a. schon mit Steven Wilson zusammen) und die palästinensisch-stämmige Mira Awad, die sich seit geraumer Zeit für den friedlichen Ausgleich zwischen Arabern und Israeliten einsetzt, quasi als symbolische Verkörperung ideologischer Grenzüberwindung zusammen. Schöne Sache.
Worauf konkret darf sich der Hörer von The Night Siren nun musikalisch gefasst machen?
Christian Gerhardts schließt seine überwiegend positive Rezension zum Vorgänger-Album Wolflight mit dem Hinweis darauf, Hackett solle sein Publikum hinsichtlich Sound und Produktion doch mal wieder überraschen, seine bewährten und zunehmend ausgereizten Pfade zugunsten einer Weiterentwicklung verlassen. Fast wie eine inhaltliche Entgegnung schickt das InsideOut-Label The Night Siren im Pressetext voraus, der Engländer gehöre sicherlich nicht zu denjenigen etablierten Musikern, welche dauerhaft in ihrer künstlerisch eingerichteten Komfortzone verharrten: „This can never be said of Steve Hackett.“
Um es vorwegzunehmen: Aber doch. The Night Siren klingt von A bis Z nach Komfortzone und bietet grundsätzlich so gut wie alles, was man von einem typischen Hackett-Album im Jahr 2017 erwarten würde.
Stilistisch betrachtet, hört man die gewohnte Mixtur aus verspieltem Rock mit Jazz-, Klassik- und (zum Teil volkstümlichen) Weltmusik-Einsprengseln. Einige Passagen klingen dabei erneut stark nach Filmmusik. Es ist die Art von Eklektizismus, in welcher es zu keiner wirklichen Symbiose der Genres kommt – und wer Hackett kennt, weiß, dass dies auch gar nicht beabsichtigt ist. Die nächtliche Sirene tönt insgesamt durch und durch rockig. Entsprechend muss man den Einsatz mehr oder weniger exotischer Instrumente wie Didgeridoo, Uillean Pipes (irischer Dudelsack), Oud, Charango, Sitar und Tar (alles außereuropäische Saitenklinger) einordnen: Ganz abgesehen davon, dass einige von ihnen auch schon auf diversen Vorgängeralben zu finden sind, geht es hier lediglich um Exotismen – um recht kurze Momente oder kleinere Parts, welche das Kolorit der Gestaltungspalette ergänzen, das stilistisch-kompositorische Wesen der Musik jedoch substanziell fast unberührt lassen.
Die Arrangements, erneut in enger Zusammenarbeit mit Keyboarder und Computertüftler Roger King entstanden, werden in typischer Weise von sehr massiv wirkenden Sounds dominiert: von knallig-halligen Beats und mächtigen Trommelkaskaden (aus z.T. programmierten Drums), häufigem Einsatz dick aufgetragener synthetischer Streicherklänge, üppigen Harmoniegesängen/vokaler Mehrstimmigkeit und nicht zuletzt den überwiegend kraftvollen und auf klangliche Brillanz hin inszenierten Gitarren. Zusammen mit den übrigen akustischen und synthetischen Elementen ergibt sich ein aufwändig produziertes und voluminöses Zusammenspiel aus menschlichem Touch und technischer Konstruktion, wie es Hacketts Vorstellungen grundsätzlich zu entsprechen scheint. Erfreulich ist, dass die sehr gut programmierten Drums hochwertiger und natürlicher klingen, als dies auf früheren Aufnahmen der Fall ist. Die Wechsel zwischen ihnen und akustischem Schlagzeug fallen kaum unangenehm auf – es bleibt für den Nichtspezialisten sogar die Frage, ob sie an allen Stellen sicher zu identifizieren sind.
Nicht nur Roger King gehört zu den üblichen Verdächtigen, mit denen sich Hackett beim Recording erneut umgeben hat: Gary O’Toole (dr), Rob Townsend (div. Holzblasinstrumente), Amanda Lehmann (voc), Dick Driver (Double bass), Christine Townsend (vl, va), John Hackett (fl)und nicht zuletzt seine Frau Jo (voc + lyrics) – so die Aufzählung derjenigen Künstler, die an mehr als einem Track beteiligt sind. Ebenfalls ein Indiz dafür, dass Hackett auch nach Wolflight schlicht keine Notwendigkeit für tiefgreifendere Veränderungen sah. Seine aktuelle Arbeit beruht in verschiedener Hinsicht auf für ihn offenbar bewährten Grundpfeilern.
Alles in allem nun also ein verzichtbares „more of the same“? Wird sich das Album nur als eines von vielen unauffällig in das Solo-Werk einreihen?
Hackett selbst äußert sich völlig klar darüber, dass es zum einen generell schwierig ist, musikalisch noch etwas gänzlich Neues zu machen. Zum anderen betont er aber, dass dies auch gar nicht die entscheidende Frage sei. Und The Night Siren gibt ihm zum Teil Recht: Bei aller Vertrautheit seines Personalstils klingt vieles trotz der erwartet aufgedonnerten Produktion agil und frisch, um nicht zu sagen: catchy. Natürlich kann ein wuchtiges Instrumental wie El Niño entfernt an Stellen aus Clocks –The Angel Of Mons oder Please Don’t Touch erinnern, aber es ist deswegen weder automatisch schlechter noch überflüssig: weil der Track dennoch einen spürbar eigenen Flow entwickelt, weil er den Hörer auf einen kurzen, aber mächtigen Trip ins Auge des Sturms mitreißt – weil er für sich genommen einfach gut funktioniert und mit seinem eingängigen Thema und der kurzweilig-wirkungsvollen Melodik sogar Ohrwurmqualitäten hat.
Überhaupt ist das Songwriting nur wenig ausladend oder gar langatmig, sondern konzentriert und dabei abwechslungsreich. Schema F gibt es so gut wie gar nicht: Der Hörer weiß nie, welche Idee, welche Wendung Hackett als Nächstes parat hat und wie sich ein Song bis zum Schluss entwickelt. Viele Stücke bekommen irgendwo in der Mitte eine neue, kaum zu antizipierende Richtung oder zumindest einen aufgefrischten Ausgangspunkt für eine Schlusssteigerung (oftmals in Verbindung mit einem Gitarrensolo). Dies gilt selbst für ansonsten relativ geradlinige Kompositionen wie Anything But Love, in denen Hackett zeigt, dass er einen gewissen Pop-Appeal in unverschachtelte, den Vorwärtsdrive bewahrende, aber dennoch kaum stereotypische Formen gießen kann. Ähnlich im Uptempo-Song Martian Sea: Hier geht es zunächst so straight zur Sache, dass die erste Reihung von Intro, Strophe und Refrain bereits nach 45(!) Sekunden erledigt ist. Passenderweise spielt Hackett darin kurz darauf noch ein knackig-fetziges Solo, welches ihn einem ausgelassenen Spaß-Rock’n’Roller so nahe kommen lässt wie kaum je zuvor. Dann aber mischt sich plötzlich die Sitar ein mit der Folge, dass der Track einem tradierten Strophe-Refrain-Schema ausweicht und stattdessen in einem sich zum Doppelsolo steigernden mixolydisch exotisierten Dialog von westlicher E-Gitarre und östlicher Langhalslaute endet. Zwar befindet sich die Sitar auch schon seit Längerem in Hacketts Instrumentensammlung – aber wie und in welchem Kontext er sie hier einbringt, ist wirklich hübsch gelungen und nicht etwa wiedergekäut.
Dass das Saitenspiel auf The Night Siren exzellent ist, wird niemanden verwundern, der die Karriere des Ex-Genesis-Gitarristen in den letzten Jahrzehnten auch nur halbwegs verfolgt hat. Gerade bezüglich Phrasierung und Timing hat sich Hackett beständig weiterentwickelt, sodass jede Linie und jede Figur auch im Sinne künstlerischer Ausdrucksfähigkeit hundertprozentig sitzt. Das abschließende Gitarrensolo des Openers Behind The Smoke ist schlicht grandios und weist den seltenen Rang des Könners aus, der nicht nur – und schon gar nicht selbstzweckhaft – technisch glänzt, sondern vor allem musikalisch tragfähige Ideen hervorbringt, die trefflich und faszinierend gestaltet sind.
Noch eine Extra-Erwähnung ist der Lead-Gesang wert, denn auf keinem seiner Alben klingt Hacketts Stimme kräftiger, ausgebildeter und demnach präsenter. Er hat mit der Zeit offenbar ein gutes Gespür dafür gewonnen, was er seiner Stimme abverlangen kann. Beispielhaft hierfür ist das ruhige, vokal dominierte Other Side Of The Wall, dessen einstimmige Passagen bei aller Schlichtheit durchaus ausdrucksvoll und gut anhörbar sind. Da hätte es einiger technischer Effekte gar nicht gebraucht.
Fazit:
The Night Siren ist nicht der Weckruf, den der Titel ankündigt. Der in diesem Sinne wohl (gut) gemeinte Weltverbesserungsrefrain aus der Hymne West To East ist leider nicht mehr als ein zu seicht-pathetisch geratenes Rockklischee. Die arg vertrauten künstlerischen Ausdrucksmittel, derer sich der Maestro bedient, können bei langjährigen Fans womöglich etwas Überdruss auslösen. Das Neue stammt hier definitiv aus Hacketts altem musikalischen Wohnzimmer, in dem er sich hörbar gestaltungssicher fühlt. Und in diesem Wohnzimmer befinden sich auch ein paar kürzlich angebrachte Regale mit den jüngst mitgebrachten Reise-Souvenirs aus aller Welt, die bei passender Gelegenheit dann kurz hervorgeholt werden.
Das ist die eine Seite.
Die andere ist, dass es kein Solo-Album mit Eigenkompositionen nach Spectral Mornings gibt, welches man dem neuen unbedingt vorziehen müsste. In puncto Qualitätsdichte des Songwritings und seiner klanglichen Umsetzung befindet sich The Night Siren im Vergleich sogar ziemlich weit vorn. Eine Reihe von Kritikpunkten, die für diese Produktion angeführt werden können, gilt sicherlich z.T. noch stärker ausgeprägt für frühere.
Hackett gewinnt seinem Personalstil kurz gesagt noch einige weitere gute Songs ab. Wer also einen Ohren-Reset durchführt, um nicht ständig die übrige Diskographie im Geiste mitlaufen zu lassen, hört sehr wohl, dass vieles eben zur wirklich passenden Gelegenheit aus den über Jahre hinweg reichlich angefüllten Wohnzimmerregalen geholt wurde und somit die überwiegende Anzahl der Tracks stark nach Hackett klingt, aber eigenständige und stimmige Kompositionen sind. Gerade die ausgelassen-rockigen Parts wie der von positiver Energie strotzende Schlussteil des südamerikanisches Flair verbreitenden Inca Terra sowie die soundmäßig eher schlanker gehaltenen Momente stechen hervor. Aber auch ein dem Prog nahestehender Song wie Fifty Miles From The North Pole, dessen entspannt groovender Beginn sich zu einem unerwarteten Musikdrama entwickelt, entpuppt sich als besonderer Anspieltipp. Zudem muss man lobend sagen, dass das Programming Roger Kings und Hacketts Gesang wohl noch nie so gut waren wie auf The Night Siren. Im Sinne einer Verfeinerung der bewährten Arbeitsprozesse zeigt sich hier womöglich auch einmal ein Vorteil der eingerichteten Wohlfühlzone.
Abschließend wäre dennoch zu wünschen, dass Hackett sein Selbstbild des Künstler-Migranten auf einem sicherlich zu erwartenden Nachfolgealbum ausgeprägter und experimentierfreudiger in Musik umsetzt – indem er auch vor seinen eigenen Grenzen nicht Halt macht.
Autor: Christoph Laakmann
Tracklist:
01 Behind the Smoke
02 Martian Sea
03 Fifty Miles from the North Pole
04 El Niño
05 Other Side of the Wall
06 Anything but Love
07 Inca Terra
08 In Another Life
09 In the Skeleton Gallery
10 West to East
11 The Gift
Musiker:
Steve Hackett – electric & acoustic guitars, oud, charango, sitar guitar, harmonica, vocals (1 – 11)
Roger King – keyboards and programming (1 – 10)
Amanda Lehmann – vocals (1,2,3,6,7,8,9,10)
Christine Townsend – violin, viola (3, 4, 5, 7, 9, 10)
Rob Townsend – baritone & soprano sax, flute, flageolet, quena, duduk, bass clarinet (1, 4, 7, 9)
Gary O’Toole – drums (3, 4, 10)
Nick D’Virgilio– drums (2)
Gulli Briem – drums, cajon, percussion (7,9)
Mira Awad – vocals (10)
Leslie-Miriam Bennett– keyboards (11)
Troy Donockley – Uilleann pipes (8)
Dick Driver – Double bass (3,4,5,7)
Nad Sylvan– vocals (7)
Kobi Farhi – vocals (10)
Benedict Fenner – keyboards and programming (11)
Jo Hackett – vocals (10)
John Hackett – flute (2,10)
Ferenc Kovács – trumpet (3)
Sara Kovács – didgeridoo (3)
Malik Mansurov – tar (1)
Formate und Links zum Bestellen:
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