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Ray Wilson – Music Hall Worpswede, 5. November 2021 – Konzertbericht
Auch Ray Wilson musste Corona-bedingt viele Konzertabsagen hinnehmen oder mit Einschränkunen arbeiten. am 5. Movember spielte er in Worpswede in der Music Hall – eines seiner Wohnzimmer. Sönke Bohm war dabei.
Nachdem das Konzert im Jahr 2020 coronabedingt nicht hatte stattfinden können, war Ray Wilson am 5. November 2021 endlich wieder in der MusicHall in Worpswede zu Gast. Wer es nicht kennt: Worpswede ist ein im Teufelsmoor in der Nähe von Bremen gelegener kleiner Ort, auch als Künstlerdorf bekannt. Die MusicHall befindet sich in einem alten Gebäude mit Reetdach und bietet Platz für (geschätzt) ein paar hundert Gäste. Was macht Ray Wilson in so einem Nest? Nun, die MusicHall ist ein sehr gemütlicher Musik-Club, und üblicherweise ist die Stimmung bei Konzerten hier immer hervorragend. Das ist sicherlich auch ein Grund, weshalb Ray Wilsons Konzert in Worpswede im Jahr 2004 auf der Doppel-CD Live verewigt wurde. Die MusicHall zählt zu einer Handvoll Clubs in Deutschland, in denen Ray Wilson seit fast zwanzig Jahren praktisch jährlich spielt.
In diesen Zeiten einen Bericht über einen Konzertbesuch zu schreiben, ohne auf die Umstände der Veranstaltung hinsichtlich Corona einzugehen, würde etwas ganz Wesentliches ausblenden. Konzerte sind eben noch nicht wieder etwas Selbstverständliches; es gibt noch längst nicht wieder so viele wie noch vor März 2020, regional finden sich zum Teil große Unterschiede in den Maßnahmen gegen die Pandemie, und trotz aller guter Planung und Vorbereitung können angesetzte Konzerte auch gerne einmal kurzfristig abgesagt, verschoben oder verlegt werden. Daher an dieser Stelle: das Konzert in Worpswede fand unter 2G-Bedingungen statt, d. h. die Konzertgänger mussten entweder geimpft oder von Covid19 genesen sein. Zum Zeitpunkt des Konzerts war das noch optional in Niedersachsen und für wohl nicht wenige der Konzertbesucher noch etwas ungewohnt [Anmerkung des Autors: dieser Text wurde zwei Wochen nach dem Konzert erstellt, und die pandemische Lage in Deutschland hat sich inzwischen so verschlechtert, so dass „2G“ nun fast flächendeckend Standard u. a. bei Konzerten und in der Gastronomie geworden ist, so denn Veranstaltungen überhaupt stattfinden]. Zudem wurde mittels App und Hinterlassen von Kontaktdaten für die Möglichkeit einer hoffentlich später nicht notwendigen Kontaktverfolgung gesorgt. Dadurch war es zulässig, die MusicHall fast voll auszulasten, und drinnen konnte auf einen Mund-Nasen-Schutz verzichtet werden.
Die Vorfreude war also umso größer, Ray Wilson in der MusicHall wiederzusehen, und die Laune richtig gut, da das Konzert ohne wesentliche Einschränkungen stattfinden konnte. Da es genau wie Ray Wilson auch zahlreiche Fans und Musikbegeisterte gibt, die es von Nah und Fern (fast) jährlich nach Worpswede zieht, war es wunderbar, einige alte Bekannte auch von weiter weg nach langer Zeit wiederzutreffen.
Das Konzert wurde einmal mehr zu sechst gespielt: auf der Bühne standen neben Ray Wilson (Gitarre, Gesang) sein Bruder Steve Wilson (Gitarre und Background-Vocals), Marcin Kajper (Saxophon, Klarinette und Bass), Kool Lyczek (Keys), Alicja Chrzaszcz (Violine) sowie Mario Koszel (Schlagzeug). Diese Zusammensetzung der Band ist inzwischen die, die bei den meisten Auftritten Ray Wilsons anzutreffen ist. Anders als in den meisten Vorjahren waren Lawrie MacMillan (Bass) und Ali Ferguson (Gitarre) diesmal nicht mit von der Partie; beide wohnen in Schottland, und wegen des Brexits und anderer Gründe sind ihre Auftritte als Teil von Ray Wilsons Band in Kontinentaleuropa inzwischen leider doch sehr rar. Das ist äußerst schade, aber auch ohne sie wurde die Worpswede-Show zu einem großartigen Abend.
Wie zuletzt fast immer bei Ray Wilson bestand das Konzert aus zwei Teilen plus Zugabe. Die Setlist war eine gute Mischung aus Altem und Neuem: mal mit Genesis-Bezug – genau die Hälfte der 26 gespielten Stücke stammte aus dem Genesis-„Universum“, mal aus Ray Wilsons Solowerk, dazu weitere Cover. Hier der Schnelldurchlauf:
No Son Of Mine wird von Ray Wilson häufig am Konzertanfang gespielt, gewissermaßen zum Warmspielen von Band und Publikum – so auch beim Konzert in Worpswede.
Mit dem lockeren That’s All wurde das Publikum anständig aktiviert. Hervorzuheben ist hier das Saxophon-Solo gegen Ende, in dem Marcin Kajper mit Inbrunst die Melodielinie spielte und zu verstehen gab, dass beim Konzert voller Einsatz gegeben wird.
Take It Slow vom Album Chasing Rainbows brachte dann wieder etwas Ruhe ins Spiel und beinhaltete ebenfalls ein tolles Saxophon-Solo, diesmal allerdings eher bedächtig gespielt. Toll, was Marcin Kajper seinem so weich klingenden Instrument entlocken kann.
Lemon Yellow Sun vom Album She der Stiltskin-Neuauflage erinnerte erneut an James Blunts Stay The Night, das jedoch erst deutlich später erschien.
In Your Eyes von Peter Gabriel begann – anders als das Original – nur mit Gesang und Akustiktitarre, zu der mit der ersten Bridge die gesamte Band einsetzte.
Carpet Crawlers ist nicht nur ein Klassiker von Genesis, sondern auch längst einer bei Ray-Wilson-Konzerten. Seit Beginn seiner Post-Genesis-Zeit spielt er es immer wieder, mal stark reduziert, mal mit ganzer Band. So setzte auch in Worpswede die Band nach und nach ein. Das Gitarrensolo wurde von Steve Wilson übernommen, der allerdings etwas gradliniger als Steve Hackett spielt. Bei dem Konzert sorgte die Ansage vor dem Stück für ein paar Schmunzler: Ray Wilson war schon dabei, Change – das nächste Stück – anzukündigen und musste von seinem Bruder auf die Einhaltung der geplanten Setlist-Reihenfolge hingewiesen werden.
Dass Change als nächstes kam, war also keine Überraschung mehr. Das Stück hat sich in all den Jahren seit seiner Entstehung nur unwesentlich verändert – die in Worpswede gespielte Version war daher sehr nah dran an der bald zwanzig Jahre alten Studioversion.
Not About Us war dann das erste Stück aus dem Album Calling All Stations. Nah dran am Original und schön, dass Ray Wilson es immer wieder spielt, wird doch diese Schaffensperiode von Genesis selbst quasi ignoriert.
Mit Almost Famous ging es ähnlich ruhig weiter. Das Stück war das erste von insgesamt vier aus dem aktuellen Album The Weight Of Man, die in Worpswede gespielt wurden. Hier kam die 12-String-Gitarre bei Steve Wilson zum Einsatz, wie bei den dann folgenden Stücken auch.
Symptomatic war das zweite „neue“ Stück. In Anführungszeichen deshalb, da es in den vorangegangenen Monaten bereits häufig gespielt wurde, nur eben an diesem Abend seine Premiere in Worpswede feierte. Das ruhige Intro wurde von Kool Lyczek und Alicja Chrzaszcz gespielt – mit ordentlich Vibrato im Spiel der Violine.
Follow You Follow Me war ein weiterer Genesis-Klassiker, von Ray Wilson seit jeher eher gitarrenorientiert interpretiert. Für das eigentlich von Tony Banks am Keyboard gespielte Solo, das nun Alicja Chrzaszcz auf der Violine spielte, gab es Szenenapplaus. Damit endete die erste Halbzeit der Show.
Der zweite Teil des Konzerts ging mit Calling All Stations rockig los. Bei dem wirklich anspruchsvoll zu singenden Genesis-Stück erreicht Ray Wilson zwar schon seit einiger Zeit nicht mehr alle hohen Töne, das schmälerte aber weder die Qualität des Stückes noch die Begeisterungskraft des Auftritts.
Makes Me Think Of Home stellte womöglich das Highlight des Konzerts dar. Insbesondere der sich immer mehr steigernde Instrumentalteil begeistert immer wieder, bot er doch Gelegenheit, dass die gesamte Band ihre Spielqualität zeigen konnte. I, Like You wiederum war ein weiteres neues Stück, in dem Steve Wilson die Lead-Gitarre ausgezeichnet spielte.
Mit Home By The Seasteigerte sich das Tempo wieder. Vielleicht wird von Ray Wilson ja auch irgendwann einmal der zweite Teil gespielt? Land Of Confusion war ein weiterer Titel, den ohne Zweifel jede und jeder im Publikum kannte. Das Arrangement ähnelt stark dem von Genesis – mit Ausnahme der Violine, die feine Akzente setzte.
In The Air Tonight von Phil Collins begann ruhig und ohne Drum-Machine; der Schlagzeugeinsatz von Mario Koszel war dann furios, und dann wurde das Stück deutlich rockiger gespielt als das Original. Alone sorgte wieder für etwas Ruhe, ja gewissermaßen Abkühlung. Das Stück wurde wie üblich als dasjenige angekündigt, das Ray Wilson an seine Heimat Schottland erinnert. You Could Have Been Someone war ein weiterer Titel aus dem aktuellen Albums, inklusive Klarinettenspiel im Intro.
Mit Another Cup Of Coffee von Mike + the Mechanics wurde das Finale des Konzerts eingeleitet. Ähnlich wie zu Anfang That’s Allwurde das Publikum noch einmal zum Mitklatschen animiert.
Wait For Better Days, ein weiteres Stück aus dem Album Chasing Rainbows, überzeugte mit ähnlichem Arrangement wie in der Studioversion. Irgendwie passend zur Gesamtsituation war der Text: wie könnte ein in sich ruhender Optimismus besser als mit „Be patient and be true and wait for better days“ ausgedrückt werden? Hier kam auch noch einmal das Saxophon als Soloinstrument zum Einsatz – erst gefühlvoll, dann sich dramatisch steigernd und zuletzt laut.
Solsbury Hillvon Peter Gabriel war der krönende Abschluss des Hauptteils des Konzertes, wie üblich bei Ray Wilsons Konzerten mit der 12-String-Gitarre von Steve Wilson begleitet.
Die Band verschwand nach dem Stück für ein paar Minuten hinter der Bühne, der Saal kochte, und die erhoffte Zugabe ließ nicht lange auf sich warten.
Weiter ging es mit Congo, bei dessen verlängertem Intro Ray Wilson die Bandmitglieder einzeln präsentierte und das Publikum sie mit tosendem Applaus bedachte.
Es folgte Inside – der Titel, mit dem Stiltskin und somit Ray Wilson Mitte der Neunzigerjahre große Erfolge feierte. Nach wie vor rockt das Stück und hat ordentlich Wumms, wobei Ray Wilson beim Konzert in Worpswede bei der ersten Strophe gedanklich irgendwo anders war – jedenfalls schien es, als habe er den Text vergessen und müsse etwas improvisieren. Das zeigte: bei aller Professionalität gibt es auch mal Dinge, die nicht perfekt sind – und gerade deshalb besonders und sympathisch.
Nicht auf der Setlist, die bei den Musikern auf den Bühnenboden geklebt war, standen die letzten beiden Stücke, die offenbar spontan gespielt wurden. Diese bildeten einen feinen Ausklang nach den schnelleren, rockigeren Nummern zuvor. Zunächst nahm Knockin‘ On Heaven’s Door von Bob Dylan etwas Tempo heraus. Mad World von Tears For Fears bildete das ruhige und auch melancholische Ende der Setlist. „It’s a very, very mad world“. In der Tat.
Mit der ausgewogenen Setlist konnten alle zufrieden sein – sowohl diejenigen, die wegen des Genesis-Bezugs gekommen waren, als auch diejenigen, die sich vor allem auf Ray Wilsons Solomaterial gefreut hatten. Zwischen diesen beiden „Extremen“ eine Balance beim Zusammenstellen einer Setlist zu finden, ist auf Grund des inzwischen riesigen Repertoires an Songs, die Ray Wilson und seine Band im Köcher haben, sicherlich gar nicht so einfach. Und dazu ist es auch eine Herausforderung, ein ansprechendes Verhältnis aus Altem und Neuem hinzubekommen. Beides ist Ray Wilson am 5. November 2021 in Worpswede ausgezeichnet gelungen.
Für jemanden, der das Glück gehabt hatte, Ray Wilson schon mehrfach – auch im Jahr 2021 – live sehen zu können, enthielt die Setlist nicht viele Überraschungen. Hervorzuheben ist aber, dass vier Stücke des aktuellen Albums gespielt wurden, was es so erst ein paarmal zuvor gegeben hat. Deswegen und auf Grund der besonderen Umstände wird mir das Konzert in sehr guter Erinnerung bleiben.
Unterm Strich war das mal wieder ein ausgezeichnetes Konzert, für das sich die doch ganz schön weite Anreise wie immer gelohnt hat und an dessen Ende viele glückliche Gesichter zu sehen waren. Und zudem ist es großartig, dass die MusicHall in Worpswede die lange coronabedingte Durststrecke überstanden hat und ihren Gästen wieder ein tolles Programm bieten kann. Da die Ray-Wilson-Konzerte in Worpswede stets im November oder Dezember stattfinden und die Tage dann kurz sind, ist es mir noch nie vergönnt gewesen, das Künstlerdorf einmal im Tageslicht zu sehen. Vielleicht ja beim nächsten Mal: hoffentlich 2022 und gerne wieder so großartig wie in diesem Jahr!
Konzertfotos: Christian Baltrusch
Ticketfoto: Sönke Bohm
Videos: Michaela Ix / Volker Warncke