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Peter Gabriel live in Seattle 2001 (WOMAD)
Nach der Secret World Tour waren Live-Auftritte von Peter Gabriel rar. 2001 entschloss er sich, im Rahmen des Seattle WOMAD Festivals einen längeren Set zu spielen. Mic Smith war vor Ort und berichtet über das Event.
Was ursprünglich nur als kurzer Gastauftritt Peter Gabriels bei der Gruppe Afro-Celt Sound System geplant war, steigerte sich gerade mal zwei Wochen vor Stattfinden des Festivals zur Sensation. Peter Gabriel, entschlossen, dem Projekt WOMAD USA eine gehörige Extraportion Leben zu verleihen, gab seine erste richtige Rückkehr zur (in diesem Falle amerikanischen) Konzertbühne seit fast sieben Jahren bekannt.
Man hatte sich zu einem sogenannten „akustischen Set“ von 45 Minuten Länge entschlossen. Peter schnitt sich eine Scheibe vom Vorreiter David Bowie ab und forderte seine Fans auf, auf seiner Webseite Songs für das Set vorzuschlagen. Tatsächlich spielte Peter Gabriel am Ende sogar eine Stunde und fünf Minuten lang – dem plötzlichen Ansturm auf die vordersten Plätze vor der Bühne nur dreißig Minuten vor Gabriels Auftritt nach zu urteilen, war offensichtlich seine Person der Grund, warum viele der Anwesenden auf dem WOMAD-Festival die Reise nach Seattle gewagt hatten. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass jeder Einzelne von ihnen Zeuge eines wahren Höhepunktes in Peter Gabriels Konzertkarriere wurde.
Doch blenden wir noch einmal etwas zurück. Zwei Tage zuvor hatte sich mir die Gelegenheit geboten, Peter Gabriel nach den Gründen für den überwiegend akustischen Charakter des geplanten Sets zu befragen, woraufhin er kurz und knapp antwortete: „- zwei Tage Proben! . Für einen Mann, der bekannt dafür ist, stets hart an seiner Kunst zu arbeiten und herumzufeilen, war das ganz klar eine Abkehr von der Norm. Dieser Umstand und das beträchtliche Ausmaß der seit der letzten Phase regelmäßiger Gabriel – Konzerte verstrichenen Zeit waren Grund genug, eine Performance irgendwo zwischen mittelmäßig und morsch, altersschwach zu befürchten.
Um diesem Hiobsbild entgegenzuwirken und mögliche Unebenheiten noch schnell geradezubügeln, entschloss sich Peter Gabriel lobenswerterweise, früh am Sonntag morgen, noch bevor die Tore für die Allgemeinheit geöffnet wurden, mit der Band gemeinsam einen Soundcheck durchzuspielen. Dieser Soundcheck war ursprünglich auf fünfzehn Minuten Länge angesetzt, doch wie nicht anders zu erwarten war, kam man mit dieser kurzen Zeitspanne nicht aus und überzog. Inzwischen waren schon die ersten Festivalbesucher eingelassen worden, und als diese merkten, wessen Livemusik da gerade von der einen Bühne herdriftete und sich dementsprechend vor dieser Bühne zu versammeln begannen, fühlten Gabriel und seine Band sich angespornt, das Ganze fortzusetzen. Am Ende gönnte er den wenigen Glücklichen, die so früh am Morgen bereits hierher gefunden hatten, eine Kostprobe praktisch des gesamten Sets, das für das eigentliche Konzert am Abend geplant war!
Und so kam es, dass an einem milden Seattler Sonntagabend, um 19 Uhr 45 Ortszeit, Peter Gabriel endlich die Bühne betrat, offensichtlich bewegt von dem warmen WOMAD – Empfang, der ihm bereitet worden war, und die Worte sprach : „Ich bin sehr froh hier zu sein – und noch froher, dass Ihr hier seid!“
Das Konzert begann mit Here Comes The Flood, einem Lied, das nicht mehr an solch prominenter Stelle im Programm gestanden hatte seit jenen ersten 1977er Tourneen. Lediglich vom Bassisten Tony Levin begleitet, stand Gabriel, ganz in Schwarz gekleidet, an seinem Keyboard und schaffte es auf Anhieb, die volle Aufmerksamkeit der ihm offensichtlich treu ergebenen Menge zu gewinnen. Alle Zweifel wegen der fehlenden Zeit für ausgiebige Proben zerstreuend, demonstrierte Gabriel, dass es möglich war, diesen Song, der bereits auf fast jedem Live-Gig seiner Karriere gebracht worden war, zu neuen Höhen zu treiben. Gesang und Begleitung zeigten eine vorher nie erreichte Schönheit, und Gabriel bewies insbesondere während der Schlusszeile, welche seine bisher höchste Stimmlage erforderte, eine perfekte Stimmbeherrschung.
Der Rest von Gabriels speziell für diesen Anlass zusammengestellter Band betrat erst für die nun folgende Nummer die Bühne. Die Band bestand aus dem vertrauten Gesicht von David Rhodes an der Gitarre, James McNally von Afro – Celt Sound System an Keyboard und Flöte und dem bisher unbekannten Ged Lynch am Schlagzeug. Sich vom einen altbekannten Konzerteröffnungssong zum nächsten vorarbeitend, startete die Gruppe eine dynamische, selbstsichere Version von Red Rain, was die Menge zum Anlass nahm, nun wirklich Gabriels Wiederkehr gebührend zu feiern.
Es wurde langsam klar, dass die Abfolge der Songs bewusst so gewählt war, dass die verschiedensten Überraschungen erst nach und nach enthüllt wurden, und die nächste Überraschung hielt man in petto für den dritten Song, Digging In The Dirt. Um bei dem für diesen Song live so immens wichtigen Hintergrundgesang auszuhelfen, betrat Melanie Gabriel die Bühne, die, wie der Papa später verriet, an diesem Tage ihr Bühnendebüt haben sollte.
Als die Stimmung des Songs umschwang von der anklagenden Gewalt des „This time you’ve gone too far“ zu den vernunftgeleiteten Bitten nach „Stay with me, I need support“, schien Melanies Gegenwart beim stolzen Vater eine umso entschlossenere Performance hervorzubringen. Das Spiel der Musiker in dieser verkürzten Version des Liedes wirkte feiner, ausgeklügelter – ein wahres Zeugnis ihres unbestrittenen musikalischen Könnens!
All jenen, die die voraussichtliche Zusammensetzung des Sets schon kannten, bereitete Gabriel dennoch eine Überraschung in Form von Family Snapshot, einem Song, der schon immer besonders stark war, wenn er live gebracht wurde. Gabriel und seine Freunde überzeugten, wie schon zuvor bei den anderen Stücken im Set, durch eine der beeindruckendsten Wiedergaben dieses Klassikers in des Liedes mittlerweile 21 Jahre währenden Live-Karriere – und das Publikum zollte entsprechend Respekt und Ehrfurcht.
In der Ansage für den nächsten Song nahm Gabriel Bezug auf ein ehemaliges Verständigungsproblem mit seiner Tochter – die in diesem Moment gerade mal ein paar Meter von ihm entfernt auf der Bühne stand – das ihn damals dazu bewegt hatte, das Lied zu schreiben. Come Talk To Mes Grundgerüst war ein zuvor in den Computer programmierter Rhythmustrack, und aus Sicht der Menge wirkte es so, als ob die einzige Aufgabe der Musiker darin bestand, sich zu dem aufgeladenen Rhythmus des Songs zu bewegen, hin und wieder einen Akkord oder Trommelschlag einzuwerfen und den Rest der Maschine zu überlassen, was das zuvor angekündigte „akustisch“ wohl so ziemlich ad absurdum führte. Gabriels gewohnheitsmäßigen Erinnerungsschwächen, was die Worte seiner Songs angeht, war entgegengewirkt worden, indem man rechts oben am Keyboard einen Hefter mit den Songtexten strategisch platziert hatte! Gut vorbereitet ist eben halb gewonnen.
Mercy Street, der zweite von drei Songs aus dem So-Album und wohl der Höhepunkt des gesamten Konzerts, brachte als nächstes seine ganz eigentümliche Atmosphäre in die Show ein. Während McNally einige sehr flinke, geschickte Flötenpassagen beisteuerte, produzierte Gabriel, immer noch wie festgeschweißt an seinem Klavier und seinem Textehefter, einen ergreifenden Moment von fast unglaublichem stimmlichen Können, als er die Zeile „Looking for mercy“ über und über in die Länge zog.
Es war eine Überraschung für mich, als anschließend Solsbury Hill einsetzte, denn ich hätte gedacht, dass man sich bei der Auswahl der Konzertstücke gegen Solsbury Hill entscheiden würde, weil es mit seinem mitreißenden schnellen Tempo für eine gute akustische Darbietung wenig geeignet scheint. Jedoch erwiesen sich meine Bedenken als unbegründet, und es gab erneut Feierlaune und Partystimmung, als es Gabriel ein weiteres Mal schaffte, eine triumphale Performance zuwege zu bringen. Dabei enttäuschte er auch nicht diejenigen, die nach seinen gewohnten Gedächtnisaussetzern Ausschau hielten: die Zeile „When liberty she pirouette“ transformierte er in etwas, aus dem wohl nur Chris Welch oder ein japanischer Songtextschreiber irgendeinen Sinn hätten ziehen können. Das Publikum sah entzückt, wie Gabriel selber über diese Demonstration der eigenen menschlichen Fehlbarkeit lachen musste und bestritt gemeinsam mit ihm das schwungvolle, mitreißende Finale, indem es ihm den lautesten Jubel des gesamten Konzertes entgegenschallen ließ.
Gabriels wohl unbekanntester Song des Abends war das fünf Jahre alte, laut Ansage „neue Lied“
Signal To Noise, welches in einem geringfügig langsameren Tempo als zuvor angegangen wurde. Ursprünglich mit dem inzwischen verstorbenen Nusrat Fateh Ali Khan aufgenommen, ist dieser Song im Laufe der Zeit schon mit den verschiedensten Duettpartnern gebracht worden. Für den heutigen Abend gesellte sich Afro-Celt – Sänger Iarla Ó Lionáird zu Gabriel und bereicherte den Song um seinen ganz eigenen eindringlichen, schwermütigen Stil. So gut dieser Part auch klang, würde ich es trotzdem begrüßen, wenn Iarla die Möglichkeit gegeben würde, seinen Beitrag zu diesem Song weiterzuentwickeln, obwohl das wohl nicht gerade im Interesse derjenigen läge, die geradezu darauf angewiesen sind, dass Gabriel das neue Album schnell fertigstellt!
Wie vorherzusehen war, beendete In Your Eyes das Konzert, ein ewiger Favorit, der bei der Vorauswahl die meisten Stimmen der Fans erhalten hatte. Bald schon war die Bühne ein Meer von Farben, Bewegung und weiteren Gästen, darunter mindestens zwei weiteren Afro-Celt Sound System – Mitgliedern sowie der afrikanischen Tanzgruppe Imbizo. Melodische und textliche Genauigkeit wurden zum Fenster herausgeschmissen, um möglichst vielen der versammelten Gäste Zugang zum Mikrofon zu gewähren. Die meisten der Zuschauer bekamen davon ohnehin nichts mit, weil sie es vorzogen, ganz einfach das euphorische Spektakel zu genießen, wie Gabriel endlich einmal genug auflockerte, um sich von seinem Keyboard und, ja, sogar von jenem Textehefter loszureissen.
Der Track endete in einem mittleren Tohuwabohu, aber da spielte es sowieso kaum noch eine Rolle. Gabriel war zweifellos wieder zurück in seinem Metier, da, wo er hingehörte, auf der Bühne vor schätzungsweise 24.000 Leuten. Nach einer kurzen Pause kehrte Gabriel zur Bühne und zu seinem Keyboard zurück, um eine herrliche Version von Father, Son zum Besten zu geben, das, da bin ich mir sicher, auf der nächsten Tour so etwa in drei bis fünf Jahren den Platz von Flood einnehmen wird.
Diese Art von Set könnte Gabriel leicht in die kleinen Clubs und Säle tragen, in denen er das letzte Mal vor zwanzig Jahren gespielt hat, wenn sich nur genügend Leute mit ausreichender Argumentationskraft finden würden, um ihn von der Idee zu überzeugen. – Am besten, Ihr setzt Euch hin und schreibt diese Briefe sofort..!
Autor: Mic Smith
Fotos: Mic Smith/Kathryn Flavell-Smith
Übersetzung: Karin Woywod