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Peter Gabriel – i/o – Album Rezension („bright-sided“ Sicht)
Das neue Album von Peter Gabriel i/o ist im Dezember 2023 endlich erschienen. Und das in mehreren Versionen. Martin Peitz schaut auf sie alle – und seine Rezension ist eher bright-sided…
Nicht nur hat Peter Gabriel zum 1. Dezember 2023 endlich sein lang ersehntes Album i/o veröffentlicht – es kommt auch gleich in mehreren Mix-Varianten daher. Wir tun es ihm gleich und bieten zwei Rezensionen. Beide betrachten alle Veröffentlichungen.
Dies ist der bright-sided Review. Einen mit dark-sided Sicht gibt es hier [Link folgt mit Erscheinen].
i/o
Wenn ein so vielseitiger und eigenwilliger Künstler wie Peter Gabriel nach über 20 Jahren zum ersten Mal wieder ein Album mit neuen Eigenkompositionen fertigstellt, sind die Erwartungen der Fans natürlich groß. Entsprechend unterschiedlich wurde im Januar 2023 Gabriels Ankündigung aufgenommen, im Verlauf des Jahres alle Songs erst schrittweise und in verschiedenen Mixen jeweils zum Voll- und Neumond veröffentlichen zu wollen.
Jetzt, knapp ein Jahr später, liegt i/o als zusammenhängendes Album vor und wieder stößt das Format sowohl auf Begeisterung als auch auf Kritik. Während die einen die Entscheidung für ein Doppelalbum mit Bright-Side Mixen und Dark-Side Mixen konsequent, richtig und interessant finden, hätten sich andere eine „endgültige“ Version gewünscht. Diskutiert wird über i/o also schon länger sehr lebhaft und zum Teil auch völlig unabhängig von der auf dem Album enthaltenen Musik. Grund genug für eine genaue Betrachtung, die einen fast zwangsläufig zu der Frage führt, wie tief man selbst in Musik eintauchen möchte und wie sehr Erwartungen und Gewohnheiten das Hörerlebnis und den Umgang mit dem Album möglicherweise beeinflussen.
Formate
Wie bereits erwähnt, ist i/o grundsätzlich als Doppelalbum konzipiert, das sowohl die Bright-Side Mixe als auch die Dark-Side Mixe der zwölf veröffentlichten Songs enthält. Die CD besteht entsprechend aus zwei Discs während für die Vinyl-Edition Dark-Side und Bright-Side in jeweils eine Doppelschallplatte getrennt wurden.
Eine weitere Version von i/o enthält neben den beiden CDs noch eine Blu-ray Disc mit den Dolby-Atmos Mixen. Für das Frühjahr 2024 ist darüber hinaus ein Boxset angekündigt, in dem alle Discs und alle Schallplatten zusammen mit einem Hardcover-Buch zu finden sind.
Die unterschiedlichen Formate stellen manche Fans möglicherweise direkt vor Entscheidungsprobleme: Kauft man als Vinyl-Liebhaber*in nur einen Mix oder beide? Welchen der beiden Mixe hört man sich auf Dauer tatsächlich an, wenn man die CD gekauft hat und dann mal wieder aus dem Regal holt? Ist die Veröffentlichung von gleich zwei Mixen unnötig oder gar eine Überforderung für die Hörer*innen?
Was für den einen oder anderen Fan auf den ersten Blick kompliziert klingen mag, und vielleicht die Frage nach einer Bedienungsanleitung aufwerfen könnte, lässt sich letztendlich sehr leicht beantworten: Wer die Unterschiede zwischen Bright-Side und Dark-Side sowieso als zu geringfügig oder uninteressant betrachtet, kann einfach einen der beiden Mixe hören bzw. kaufen und muss sich auch keine Gedanken darüber machen, welcher der bessere, richtigere oder geeignetere ist.
Wer sich mit den Unterschieden bewusst auseinandersetzen möchte, kann alle Möglichkeiten ausschöpfen und je nach Lust, Laune, Tagesform, Wetterprognose oder Zufallsgenerator zur hellen oder dunklen Seite greifen oder sogar völlig unabhängig von CD oder Schallplatte Playlists mit den jeweiligen Mix-Favoriten in beliebiger Reihenfolge erstellen.
Es gibt hier sehr viele Wege und die anfangs erwähnte Frage, wie tief man in die Musik eintauchen möchte, gibt letztendlich die Richtung vor.
Auswahlmöglichkeiten zu haben ist ein Luxus und kann in diesem Fall eigentlich nicht als echtes Problem betrachtet werden, das das Hören erschwert. Es gibt schließlich auch sehr einfache Wege und wer wirklich möchte, kann seinen Weg auch finden.
Die Musik
Um es gleich vorweg zu nehmen: Auch über die bereits erwähnten Formate mit Bright-Side, Dark-Side und In-Side hinaus hat i/o sehr viel zu bieten. Zwölf neue Songs und eine Gesamtspielzeit von knapp 70 Minuten sind üppig und beeindruckend.
In einer Zeit, in der Radio-Songs immer kürzer sind, die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen scheinbar geringer zu werden scheint und auch Stars wie Sting eher knappe Albenspielzeiten für ihre aktuellen Werke favorisieren, gibt es bei Peter Gabriel wie schon beim Vorgänger-Album Up eher viel. Und da die zwölf neuen Songs sehr unterschiedlich und facettenreich klingen, kommt beim Hören keine Langeweile auf.
Die Bandbreite reicht von rockig-elektronischen Songs mit Up-Tempo-Parts wie dem Opener Panopticom über Balladen wie So Much, tanzbaren Nummern mit Funk-Einfluss wie Road To Joy bis hin zu World Music-Klängen wie in Olive Tree oder sphärischen Soundcollagen wie Love Can Heal. Dazwischen liegen immer wieder besonders beeindruckende Stücke, die in keine Schublade zu passen scheinen. Four Kinds Of Horses und The Court fallen wohl einfach nur in die Kategorie „Peter Gabriel Musik“.
Textlich entfernt sich Gabriel bei all dem deutlich von den Beziehungsproblemen, die auf US thematisiert wurden, genauso wie von der düsteren Schwere, die auf Up zu finden war. Unter anderem geht es auf i/o um verschiedene Aspekte von Vergänglichkeit, um Terrorismus, um Gerechtigkeit, um die Verbindung zwischen Mensch und Natur und um neue Technologien, die in der Zukunft zu gesellschaftliche Veränderungen führen können.
Besonders auffällig ist dabei, dass man beim Hören durchweg den Eindruck bekommt, dass hier jemand am Werk ist, der völlig in sich ruht und der sehr reflektiert und lebensbejahend an seine Musik und die dazugehörigen Texte herangeht.
Mit der Unterstützung bekannter und weniger bekannter Weggefährt*innen wie Tony Levin, David Rhodes, Manu Katché, Brian Eno, John Metcalfe, Linnea Olsson, Jennie Abrahamson, Ged Lynch und Josh Shpak gelingt Gabriel ein sehr frischer, ausgewogener und transparenter Sound. Die einzelnen Stücke wirken trotz der jeweiligen Vielfalt von Instrumenten, Klangfarben und Stimmen in allen drei Mix-Varianten zu keinem Zeitpunkt überladen.
Die Begleitmusiker*innen lassen dabei das aufleben, was man an ihnen schätzt und was man von ihnen hören möchte. Druckvolle Bassläufe, songdienliche und gleichzeitig interessante Gitarrenbegleitung, atmosphärische Sounds und lockere Schlagzeug-Grooves.
Im Mittelpunkt steht dabei stets die unverwechselbare Stimme von Peter Gabriel, der sich in einer äußerst beeindruckenden Form zeigt und jede Befürchtung widerlegt, dass es sich bei i/o um ein gesanglich eher schwächere Werk handeln könnte, dem eine gewisse Altersmüdigkeit anzumerken ist. Dem ist definitiv nicht so.
Wer Peter Gabriel mit all seinen typischen Erkennungsmerkmalen und Besonderheiten finden möchte, findet ihn auf i/o auch.
Gleichzeitig klingen die zwölf neuen Songs nicht wie eine einfallslose Kopie früherer Erfolge sondern sind eigenständig. An der ein oder anderen Stelle gibt es zwar kleinere Elemente, die man definitiv schon mal gehört hat (die Gesangsmelodie von Road To Joy erinnert beispielsweise an Kiss That Frog und in Panopticom sind Gitarrenriffs zu hören, die man schnell mit Digging In The Dirt in Verbindung bringt), aber trotzdem stehen die Songs für sich und Gabriel ist weit davon entfernt, sich zu wiederholen.
Das liegt unter anderem auch daran, dass es genau so viele Dinge gibt, die er vorher in dieser Form noch nicht ausprobiert hat. Noch nie gab es einen Peter Gabriel-Song, der genauso betitelt war wie das übergeordnete Album. Und auch einzelne Stilrichtungen wie beispielsweise der lässig groovende Motown-Verschnitt This Is Home gehörten bislang nicht zum Repertoire von Gabriel.
Besonders auffällig ist auf dem gesamten Album, dass Gabriel die Erfahrungen seines Orchester-Projekts New Blood offensichtlich auch für i/o ausgiebig nutzen wollte. In fast jedem Song sind Streicher zu hören, die mal mehr und mal weniger im Fokus stehen. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Einsatz des Cellos in Love Can Heal. Hier handelt es sich allerdings um eine Aufnahme, die während der gemeinsamen Tour mit Sting im Jahr 2016 entstand.
Es bleibt festzuhalten, dass rein instrumental und vokal sehr unterschiedliche Elemente und Farbtupfer zum Einsatz kommen. Von der Rock-Band über Elektronik bis hin zum Gospel-Chor, Orchester oder Percussion-Instrumenten: Der Abwechslungsreichtum auf i/o ist enorm.
Das Artwork
Das Covermotiv von i/o ist definitiv interessant. Das Bild erinnert etwas an Gabriels drittes Album, die Position des Gesichts bzw. Oberkörpers ist vergleichbar mit So und der Schwarz-Weiß-Ton ist nicht weit entfernt von Up. Anhand dieser Parallelen passt i/o zu Gabriels Gesamtwerk.
Es lässt sich bestimmt darüber diskutieren, ob die eher lebensbejahende Musik eine passende Verbindung zum Cover eingeht oder ob ein farbenfroherer Ansatz vielleicht besser gewesen wäre.
Farbenfroh wird es im Booklet durch die Abbildung der verschiedenen, zu den Songs gehörenden Kunstwerke, die ebenfalls zu jedem Vollmond vorgestellt wurden. Es wäre schön gewesen, auch die Songtexte im Booklet der CD lesen zu können, aber offensichtlich wollte man vermeiden, dass es zu umfangreich wird. Bei den Schallplatten sind die Texte enthalten.
Fazit
Wer die Reise mitmachen wollte, hatte 2023 sehr viel Grund zur Freude. Der von Gabriel betriebene Aufwand ist enorm und für viele Fans war es sicherlich bereichernd, über das Jahr hinweg von neuen Songs, dazu passenden Kunstwerken, Hintergrund-Infos per Video und auch Demo-Versionen via Bandcamp begleitet zu werden. Wer wollte, konnte hier sehr tief in die Musik eintauchen, etwas über die Entwicklung und Produktion der einzelnen Songs erfahren und gleichzeitig die visuelle Kunst auf sich einwirken lassen.
Wer das nicht wollte, hatte trotzdem entweder die Möglichkeit, nur einen Teil der Reise mitzugehen oder auf die Veröffentlichung von CD und Vinyl zu warten.
Dass Gabriel diese Vielfalt und diesen Umfang geboten hat, ist ihm hoch anzurechnen. Bequem war diese Form der Veröffentlichung bestimmt nicht und man hätte sich hier viel weniger Mühe geben können. Für viele Fans wären dann aber Wege versperrt geblieben, die ein sehr spannendes, umfangreiches und über das Jahr verteilte Gesamtkunstwerk ermöglicht haben, das es vermutlich in dieser Form noch nicht gegeben hat.
Peter Gabriel ist ein Interpret, der es sich nie leicht gemacht hat, der immer fordernd war und der auch immer für Überraschungen gut war. So auch bei i/o, das auch dadurch frisch und zeitgemäß wirkt, weil es sich von Veröffentlichungs-Dogmen gelöst hat, die mittlerweile einfach nicht mehr zwangsläufig genutzt werden müssen. Der Weg über Streaming und Co hat sicherlich nicht nur Vorteile, aber er bietet Freiheiten, die genutzt werden können. Gabriel wäre nicht Gabriel, wenn er sie ignorieren und nur auf das Format der aussterbenden CD schauen würde.
Die Pop-Musik hat Gabriel mit i/o nicht neu erfunden. Aber welche anderen Interpret*innen erfinden hier wirklich noch etwas neu? Es gibt neue Mischformen und neue Sounds, aber mehr ist von niemandem zu erwarten. Peter Gabriel bleibt sich selbst treu ohne sich dabei zu kopieren. Ob die Musik überzeugt oder nicht, entscheidet nur der eigene Geschmack. Gespielt, gesungen und produziert ist sie auf Weltklasseniveau und es ist deutlich zu spüren, dass sich jemand zu Songwriting und Texten eine Menge Gedanken gemacht hat.
Wenn man 73 Jahre alt und seit Ewigkeiten im Geschäft ist, wirken Songs wie Playing For Time und So Much auf jeden Fall authentisch. Ansonsten wird jeder Fan seine Highlights auf i/o selbst identifizieren – und auch selbst wissen, welche Stücke nicht in die persönlichen Best Of-Playlists gehören.
Fest steht aber, dass i/o zumindest sehr viele Formen von Zugängen über Stilistik, Mixe usw. ermöglicht. Ob man diese für sich nutzen kann, hängt zu einem gewissen Teil davon ab, wie flexibel man in Bezug auf die eigenen Gewohnheiten ist, und wie tief man in Musik eintauchen kann und will. Wer sich auf dieses Album einlässt und nicht gefangen ist in der Suche nach einem zweiten San Jacinto oder anderen vergleichbaren Klassikern, wird hier mit einem starken, für sich stehenden und frischen Album belohnt.
Autor: Martin Peitz 12 | 2023
Unser Track By Track Special blickt auf alle Versionen der Songs und die begleitende Kunst – von Thomas Schrage – und Martin Peitz für die In-Side Mixe:
Song 01: „Panopticom“
Im Januar 2023 hat Gabriel mit Panopticom den ersten Song des neuen Albums veröffentlicht. Alles Wissenswerte zu den Mixen davon ist hier zusammengetragen.
Panopticom – Infos und Hintergründe
Song 02: „The Court“
Der zweite Song für i/o heißt The Court und erschien am 5. Februar 2023 – zunächst im Dark Side Mix. Auch zu ihm wieder Fakten und Zusammenhänge hier.
Song 03: „Playing For Time“
Der dritte Song für i/o heißt Playing For Time und ist in der Rohfassung als O But bereits vielen von der Back To Front Tour her bekannt. Aus dem Studio erschien zunächst der Dark-Side Mix.
Song 04: „i/o“
Im April 2023 folgte das Stück, das genau so heißt, wie das Album, nämlich i/o. Zum ersten Mal gibt es also einen Titelsong bei Gabriel! Wissenswertes wieder hier.
Song 05: „Four Kinds Of Horses“
Vom diesem Track war der Titel bereits schon im Umlauf, weil er im März 2023 im Uncut-Artikel erwähnt worden war. Im April war er dann nicht erschienen – im Mai aber endlich.
Four Kinds Of Horses – Infos und Hintergründe
Song 06: „Road To Joy“
Im Juni nun der erste Song, den Konzertbesucher schon kennen: Road To Joy. Dass er zu i/o gehören würde, hatte Gabriel im Mai bestätigt. Einen Monat später ist die Studiofassung jetzt auch da.
Road To Joy – Infos und Hintergründe
Song 07: „So Much“
Inzwischen sind wohl alle weiteren Songs für i/o von der Tour her bekannt. So auch So Much – das Stück für den Juli-Vollmond. Wie auf Bandcamp angekündigt, zunächst im Dark-Side Mix.
Song 08: „Olive Tree“
Gespannt wird seit den Europakonzerten gewartet, welcher Song zum nächsten Vollmond in der Studioversion veröffentlicht wird. Im August ist es zunächst der Bright-Side Mix von Olive Tree.
Olive Tree – Infos und Hintergründe
Song 09: „Love Can Heal“
Im August gibt es zweimal einen Vollmond, folglich erscheinen auch zwei Stücke für i/o. Das zweite ist Love Can Heal, das schon seit der Tour mit Sting 2016 bekannt ist.
Love Can Heal – Infos und Hintergründe
Song 10: „This Is Home“
Ende September steht der drittletzte Song für i/o an. Wie von vielen vermutet, ist es This Is Home, das Stück, das laut Reihenfolge beim WOMAD Prelistening auch kommen musste.
This Is Home – Infos und Hintergründe
Song 11: „And Still“
Wir nähern uns dem Ende: Als vorletzer Song für i/o erscheint zum Ende des Oktobers wie von den meisten erwartet And Still. Zunächst im Dark-Side Mix.
And Still – Infos und Hintergründe
Song 12: „Live And Let Live“
Ende gut – alles gut. Das i/o-Vollmondjahr schließt mit Live And Let Live – so wie es zu erwarten war. Nicht so wie immer ist die Veröffentlichungsweise. Ergibt aber Sinn.
Zusätzlich stellen wir weitere Informationen zu verschiedenen Aspekten der Veröffentlichungen in unserem Special zur Verfügung.
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