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Peter Gabriel – PoV – Point of View – Video-Rezension
Den Konzertfilm zur Tour zu seinem erfolgreichsten Album veröffentlichte Peter Gabriel 1990 – drei Jahre nach dem Ende der Tournee. Der Film ist nie auf digitalem Medium erschienen. Wir bieten trotzdem einen Rückblick.
Peter Gabriel zog 1987 mit einem Album im Gepäck auf Tour, dem weltweit großer Erfolg beschieden war. So war kommerziell gesehen sicher das durchschlagendste, was er je herausgebracht hat. Entsprechend lang und ausgebucht war die Konzertreise, wurde ein ums andere Mal verlängert. Die Veröffentlichung eines Mitschnitts auf Video war damals nicht so zwingend folgend wie heutzutage, lag aber nahe. Es hat dann aber eine ganze Weile gedauert, bis ein offizieller Konzertfilm erschien. Zum einen wohl auch wegen den verlängerten Schaffensphasen des Herrn G. – aber sicher auch wegen dessen Experimentierfreudigkeit. 1990 (drei Jahre nach Tourende!) war es dann endlich soweit. Aufgenommen zum Abschluss der Tour am 5.-9. Oktober 1987 im Lycavitos Theatre, Athens, wurde die Show auf ziemlich eigene Weise dokumentiert: PoV steht für „Point of View“ – der Begriff, der im englischen unter anderem „Ansichtssache“, aber auch „subjektive Kameraperspektive“ bedeutet. Es wurde also eine Wiedergabe aus recht persönlicher Sicht (in allen Bedeutungen dieser Wendung) angekündigt. Und tatsächlich handelte es sich nicht um einen puren Konzertfilm – es gab zusätzliches Material, das in die Gestaltung einfloss.
Wiederveröffentlichung
Der Film ist nur auf VHS-Video erschienen – wenn man vom Format Laserdisc absieht, das Zeit Lebens Nischenbedeutung hatte. Viele Fans lechzten nach einer Neuausgabe auf DVD/Blu-ray – zumal der Film offiziell nicht mehr zu haben ist. Und Gabriel heizte dieses Bedürfnis noch an, indem er – wie so oft – immer wieder eine Veröffentlichung in Aussicht stellte. Das erste Mal 2005, als im Bonusmaterial der Still Growing Up – Live And Unwrapped DVD als Vorgeschmack der Song No Self Control aus PoV enthalten war und der komplette Film für das Folgejahr angekündigt wurde. Nun – 2006 kam und ging – von einer digitalisierten Fassung des Films war nichts zu sehen. Nach einer Weile wurde es wieder still darum. Dann, im Zusammenhang mit dem herannahenden So-Silberjubiläum 2011, kamen neue Gerüchte auf – wiederum auch von Gabriel selbst genährt.
Endlich wird dann im Rahmen der So25-Deluxe-Edition im Jahr 2012 auch etwas veröffentlicht: Ein Film namens Live In Athens. Es handelt sich dabei um eine Fassung von PoV, die erstmals das annähernd vollständige Konzert beinhaltet – der aber auch alle zusätzlichen Szenen und Einspielungen genommen wurden. Also um einen „normalen“ Konzertfilm, der von der persönlichen, subjektiven Sichtweise Abstand genommen hat. Folgerichtig wird das Ergebnis nicht mehr Point of View, sondern eben nur noch Live in Athens genannt.
Im Folgenden soll hier die ursprüngliche Fassung von PoV besprochen werden – eine Rezension von Live In Athens gibt es hier.
Das Konzert
Die Bühnenshow war – selbst für damalige Verhältnisse – relativ schlicht. Die Bühne schwarz verhangen, einige Podeststufen in Sechseckform, das war beinahe alles. Als zentrales Element gab es lediglich noch vier fahrbare Scheinwerferarme, die jedoch frappante Effekte erzielen konnten. Auf Schienen, die rund um die Bühne führten, bewegte sich jeweils ein Fahrwerk, an dem ein mehrere Meter langer Arm angebracht war, der am oberen Ende drei VariLights aufwies, die schnelle Veränderung des Lichtkegels in Größe, Farbe und Richtung ermöglichten. Diese vier Scheinwerferarme konnten sich an nahezu jeden Ort der Bühne bewegen, strahlten von hoch oben oder von nur knapp über dem Boden aus – und die Dynamik einer Schwenkfahrt war höchst eindrucksvoll. In der Gesamtdramaturgie des Abends waren diese Lichtarme zentral.
Ansonsten überzeugte Gabriel auf dieser Tour vor allem durch Persönlichkeit und nicht durch Konzepte. Er wirkte nah und ernsthaft, bescheiden aber kompromisslos, behende und verletzlich – und durch all das so groß, wie später kaum wieder. Vor allem sein intensives und ausdrucksstarkes Gestenspiel, gekoppelt mit einem Bewegungsdrang, der an Leistungsport heranreichte, ergaben eine äußert lebhafte und kraftvolle Darbietung. Ihm zur Seite stand eine Band, die vollständig aus außerordentlichen Musikerpersönlichkeiten bestand. Als alte Bekannte natürlich der unverwechselbare David Rhodes und der unersetzliche Tony Levin. Neu waren Manu Katché an den Drums, der mit seinem perkussivem, verspielten Stil eine deutlich aufgelockerte Note in das Grundgefüge brachte, und der vermutlich virtuosesten Live-Keyboarder den Gabriel je hatte, David Sancious, der in viele Stücke eine jazzige Note einpflocht. Und Gabriel selbst sang mit einer Stimme, die am Zenit dessen war, was er an Ausdruck und Kraft je zu leisten vermochte.
Der Film
Live-Regisseur Michael Chapman setzte auf traditionelle Bilder, filmte mit sicherer Hand, auch mal aus originellen Perspektiven, und konnte das Bühnengeschehen gelungen und pulsierend einfangen. Dann allerdings verfiel man auf eine Idee, das Ganze mit Zusatzmaterial zu vermischen. Hart Perry zeichnete für etwas, was in den Credits „Home Video“ genannt wurde. Dieses Zusatzmaterial waren Super-Acht-Filme aus Gabriels Familienschatzkiste, die teilweise recht amüsant sind, Dokumentarmaterial, das entsprechend der Song-Themen aus Archiven genommen war – und Aufnahmen von Gabriels Gesicht. Letztere wurde offenbar deutlich nach der Tour im Studio gemacht, denn Gabriel hat längere Haare, wirkt müde und einfach ganz anders. Zumindest diese Aufnahmen hätte man sich meist sparen können, da sie keinen größeren künstlerischen Mehrwert haben. Ansonsten werden diese ganzen Schnipsel aufs ungewöhnlichste mit den Livebildern verquickt – schieben sich seitlich rein, reißen sich durchs Bild, blenden hinein oder sind als Clip zwischen die Songs geschaltet. Das erweitert das Erlebnis, erhöht das Konzertvideo zum Kunstfilm – unterbricht allerdings auch das Livegeschehen. Über das Ergebnis kann man durchaus diskutieren und die Fans spaltet es sogar in zwei Lager. Ebenfalls bemängelten einige immer wieder, der Film sei zu düster. Da aber – wie bereits gesagt – die Bühne einfach nur schwarz verhangen war, ist da auch nicht mehr, was hell sein könnte. Das Farbkonzept der So-Zeiten war vornehmlich schwarz-weiß gehalten – und so war es auch das Productiondesign der Tour.
Wirklich bedauerlich war aber, dass dem Film einige Songs der Show fehlten. So blieben ungehört und ungesehen Red Rain, Family Snapshot, The Family And The Fishing Net, Big Time (das in der Liveversion aber auch nicht überzeugte) und ein komplettes This Is The Picture. Außerdem wurde die Reihenfolge der Songs erheblich verändert.
Im Schnelldurchlauf
Gleich zu Beginn soll man erfahren, was es mit dem Zusatzmaterial auf sich hat. This Is The Picture ist nur in Teilen wiedergegeben; hauptsächlich Beginn und erster Refrain. Zunächst sieht man Peter mit Videokamera sich selbst im Hotelspiegel filmen (aha: „Point of View“), es folgen Aufnahmen von Medienrummel, Backstagebereichen, der Konzertarena und anderem aus seiner Sicht. Hauptausschnitt des Songs ist die Vorstellung der einzelnen Musiker, so wie sie während des Konzertes auch geschah (auch wenn der Song den Abend nicht eröffnete sondern erst irgendwann in der Mitte kam). Zu jedem Bandmitglied gibt es eine kurze Collage von diversen Filmschnipseln aus Peters Kamera. Verwirrend, schräg, humorvoll, bunt. Den Song derart zu verkürzen und an den Beginn zu stellen ist eine Entscheidung, die eigenwillig ist. Als Intro fungiert es aber.
Sobald This Is The Picture richtig angelaufen ist, verlaufen seine Klänge auch schon in denen von San Jacinto, das das Konzert in Wahrheit eröffnete. Peters magisch getragenes Gestenspiel inmitten von Lichtstrahlen und Dunkelheit untermalt das Stück eindrucksvoll. Vom Pas de Deux mit den Scheinwerferarmen bekommt man im Film nicht alles mit. Dafür sehen wir immer wieder Bilder von Wolken, Nebeln und Indianergesichtern. Die intensive Wirkung der Performance bleibt trotzdem erhalten.
Shock The Monkey ist eine kurze Sequenz eines Familienvideos vorgeschaltet: Herr und Frau Gabriel mit Töchtern Anna und Melanie sitzen im Auto im Safaripark und erfreuen sich an einem Äffchen auf der Motorhaube – charmant. Wenn man weiß, wie es zur damaligen Zeit um den Familienfrieden der Gabriels bestellt war und im Kontext mit genau diesem Song, ist das schon recht selbstentäußernd. Ansonsten hören wir hier eine erstaunlich flinke Version des Songs und sehen Peter genauso flink über die Bühne fegen. Dabei erweist sich ihm David Rhodes erstmals als agiler Partner. David Sancious leistet ganze Arbeit, dem Song mit jazziger Verspieltheit eine neue Erscheinung zu geben, zu der auch Manu Katché beiträgt. Die Unterbrechungen mit konzertfremden Bildern bleiben hier aus.
Auch Games Without Frontiers hat musikalisch eine Runderneuerung erhalten. Ein Zwischenspiel bringt spürbar Tempo und Zug in die Nummer. Zu sehen gibt es neben Gabriels Zinnsoldaten-Marschiererei über die Bühne eine ganze Menge eindringlicher und ungemütlicher Bilder von Kindern in Krieg und Spiel, die sich immer wieder in die Liveperformance schieben. Vor allem die Montage zur abschließenden ‚No more War‘-Passage hat eine hohe Dichte.
Es folgt eine kurze Folge von Bildsequenzen die Gabriel während der Conspracy of Hope-Tour für Amnesty International machte. Lauter alberne Rockstars zu den Klängen von Slow Marimbas.
Düster und erstaunlich bedächtig kommt dann No Self Control daher. Vorbei die Zeiten des hektischen Klangwirrwarrs aus Album III. Über einen perkussiven Grundbeat legt Manu Katché vertrackte Spielereien. Die Bilder von der Amnesty-Tour gehen weiter, zeigen jetzt aber fremde Länder. Sie weichen rechtzeitig den Konzertbildern um Gabriels eigenwillig-hypnotische Performance wiederzugeben – gelegentlich unterbrochen von seinem nachträglich gefilmten Gesicht in schwarz-weiß. Der berühmte Kampf Gabriels mit den Lichterarmen ist aber gut eingefangen.
Mercy Street war einer der Höhepunkte des Tour. Gebrochen liegt Gabriel am Bühnenboden, lichtumfingert von den VariLights. Später kriecht er flehentlich umher, greint und krümmt sich. Dazu liefert Tony Levin geradezu ein Kreuzfeuer von einprasselnden Bassfiguren. Eindringlich auch die Bildmontage von Menschenmassen im Stadion und Gabriels Silhouette, die ‚looking for mercy‘ artikuliert. Dazwischen allerdings ist er unsinnigerweise auch mal zuhause das Lied am Keyboard singend zu sehen. Ob diese Bilder wohl andeuten sollen, dass im Studio klanglich nachgebessert wurde?
Ab hier variiert die Reihenfolge der Songs des Videos wild mit der des Konzertes. Ist wohl eine Entscheidung der Dramaturgie.
Warum Sledgehammer um den einleitenden Instrumentalteil gekürzt wurde, ist nicht zu verstehen (was man später bei der Secret World Live CD schon wieder erleben wird). Das Stück beginnt mit Gabriels Anzählen. Musikalisch bleibt diese Fassung dann deutlich hinter dem Original zurück, bleibt ein wenig reduziert. Dafür erleben wir zum ersten mal das bizarre Bein-Ballett von Levin/Gabriel/Rhodes und Peters pikanten Hüftstoß. Wer hat sich das nur alles ausgedacht? Die Bildunterbrechungen bleiben, vom Beginn abgesehen, gnädig aus.
Auch Solsbury Hill weist nur am Anfang konzertfremde Einspieler auf. Diesmal vornehmlich Material aus Gabriels Familienarchiv – wie auch im Videoclip dieser Periode. Das gibt dem ohnehin persönlichen Text noch einmal eine weitere Ebene. Ansonsten tänzeln die drei Frontmen recht frohgemut über die Bühne. Musikalisch ist diese Version forsch gespielt – es fehlt aber vielleicht ein wenig die Originalität.
Es folgt eine kurze Sequenz der Aufnahmesession von Shaking The Tree. Ein wenig merkwürdig, das Konzert zu unterbrechen. Aber Nett, den Meister bei der Arbeit zu sehen und welche Gesten er bevorzugt, wenn’s nicht gut geht.
Ein weiterer Höhepunkt des Konzerts ist zweifelsfrei Lay Your Hands (das ‚on me‘ wird auf dem Cover merkwürdigerweise unterschlagen). Tastend und düster spielt die Musik, kontrastiert von knatternden Rhythmusfiguren. Gabriel verkörpert mimisch die erstarrte Wehr gegen Gefühlskälte, schreit sein „over me“ in die Welt, bis alles in kompletter Dunkelheit endet. Um sich dann aber – angeführt von Katchés gewaltigen Wirbeln – dem Publikum nähesuchend in voller Gänze hinzugeben.
Ohne Unterbrechung geht es gleich weiter zu Don’t Give Up, das hier ein bisschen wie ein Stimmungskiller wirkt, zumal es nicht grade die brillanteste Umsetzung des Songs ist. Die Gitarrenriffs und das Solo von Rhodes sind wirklich schön – aber es fehlt eine Frauenstimme (oder überhaupt ein Gegenpart) um dem Song die Spannung zu erhalten. Gabriel singt Kate Bushs Part nach unten okataviert, was diesen Teilen ein wenig das Drangvolle nimmt. Hier werden auch wieder Bilder einmontiert: Bettler, Arbeitslose, verwahrloste Städte. Fraglos eindringlich, aber auch nicht gerade originell. Zwischendurch erscheint auch wieder Gabriels Studiogesicht.
Nach einem kurzen Intermezzo, das Impressionen des ersten WOMAD-Festivals wiedergibt, freut man sich um so mehr über den folgenden Überknaller: In Your Eyes feiert sich selbst als ungezwungene Party. Gastsänger ist Youssou N’Dour, der zurecht seit dieser Zeit ein Weltstar geworden ist. Ausgelassen hampelt die ganze Band herum, zwei Männer liefern sich ein feuriges Duett, feiern Verbrüderung und laufen etliche Meter Bühnenboden ab. Und das mit althergebrachten Kabelmikros: Respekt! Musikalisch hat man den Song gut aufgewertet: ein grundlegender Rhythmus sorgt für Vibration, mehrere Abschnitte schaffen einen Wechsel zwischen wild und ruhig und zu David Sancious‘ kurzem groovenden Pianosolo kann man nur sagen: oft (!) kopiert und nie erreicht.
Zum definitiven Abschluss Biko. „Was sonst“ sagt man sich. Anno 1987 hat der Song auch noch größere Aktualität als später, wird Südafrika doch erst 1994 endgültig frei von Apartheid. Also darf man sich ein gutes Stück Bewegtheit zugestehen bei aufrichtig beherzt hochgereckten Armen. In die letzten skandierenden Rufe des Publikums fährt dann der Abspann; Konzert und Film sind zu Ende.
Fazit
PoV ist die gelungene Wiedergabe einer berührenden Show. Die eigenwilligen filmischen Mittel sind nicht jedermanns Geschmack, geben dem Gesamtwerk aber oft eine zusätzliche Dimension. Und in jedem Fall hat man hier die Dokumentation einer kraftvollen Bühnenpräsenz, die anzuschauen immer wieder erfreut. Schade, dass sie so nicht auf ein digitales Medium gebannt wurde.
Autor: Thomas Schrage
Trackliste
01 This Is The Picture (Intro)
02 San Jacinto
03 Shock The Monkey
04 Games Without Frontiers
05 No Self Control
06 Mercy Street
07 Sledgehammer
08 Solsbury Hill
09 Lay Your Hands
10 Don’t Give Up
11 In Your Eyes
12 Biko
Laufzeit 85 Minuten
Director of Concert Footage – Michael Chapman
Director of Home Video – Hart Perry
Executive Producer – Martin Scorsese
Mix – David Bottrill, Kevin Killen
Drums – Manu Katché
Bass, Backing Vocals – Tony Levin
Guitar, Backing Vocals – David Rhodes
Keyboards, Backing Vocals – David Sancious
Vocals, Keyboards – Peter Gabriel
Special Guest Youssou N’Dour and Les Super Etoiles de Dakar