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Nick Fletcher – Quadrivium – Rezension
Zwei Jahre nach dem viel beachteten Soloalbum Cycles Of Behaviour und ein Jahr nach dessen Nachfolger The Cloud Of Unknowinglegt Nick Fletcher (John Hackett Band) mit Quadrivium einen Nachfolger vor. Thomas Jesse hat es angehört.
Vorbemerkung
Nun erscheint also das dritte Werk mit Jazz-Rock-Prog-Fusion-Musik von Nick Fletcher innerhalb von drei Jahren. Muss man noch viele Worte über den sympathischen, intelligenten und kreativen Briten verlieren? Wurde er doch schon von Steve Hackett als der beste zeitgenössische Jazzgitarrist im UK bezeichnet1. Nicht vergessen sollte man außerdem seine klassische Seite. Immer wieder spielt er akustische Konzerte und veröffentlicht Alben mit klassischer Gitarrenmusik.
Bemerkenswert für den Genesis-Fan sind seine Kollaborationen mit John Hackett als akustisches Duo, bzw. als mit Mitglied in Johns Band. 2
Hintergrund / Albumtitel
Das „Quadrivium“ vereint in der Philosophie, ausgehend von Platon (Politeia, Nomoi), die vier höheren der insgesamt sieben „freien Künste“ Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik (Das „Trivium“ bilden Grammatik, Rhetorik und Dialektik). Ihnen wurde im universitären Lehrbetrieb des Mittelalters besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 3
Die Stücke des Albums widmen sich jeder dieser Künste. So wie auch diese vier Künste schlussendlich eine Einheit bilden, sollte man die Musikstücke im Zusammenhang als Ganzes hören. Sie fügen sich zu einer Art Suite zusammen, die den Hörer/die Hörerin sowohl auf eine Reise ins Innere der Seele (Inner Space), als auch ins Universum (Outer Space) mitnehmen möchte. Auch diese bilden eine Einheit.
Gestaltung
Die CD wird wieder in einem Jewel-Case veröffentlicht. Das Cover öffnet uns den Blick auf einen düsteren Dachboden. Nur durch eine Dachluke erhellt ein schwacher Lichtschimmer die Szenerie. Auf dem Boden liegen verstreut Splitter eines zerborstenen Spiegels. Wie magisch wird der Betrachter/die Betrachterin von der im Mittelgrund schwebenden jungen Frau angezogen. Sie breitet die Arme aus – empfängt sie jemanden, möchte sie mit Ruderbewegungen davon schweben, oder träumt sie nur? Das Booklet beinhaltet neben Fotos von Nick und Schlagzeugerin Anika Nilles düstere Bilder von schwebenden Frauen in einem Parkhaus oder einer Landschaft im Licht des Sonnenuntergangs und einem Menschen der in einem dunklen Raum vor einem riesigen lichtdurchfluteten Tor steht. Linernotes usw. sind dabei. Um Fotos und Layoutgestaltung kümmerte sich Nick Fletcher in Zusammenarbeit mit Rick Pilkington. Das Artwork weist kongenial auf den Inhalt der instrumentalen Musik hin: Träume, Übergänge in andere Welten, Tod, den Sinn des Lebens.
Beteiligte Musikerinnen und Musiker
Die Mitwirkenden des Albums sind (wie immer) neben Co-Produzentin und Mixerin Caroline Bonnett (Keyboards), Dave Bainbridge (Keyboards bei 3,5 & 6, bekannt durch Iona, Strawbs) und Tim Harries (Bass, bekannt durch Iona, Steeleye Span, Bruford’s Earthworks). Besonderes Augenmerk findet die Schlagzeugerin des Albums, Anika Nilles (Jeff Beck). Von ihr gibt es Fotos im Booklet und das Album wird auch mit ihrem Namen beworben.
Songs
A Wave On the Ocean of Eternity (Prelude) 4:16
Mit schwebenden, an Iona, die späten Pink Floyd, oder an Ambient Musik erinnernden, Keyboardteppichen wird der Hörer/die Hörerin in das Klanguniversum des Albums hineingezogen. Eine floydige Gitarre krönt das ruhige Stück. Ja, es ist ein Schweben in beruhigenden, fließenden Sounds. Erinnerungen an die Vorspiele (Wagner benutzt diesen Begriff) klassischer Opern werden geweckt. Nun, das ist doch wunderschöne progressive Rockmusik, oder?
Overture to the Cosmos (Overture) 4:53
Es folgt eine Ouvertüre, die mit Gitarrengewitter beginnt. Wie in den neuen Werken eines Steve Hackett wird losgerockt. Hier macht Anika Nilles erstmals mit ihrem gradlinigen treibenden Schlagzeugspiel auf sich aufmerksam. Im letzten Drittel beginnt Nicks Gitarre zu schweben, bricht aus Richtung Kosmos. Das Ende nimmt den verträumten Sound der Prélude wieder auf.
Riding the Event Horizon (Scene 1) 6:17
Nun wird es getragen jazzig. Alan Holdsworth schaut herein. Wieder ist die Schlagzeugarbeit erwähnenswert. Natürlich hören wir auch ein wenig Jeff Beck heraus. In der Mitte des Stücks brilliert ein jazziges Pianosolo, das von einer Gitarre abgelöst wird. Herrliche Rhythmen, Wendungen, Soli füllen den fulminanten Ritt am Rande des Universums. Ein humorvolles Highlight des Albums. Eine augenzwinkernde Anspielung auf den Science-Fiction-Film Event Horizon, bzw. den Flug mit dem Raumschiff gleichen Namens? 4
Ziggurat of Dreams (Part 1) (Interlude) 2:41
Was erwartet uns im Himmelshügel *5 der Träume? Vielseitigkeit, Veränderlichkeit? Nick bezeichnet das Stück als Zwischenspiel. Es ist ein traumhaftes, jazzig-verspieltes Gitarrensolo, untermalt von sanften Keyboardsounds. Nick beweist uns, dass er sich hinter den Granden der Jazzgitarre nicht verstecken muss. Wundervoll!
The Fifth Parallel (Scene 2) 6:42
Leise erheben sich Gitarrenarpeggien, entwickeln sich zu einer schönen Melodie. Das Schlagzeug setzt verhalten ein. Der Bass brummelt seine Töne. Wie komme ich hier auf Brufords Earthworks? Liegt es an der fantastischen Rhythmusgruppe? Ab Minute zwei werden die Zügel angezogen und es wird los gerockt. Ein herrliches Bass-Solo bricht das Klanggewitter. Tim Harries zeigt, was er kann. Nur um von Nicks Gitarre abgelöst zu werden, die wieder zur Melodie findet, die wiederum von einem solierenden Keyboard aufgenommen wird. Ist das etwa Dave Bainbridge, der den Jazzer in sich entdeckt? Zum Ende finden sich alle in der Melodie wieder. Langsam mit Gitarrentupfern endet ein weiteres Juwel des Albums.
Aphelion (Scene 3) 7:25
Als Aphel bezeichnet man in der Astronomie den Punkt der größten Entfernung eines Planeten von der Sonne. So weit entfernt von den lebensspendenden Kräften der Sonne ist die Musik jedoch nicht. Ziemlich geerdet klingt das raue, rotzige Gitarrenspiel, das von perlenden Pianokaskaden unterbrochen wird. Das Schlagzeug wirbelt, treibt an, erlebt sogar ein kleines Solo bei Minute 4:30. Das Mahavishu Orchestra, oder Brand X lassen in dem schön groovendes Jazzrockstück grüßen. Wo nimmt der Nick bloß diese unglaublichen Melodien her? Sie verzaubern uns, lassen uns beglückt zurück.
Ziggurat of Dreams (Part 2) (Interlude) 1:51
Ambientartige Sounds, von Keyboards und Gitarre erzeugt, beruhigen den Zuhörer/die Zuhörerin.
The Helix (Scene 4) 6:24
Ein Stück, das in seiner Stimmung leicht an „Mental Meditation“ von UK erinnert. Sehr zurückgenommen entfaltet sich die Helix, um sich langsam ins Gehör zu winden. Magisch umgarnt sie Hörer und Hörerin. Das Schlagzeug erzeugt den sophisticated Klang eines Bill Bruford. Wie gebannt verbeugen sich Hörer und Hörerin vor der Musik.
To the Stars we shall Return (Interlude) 2:56
Wieder erwartet uns ein Moment der Ruhe. Ambient-Sounds, Tablaklänge, perkussive Rhythmen begleiten eine Gitarre, die sich immer mehr in ein vertracktes Solo steigert. Reisen wir zu den Sternen über Indien? Eine Anspielung auf die hinduistische Mystik? Der Song bildet tatsächlich den Auftakt zu einer Reise in den fernen Osten.
The Journey to Varanasi (Scene 5) 7:11
Schwere, metallene Gitarren spielen auf, Keyboards erklingen in fernöstlichem Gewand und einer Sitar ähnelnde Klänge lassen sich zu einer indischen Melodie herab. Auf der Reise zum spirituellen Zentrum Indiens wird richtig gerockt. Led Zeppelin meets Jazzrock – was für eine Kombination! Gut, die hatte es ja nach Kashmir verschlagen. Doch mitten im Song unterbricht der Bass die Reise. Er pumpt und blubbert bis ihn die Metallklänge aufnehmen. Die Gitarre beginnt zu singen, das Keyboard ertönt zerhackt – das Chaos regiert bis alles unter der Sitarmelodie vereint wird. Das ist umwerfende Musik, die in ihren Emotionen, ihrer Wildheit eine raue Schönheit offenbart. Das dritte Highlight!
Standing on the Edge of Time (Denouement) 4:14
Am Rande der Zeit schließt sich der Kreis. Die Auflösung (Denouement) nimmt die Musik der Prelude auf. Nick beglückt die Hörerin, den Hörer mit einer schwebenden floydigen Gitarre. Sie jubiliert über das Ende, das wieder der Anfang ist. Das Leben löst sich auf, zu den Sternen gehen wir, um als Sternenstaub wieder geboren zu werden.
Zusammenfassung
Wieder ist Nick Fletcher ein intelligentes Album voller Inspirationskraft und Kreativität gelungen. Man könnte ihm durchkomponierte Kopfmusik vorwerfen. Dem widerspricht aber die Spielfreude, der Freiraum für die Solisten und die Wärme der Musik. Er bettet Zitate von Bands / Musikern wie U.K., Bruford, Mahavishnu Orchestra, Iona, auch den Flower Kings in seinen eigenen Stil aus Jazz, Rock, Prog ein. Er findet mit dem Thema des Albums tröstende Worte über das unausweichliche Ende unserer Existenz auf der Erde. Sie endet nur, damit wir als Staub zu den Sternen gehen können. Wir werden in ihrem Licht wiedergeboren und schweben träumend im Universum. Nick übernimmt Elemente der antiken und mittelalterlichen Philosophie, der Alchemie und fernöstlicher Lehren und verwebt sie mittels seines künstlerischen Talents in eine Quelle wundervoller Musik.
Der Albumtrailer zeigt Nick, wie er mit seinem Blick die Weite des Meeres streift6. Ja, wie das Meer ist seine Musik: Auf der einen Seite säuselnd, leise rauschend, auf der anderen Seite donnert und brausend, aber immer voller faszinierender Tiefen.
Wenn man seine drei Jazzrockalben als Trilogie begreift, ist diese Suite der Höhepunkt und die Vollendung. Was mag dem folgen?
Nachbemerkung
Nick zitiert in den Linernotes ein Gedicht von Samantha Turner *7. Die Verse drücken mit poetischer Kraft das Kernthema des Albums, vielleicht sogar seines gesamten Schaffens aus. Ich möchte sie hier aufführen:
Daydream
Find joy in every moment
See the blue behind the grey
Don’t be ruled by fear and torment
But see the beautiful array
Of colours that dance
Alive in the light
Creating a story of rainbows
Against the shadows of the night
In times of loss and sorrow
In every pain Is a memory reflected
But the past cannot remain
There is no time to borrow
Our candle wick must burn
And soon we will be dust
Then to the stars we shall return
Autor: Thomas Jesse
Das Album ist ab 15.09.2023 erhältlich
auf der Website des Künstlers (dort auch in digitaler Version), bei
JustForKicks, JPC und Amazon.
Weitere Rezensionen gibt es bei uns zu den Alben Cycles Of Behaviour und The Cloud Of Unknowing.
Referenzen:
*1: siehe u.a. hier
*2: siehe hier und hier
*3: siehe hier und weiterführend hier
*4: siehe hier
*5: siehe hier
*6: siehe hier
*7: siehe hier