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Mike Rutherford – The Living Years: The First Genesis Memoir – Rezension
Mike Rutherford hat ein Buch über Genesis, die Mechanics und vor allem das Verhältnis zu seinem Vater geschrieben. Es ist das erste Mal, dass ein Genesis-Mitglied einen derart tiefen Einblick in sein Gefühlsleben gibt. Jan Hecker-Stampehl ist eingetaucht in eine Welt von Mike Rutherford, die Fans bisher nicht kannten.
Mike Rutherford legte 2014 mit The Living Years eine Autobiographie über seinen Werdegang als Musiker vor. Vermarktet wird diese mit dem Zusatz „The First Genesis Memoir“ und in der Tat ist der Genesis-Gitarrist und -Bassist der erste unter seinen Mitstreitern, der sich hingesetzt hat, um die wichtigsten Stationen seines Musikerdaseins zu rekapitulieren.
Der Titel ist dem 1988er Nr.-1-Hit seiner Formation Mike + The Mechanics entlehnt, dessen Text vor dem Hintergrund, dass Mike Rutherfords und Co-Songschreiber B.A. Robertsons Väter einige Zeit zuvor gestorben waren, entstand. So beklagt der Text, wie vieles in zwischenmenschlichen Beziehungen ungesagt bleibt, bis es zu spät ist, besser, man sage seinen Liebsten zu Lebzeiten. in the living years“), wie sehr man sie liebt. Rutherford springt auf den ersten Seiten direkt zu diesem Thema und erinnert sich, wie ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters im Herbst 1986 ereilte, mitten in der umfangreichsten Tournee, die Genesis je spielten.
Er schildert sehr offen, wie er mit dem Schock umging, zur Beerdigung nach England und zurück in die USA zum nächsten Genesis-Auftritt hetzte (die Concorde machte es damals noch möglich) und benennt damit die zwei wichtigsten Pole seines Lebens: Die Familie und die Band Genesis, die ihn erfolgreich und berühmt machte. Und er benennt immer wieder die Sprachlosigkeit zwischen seinem Vater und ihm, schon zu Lebzeiten, die Unfähigkeit, über Gefühle zu reden, so fiel zwischen seinem alten Herrn und ihm niemals ein „Ich hab dich lieb“.
Was Rutherfords Memoiren außergewöhnlich macht und von vielen üblichen Musikerbiographien abhebt, ist der immer wieder vorgenommene Rückgriff auf eine unveröffentlichte Erinnerungsschrift seines Vaters, sozusagen dessen eigene Memoiren, die ein ganz anderes Leben schildern, das 1906 noch im imperialen Großbritannien begann, für dessen Marine William Rutherford viele Jahrzehnte tätig war. Rutherford zitiert immer wieder aus diesen Erinnerungen seines Vaters und illustriert damit einerseits seine Familiengeschichte, andererseits aber auch den Wandel der Lebenswelten von der Generation seiner Eltern hin zu der seinen.
Da ist einerseits der relativ alte Vater (bei Mikes Geburt ist er 44), andererseits aber auch ein so großer Bruch, eine Umwälzung der Lebensverhältnisse, und mit der aufkommenden Popmusik ein vollkommen neuer Lebensstil. Für diese Veränderungen zeigt Rutherford als Autor (er hatte zwar Hilfe von verschiedenen Seiten, aber offensichtlich keinen Co-Autor oder Ghostwriter, wie bisweilen bei Musikermemoiren) feine Antennen. Nehmen diese Zitate zu Beginn des Buches noch mehr Platz ein, als es noch stärker um die Kindheit und Jugend von Mike Rutherford geht, so treten diese immer mehr in den Hintergrund, je stärker es um die Zeit ging, seit er auf eigenen Füßen stand und sich die amateurhaft agierende Schülerband Genesis zu einer professionellen und irgendwann dann auch erfolgreichen Rockband mausert.
Rutherford schreibt in einem recht nüchternen, aber sehr effizienten Stil. Wie so oft in solchen Schilderungen nehmen die Anfangsjahre mehr Platz ein als die späteren Jahre, hier mag auch nicht ganz der lange Atem vorhanden gewesen zu sein. Sogar das irgendwie problematische und umstrittene letzte Studioalbum Calling All Stations wird abgehandelt – auf einer halben Seite. Allerdings muss ja auch nicht jedes Album und jede einzelne Erinnerung dazu hervorgekramt werden – dann würde man sich im Gegenteil vielleicht eher langweilen.
So gelingt Rutherford ein recht kurzweiliges Porträt seiner Band Genesis und seiner sonstigen musikalischen Aktivitäten mit einzelnen ausgewählten Ausblicken auf sein Privatleben. Die selbstironische Haltung, die man aus vielen Interviews kennt, scheint immer wieder durch und es ist bei dem ganzen Starkult, der in der Rock- und Popmusik oft üblich ist, wieder mal sehr erholsam, hier jemanden zu erleben, der immer noch Bauklötze über den eigenen Erfolg staunen kann und der sich selbst nicht allzu ernst nimmt.
Ein Aspekt, der sich durch das Buch zieht, ist auch das Experimentieren mit Drogen, insbesondere der immer wieder erwähnte Cannabis-Konsum. Genesis hatten sich nie als klassische „Sex, drugs & Rock’n’Roll“-Vertreter geriert und galten lange eher als „die braven Knaben von nebenan“. Diesem Bild fügt Rutherford hier neue Nuancen hinzu, wenn auch die Menge von Rauschgiften, die bei anderen Bands so verbraucht wurden, vermutlich viel höher lag. Der Hinweis darauf, dass Phil Collins schon immer sehr viel Alkohol vertragen habe, liest sich vor dem Hintergrund der inzwischen von Collins selbst bekannt gemachten Alkoholabhängigkeit der letzten Jahre mit einem bitteren Beigeschmack und erscheint wie ein Vorbote.
Prägend sind aber vielmehr die Einschätzungen und Schilderungen zu den verschiedenen Phasen der Bandgeschichte. Wer schon einiges über die Band weiß, erwarten hier keine Sensationen, aber doch viele nette Anekdoten und die Sicht des jahrelangen Insiders. Spannend sind auch die Einblicke in die Entstehung und Entwicklung seiner Zweitband Mike & The Mechanics, von der viele weitaus weniger wissen. Rutherford vermittelt auch hier das Bild, das er in zahlreichen öffentlichen Auftritten pflegt. Er kommt als ein Rockstar ohne Allüren herüber, der weiß, wie wenig selbstverständlich der riesige Erfolg sowohl mit Genesis als auch der verglichen damit geringere (aber doch immer noch sehr beachtliche) mit Mike + The Mechanics war. Ein Rockstar, der allerdings auch weiß, dass hinter dem Erfolg jahrelanges hartes Arbeiten und viel Geduld steckten plus die nötige Portion Glück, und der auch dankbar dafür ist.
Fazit: Für jeden Fan ist die Lektüre natürlich ein Muss, auch wenn hier keine Leichen aus dem Keller geholt werden. Wer zudem noch ein wenig über die Rockmusik vor allem in den 1970er und 1980er Jahren erfahren will, bekommt hier ein authentisches autobiographisches Dokument, dessen Autor nah am echten Leben bleibt und keinesfalls abgehoben wirkt.
Autor: Jan Hecker-Stampehl
Mike Rutherford: The Living Years. London: Constable 2014. 241 Seiten.
ISBN 978-1-4721-0981-1 – amazon
Dt.: Rhythmen des Lebens. Höfen: Hannibal Verlag 2014,
ISBN 978-3-85445-457-1 – amazon | JPC