- Artikel
- Lesezeit ca. 54 Minuten
Genesis – Tour-Tagebuch der Europa-Tour 2022: The Last Domino!
Die letzte Genesis-Tour war für manche Gelegenheit, die Band überhaupt noch einmal zu sehen. Für andere war es die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Niklas Ferch schildert die Tour aus seiner ganz persönlichen Sicht eines reisenden Fans.
Vorneweg: Genesis sind „meine Band“ – die Gruppe um Tony Banks, Phil Collins, Peter Gabriel, Steve Hackett und Mike Rutherford hat meinen Musikgeschmack wie niemand sonst geprägt, seit ich im zarten Alter von 14, 15 Jahren begonnen habe, mir ihr vielfältiges und mitunter herausforderndes Oevre zu erschließen. Im Folgenden versuche ich, meine Gedanken und Gefühle rund um Genesis‘ – und Phil Collins‘ – vermutlich wirklich letzte Konzertreihe zu sortieren: Allen Widrigkeiten zum Trotz konnte ich meine Lieblingsband im März 2022 endlich nochmal live sehen. In Berlin, in Hannover, in Amsterdam und schließlich in London. Am Ende waren die Konzerte anders als zuvor jahrelang in Träumen ausgemalt, aber trotzdem beeindruckend, aufwühlend, überwältigend, unterhaltend – … eben all das, was (Live-) Musik im besten Fall so sein kann. Aber der Reihe nach!
ANOTHER TIME IT MIGHT HAVE BEEN SO DIFFERENT …
Als Spätgeborener war die 2007er Turn It On Again-Tour – die Phil Collins damals lieber als „Selection of Shows“ denn als Tour bezeichnete, nachdem er sich 2004/05 mit seiner First Final Farewell Tour aus familiären Gründen von dem Leben auf Tour verabschiedet hatte – die einzige Möglichkeit, Genesis live zu sehen. Als 15-Jähriger Teenager hatte ich über das Konzert im Frankfurter Fußballstadion geschrieben, ich hätte mich auf keinen anderen Tag in meinem Leben so sehr gefreut wie auf diesen 5. Juli 2007. Heute, mit 30, möchte ich das (etwas) relativieren. Jahrelang hatte ich auf eine Rückkehr von Phil Collins auf die Bühnen dieser Welt gehofft – ohne zu wissen, wie dreckig es ihm persönlich im selbst verordneten Ruhestand eigentlich ging und wie folgenschwer diese Zeit für ihn tatsächlich sein würde. Die Veröffentlichung seiner Autobiografie und das dazugehörige Live-Comeback in Gestalt der (Still) Not Dead Yet-Tour (2017-2019) waren für mich eine unerwartete, bitter-süße Überraschung: Die Konzerte waren hoch emotional und geprägt von der augenscheinlichen Fragilität des nunmehr im Sitzen singenden und nicht mehr Schlagzeug spielenden Ausnahmekünstlers – aber eine weitere Genesis-Reunion war auch nach rund 100 Konzerten auf vier Kontinenten in diesem Setting nicht wirklich wahrscheinlicher geworden. Genesis waren immer mehr und größer als Phil Collins: Anders als Phil Collins-Konzerte waren Genesis-Konzerte nach dem Weggang von Peter Gabriel immer auch definiert durch die Wucht zweier Schlagzeuger bei den zahlreichen Instrumentalpassagen. Auch gesanglich sind die Genesis-Songs meist eine größere Herausforderung als Phil Collins‘ Solomaterial – so ist im Tourprogramm der Not Dead Yet-Tour etwa noch die Aussage Collins‘ abgedruckt, an Stücke wie Genesis‘ Mama sei nicht mehr zu denken. Nichtsdestotrotz scheint der Mann im Laufe der Comeback-Konzerte nicht nur die Leidenschaft und den Spaß an Livekonzerten zurückgewonnen zu haben, sondern auch Selbstbewusstsein und Stimmumfang (man vergleiche etwa Mitschnitte von Against All Odds von 2017 mit jenen von 2019).
IF ONLY WE COULD DO IT ALL AGAIN
Gleichzeitig scheint sich bei Phil Collins auch der Wunsch, nochmal mit Tony Banks und Mike Rutherford aufzutreten, konkretisiert zu haben. In der Ansage vor den beiden Genesis-Songs in der ersten Konzerthälfte seines Soloprogramms (Follow You Follow Me und Throwing It All Away) erzählte Phil ohnehin schon seit den ersten Konzerten im Frühjahr 2017, dass alle ehemaligen Genesis-Mitglieder ’still great friends‘ seien. Tony und Mike hatten bereits 2017 eines von Phils Konzerten in der Royal Albert Hall besucht. Auch fungierte Mike mit seinen Mechanics im Sommer 2017 als Support Act bei Phils großen Open Air-Konzerten in Dublin und im Londoner Hyde Park. Zu einem gemeinsamen Auftritt kam es allerdings, wie schon 2004, nicht. Dementsprechend groß war die Überraschung, als Phil bei seinem Konzert im Berliner Olympiastadion am 7. Juni 2019 plötzlich Mike für Follow You Follow Me auf die Bühne holte. Dieses Gastspiel wiederholte sich dann bei den verbleibenden Shows in Europa, bei denen Mike & the Mechanics das Vorprogramm bestritten. Beim allerletzten Konzert der Still Not Dead Yet-Tour im Oktober 2019 in Las Vegas winkte Phil aber bereits mit dem Zaunpfahl in Richtung einer möglichen Genesis-Tour, als er sagte, er und die anderen Genesis-Jungs seien immer noch Freunde und deshalb wisse man ja nie, was noch so passieren könnte. („We’re still great friends so you never know what’s gonna happen – you never know“) – untermalt von einer Angel-werfen-und-Fisch-an-Land-ziehen-Geste …
Im Januar 2020 – und damit nur wenige Wochen nach Abschluss der Still Not Dead Yet-Tour – wurden Tony Banks und Mike Rutherford, Phil Collins und Nic Collins, getrennt voneinander sitzend, im New Yorker Madison Square Garden gesichtet, als sie ein Basketballspiel besuchten. Schnell rumorte es in den einschlägigen Musikforen. Gerüchte machten die Runde, wonach Genesis im Herbst 2020 in der Besetzung Banks/Collins/Rutherford mit Unterstützung durch Nic Collins am Schlagzeug und Daryl Stuermer an der Gitarre Arena-Shows in Großbritannien planten. Die gleiche Quelle veröffentlichte eine angebliche Setlist der Proben (die sich im Nachhinein als wenig authentisch herausstellte). Tatsächlich, so berichtete es Nic Collins in einem Interview im Nachklang der The Last Domino?-Tour, hatte Mike bereits im Herbst 2018 in San Francisco ein weiteres Mal eines von Phils Konzerten besucht und mit Phil über eine mögliche Genesis-Reunion gesprochen. Demnach hatten Tony, Mike und Phil bereits im Herbst 2019 per E-Mail eine Setlist zusammengestellt und sich für Anfang 2020 zu unverbindlichen Proben in New York City verabredet.
Anfang März 2020 kam es dann im Kontext eines Charity-Konzertes in der Londoner 02-Arena zu einer Reunion von Mike Rutherford und ex-Mechanics-Sänger Paul Carrack, bei der die beiden (neben dem Mechanics-Hit Over My Shoulder) eine interessante Version von Genesis‘ I Can’t Dance spielten – das markante „I (can’t dance)“ im Refrain wurde dabei maßgeblich von den Backgroundsänger:innen gesungen. Für mich gehört dieser Auftritt bei Music for the Marsden – wie auch die bereits erwähnten Phil Collins-Konzerte in Dublin 2017 und in Berlin 2019 – in die Chronologie der Vorgeschichte meiner persönlichen Last Domino-Reise: Nach Dublin war ich damals alleine geflogen; hatte mich aber über das Internetforum des Deutschen Genesis-Fanclubs unbekannterweise mit Alex, einem weiteren Konzertreisenden aus Hessen, verabredet. Daraus ist inzwischen eine rege Musikfreundschaft gewachsen. Trotz des langsam in Europa ankommenden neuartigen Corona-Virus waren wir beide in der ersten Märzwoche 2020 gemeinsam mit dem Zug von Frankfurt nach London gereist. Neben Mike Rutherford und Paul Carrack hatte uns auch das sonstige Line-Up des Benefizkonzertes zugesagt und so saßen wir in der Londoner 02-Arena und lauschten dem All Star-Aufgebot, das (der kürzlich verstorbene) Gary Brooker von Procol Harum so zusammengestellt hatte.
Für den nächsten Morgen war durch die BBC auf Twitter die Wiedervereinigung einer „massive band“ angeteasert worden – und tatsächlich war die Sensation perfekt, als Tony Banks, Phil Collins und Mike Rutherford am 3. März 2020 in BBC-Frühstücksradio ihre ersten gemeinsamen Konzerte seit 2007 ankündigten. Die The Last Domino?-Tour sollte zunächst 10 Konzerte umfassen und das Trio, ergänzt um Nic Collins und Daryl Stuermer, im November und Dezember 2020 durch die größten Hallen Irlands, Nordirlands, Englands und Schottlands führen. Im Interview mit BBC-Moderatorin Zoe Ball begründete Mike Rutherford die Ankündigung damit, dass sie alle noch gute Freunde seinen, noch nicht ins Gras gebissen hätten, in den vergangenen 30 Jahren lediglich zwei Konzerte in ihrer Heimat Großbritannien gespielt hätten – und er persönlich Lust hätte, das im Vergleich zu seinen Mechanics doch recht düstere Genesis-Material nochmal aufzuführen. Tony Banks lobte Nic Collins‘ Fähigkeiten als Schlagzeuger und Phil Collins, der durch eine Erkältung nur recht schwach bei Stimme war, sagte, er wolle sogar versuchen, seinen Sohn ein wenig am Schlagzeug zu begleiten.
Bereits beim Frühstück in einem Londoner Café diskutierten Alex und ich, welche Konzerte der The Last Domino?-Tour wir uns anschauen wollen und wie die Setlist unter diesen Vorzeichen ausfallen könnte …
Wenige Tage später stand bereits der Vorverkauf ins Haus. Alex und ich koordinierten uns und ergatterten gemeinsam Karten für die beiden Auftakt-Konzerte in Dublin (16./17.11.2020) und die beiden Homecoming-Gigs in London (29./30.11.2020). Hinsichtlich der Stimmung und des Preis-Leistungs-Verhältnisses wären uns Stehplätze im Innenraum natürlich lieber gewesen, aber nach den Erfahrungen mit Phils (Still) Not Dead Yet-Tour war im Grunde klar, wohin die Reise gehen würde: Knapp unter 100 Euro für die günstigsten Karten in den Oberrängen und deutlich über 400 Euro für die teuersten regulären Plätze in den Blöcken vor der Bühne. Wer noch näher heran möchte, war im Vorverkauf quasi gezwungen, abermals teurere VIP-Pakete mit einfallsreichen Namen wie „Tonight, Tonight“- oder „I Can’t Dance“-Package zu erwerben (oder es eben zu lassen). Die Dublin-Konzerte hätten für uns den Charme gehabt, dass sie nicht nur den Tourauftakt markieren sollten, sondern dass sich gewissermaßen auch der Kreis zu dem 2017er Trip für das Phil Collins-Konzert schließen würde – und dass die dortige Halle wirklich winzig ist im Vergleich zu den üblichen Basketball-/Eishockey-Multifunktionsarenen in Kontinentaleuropa. Die Konzerte in London sollten den Kreis schließen zu unserem gemeinsamen London-Trip zu Music for the Marsden, der schließlich auch durch die Tourankündigung gekrönt wurde. (Im Rückblick auf den schlussendlich wirklich erfolgten Abschluss der The Last Domino!-Tour im März 2022 mit Peter Gabriel im Publikum schließt sich mit der O2 Arena als Austragungsort auch ein weiterer Kreis, hatte doch Peter Gabriel mit seiner OVO-Show die früher Millenium Dome genannte Konzerthalle anno 2000 eröffnet…). In Anbetracht der Ticketpreise entschieden wir uns jeweils für etwas teurere Plätze im mittleren Innenraum für den ersten Abend und günstigere Plätze im Oberrang für den zweiten Abend.
LOST IN A CHANGING WORLD
Bereits wenige Tage nach dem Vorverkauf für die britischen und irischen Termine der Tour hatte die Corona-Pandemie die Welt fest im Griff. Die Zahl der Infizierten mit dem neuartigen Virus schoss in die Höhe, das Gesundheitssystem kam vielerorts an seine Grenzen und Bilder von Militärkonvois zu den Krematorien im italienischen Bergamo gingen viral. Schulen wurden geschlossen, Angestellte nach Möglichkeit ins „Home Office“ geschickt, öffentliche Veranstaltungen verschoben oder abgesagt und manche Staaten verhängten gar unterschiedlich strikte Ausgangsbeschränkungen. Die Durchführbarkeit von kulturellen Veranstaltungen rückte zunehmend in weite Ferne (ich weiß noch, wie ich im März 2020 blauäugig noch auf das für April 2020 angesetzte Steve Hackett-Konzert in Wuppertal hoffte). Nichtsdestotrotz war die Aussicht auf eine Entspannung der Lage „im Sommer“ im ersten Pandemiejahr durchaus gegeben. Im Nachhinein ist man ja bekanntlich immer schlauer und so mussten Genesis Ende Juli 2020 ihre Tour von Ende 2020 auf das Frühjahr 2021 verschieben. In diesem Zuge wurde auch der Tourplan komplett durcheinander gewürfelt, sodass der Tourauftakt fortan in Glasgow stattfinden sollte und die London-Shows nicht mehr am Wochenende, sondern zerstückelt unter der Woche liegen sollten. Das ärgerte uns zunächst, allerdings hatten wir aufgrund der unklaren Lage ohnehin außer den Eintrittskarten noch nichts gebucht. Im Zuge der Verschiebung bekam London allerdings noch ein drittes Konzert spendiert, für das ich kurzerhand auch noch zwei Karten der günstigsten Kategorie bestellte. Anfang 2021 war dann klar, dass auch diese neuen Termine nicht gehalten werden konnten. So wurden die Shows im Januar 2021 in den Herbst 2021 geschoben: Damit waren die Dublin-Shows wieder der Auftakt und die London-Termine lagen wieder reisefreundlich am Ende der Woche. Vermutlich um die Hoffnung zu nähren, dass die Konzerte irgendwann auch wirklich gespielt werden würden, veröffentlichten Genesis zeitgleich ein kurzes Promovideo, das die Band in Full Production Rehearsals zeigt:
Das 50-sekündige Filmchen ist unterlegt mit dem Beginn des instrumentalen Behind The Lines, zeigt jedoch einen Zusammenschnitt der Aufnahmen verschiedener Songs, wie die Filme auf der – damit erstmals gezeigten – hochauflösenden LED-Bühnenrückwand sowie die Stellungen der fünf „Dominosteine“, die mit allerlei Vari*Lights bestückt variabel oberhalb der Musiker angebracht sind, suggerierten. Mit der Veröffentlichung dieses Videos heizten Genesis nicht nur das Rätselraten geneigter Fans an, welche Songs sie womöglich in den jeweiligen Sequenzen proben, sondern offenbarten auch, dass Phil Collins von zwei jungen männlichen Backgroundsängern unterstützt würde. Die beiden, Daniel Pearce und Patrick Smyth, nehmen den Platz links hinten auf der Bühne ein, den früher Chester Thompsons Schlagzeug hatte. Nic Collins‘ neues silbergraues Gretsch-Schlagzeug ist eine Replik des weißen Gretsch-Sets, das sein Vater Mitte der 1980er Jahre spielte, und nimmt den Platz von Phils Schlagzeug ein. Auch die Tonspur des Videos legte nahe, dass bei der Aufnahme nur ein Drummer – Nic Collins – zu Werke war. Wenige Wochen später strahlte die BBC ein Radionterview mit Patrick Woodroffe, Genesis‘ Lichtdesigner, aus, das ebenfalls mit (instrumentalen) Ausschnitten den Proben unterlegt war (so etwa Home By The Sea). Während von den Full Production Rehearsals, die im Herbst 2020 in London stattfanden und die von der Band für den Eigengebrauch komplett gefilmt wurden, so gut wie keine Informationen an die Öffentlichkeit gelangten, war es die Band selbst, die hier und da Details über die Produktion verrieten: So gaben etwa Tony, Phil und Mike dem Prog Magazine ein Interview, in dem sie sagten, sie würden zumindest Auszüge von Supper’s Ready erwägen. Am meisten spoilerte allerdings Nic Collins, der noch vor Tourbeginn gleich mehreren Drummer-Kanälen auf YouTube Interviews gab und dabei nicht nur über Trommeln, Becken und Co. Auskunft gab, sondern eben auch über die Songs, bei denen etwa Drum Machine-Loops (etwa Mama, Hold On My Heart) oder Trigger zum Abspielen der für das Genesis- und das Invisible Touch-Album typischen Simmons-E-Drum-Sounds zum Einsatz kommen würden (Second Home By The Sea, Domino). Darüber hinaus erzählte Nic mitunter auch, dass Stücke wie Land Of Confusion, No Son Of Mine oder Abacab geprobt wurden.
Im April 2021 deutet Mike Rutherford in einem Podcast an, dass Genesis in der zweiten Jahreshälfte auch in Nordamerika spielen könnten. Tatsächlich wurden Ende April rund 20 Konzerte für November und Dezember 2021 an der amerikanischen Ostküste angekündigt. Nebenbei hatte das Genesis-Management scheinbar wieder jemanden für den Social Media-Bereich engagiert: So wurden die Follower:innen auf Facebook und Instagram beispielsweise zu ihren beliebtesten Stücken befragt, woraus dann entsprechende offizielle Spotify-Playlists zusammengestellt wurden (juhu). Interessant war hingegen, dass den Abonnent:innen des offiziellen Genesis-Newsletters eine Behind the Gear-Reihe angekündigt wurde, die letzten Endes darin bestand, nach und nach zu Keyboards, Gitarren, Drums und Gesang je einen Sonder-Newsletter zu verschicken, in denen kurze Texte des jeweiligen Musikers mit enttäuschend oberflächlichen Equipment-Informationen garniert wurden. Gelungen daran waren einzig die Fotos: Hier wurde auch ein ‚kleines‘ (mit nur zwei Hänge- und zwei Standtoms ausgestattetes), für Linkshänder aufgebautes Schlagzeug gezeigt – dasselbe Schlagzeug, das auch auf Fotos zu sehen war, die das Mojo-Magazin und die offiziellen Social Media-Kanäle der Band in den Monaten vor Tourbeginn verbreitet hatten. Im Nachhinein ist also anzunehmen, dass Phil Collins zumindest bei den musikalischen Proben (ohne Bühne) versucht hat, seinen Sohn bei (ausgewählten?) Instrumentalpassagen ‚zu begleiten‘ (wie Phil es bei der Tourankündigung in der BBC in Aussicht stellte). Wie schon bei den Proben für seine Solo-Comeback-Tour, von denen ebenfalls Fotos mit dem berühmten In The Air Tonight-Schlagzeug (ohne Becken) existieren, ließ sich dieses Vorhaben scheinbar (leider) nicht in Bühnentauglichkeit übersetzen…
LIKE THE STORY THAT WE WISH WAS NEVER ENDING ...
Wie schon 2007 war auch 2021 wieder die erste Jahreshälfte geprägt vom Aufschnappen und Diskutieren jeder noch so kleinen Information, die aus dem Bandumfeld bewusst oder unbewusst an die Öffentlichkeit geriet. Zwischenzeitlich war unter dem Namen The Last Domino? auch ein – abseits der Vinyl-Variante ziemlich überflüssiges – Best Of-Album angekündigt worden, dessen Tracklist(s) gut zu den bereits herumgeisternden Gerüchten und Spekulationen über die Setlist passte: Dramaturgisch dem Aufbau der 2007er Setlist folgend, enthält das aus den bekannten Studioversionen bestehende Doppelalbum auch einige Sequenzen, die sich im Konzert als altbekannte oder neue Medleys bzw. Übergänge herausstellen könnten. Neben allen Radiohits und Live-Klassikern wie Domino, Home By The Sea oder Afterglow enthält das Album auch Deep Cuts wie etwa Fading Lights, The Lamb Lies Down On Broadway oder Duchess. Mike Rutherford hatte allerdings schon im Vorfeld angekündigt, dass die Konzerte nicht wesentlich länger als zwei Stunden dauern sollten. Dementsprechend war also klar, dass die Tracklist des 2CD- bzw. 4LP-Sets zu lang für die Setlist der Konzerte sein würde und dass daher nicht alle darauf enthaltenen Stücke (in Gänze) gespielt werden könnten. Es sollte also spannend bleiben.
Bei aller Euphorie schlug aber auch die Corona-Pandemie nach wie vor um sich. Mittlerweile waren zwar mehrere wirksame Impfstoffe entwickelt worden; die Verteilung des Impfstoffes verlief dabei aber in Großbritannien wesentlich schneller als in Deutschland. Auch fuhr die britische Regierung – nicht zuletzt wegen der Fußball-Europameisterschaft – eine wesentlich weniger restriktive Corona-Strategie als die meisten anderen europäischen Länder, sodass die Durchführbarkeit der Genesis-Konzerte in Großbritannien just in time im Laufe des Sommers immer wahrscheinlicher wurde.
Gleichzeitig waren die Reisebestimmungen ins Vereinte Königreich durch Pandemie und Brexit eine weitere organisatorische Hürde: Einen neuen Reisepass hatte ich bereits, für die Impfung musste ich jedoch selbst aktiv werden, um im September den vollen Impfschutz – und damit de facto die Reiseerlaubnis – zu haben. Die irische Regierung taktierte indes vorsichtiger, sodass Genesis die beiden Dublin-Shows irgendwann auf unbekannt verschieben und schließlich gänzlich absagen mussten.
WE KNOW SOMETIMES WE MUST REACH THE FINAL PAGE
Kurz vor dem ersten Konzert der Tour in Birmingham veröffentlichten Genesis über einem amerikanischen Fernsehsender nicht nur die The Last Domino?-Dokumentation, sondern gaben dem BBC-Frühstücksfernsehen auch noch ein Interview von den finalen Proben. Beides waren Offenbarungseide: Die Dokumentation zeigte die Band in verschiedenen Phasen der Proben und der Entwicklung der Bühnenshow – und einen Phil Collins in unterschiedlichen stimmlichen Verfassungen: Während sein Gesang etwa in einem Ausschnitt von That’s All recht kratzig und hinter dem Beat daherkam, wussten Ausschnitte von Mama und Domino doch zu überzeugen. Zwar wurden seine gesanglichen Einschränkungen seit der 2007er Tour ungeschönt gezeigt; eine merkliche Steigerung im Verlauf der Proben ist aber auch nicht wegzudiskutieren. Nichtsdestotrotz sagte Phil im Interview noch vor der ersten gespielten Show, dass er nach den angekündigten Konzerten in England und den USA genug hätte und vermutlich nicht mehr touren möchte.
SO WE CARRY ON JUST PRETENDING …
Mit nunmehr „nur“ noch Karten für die drei Londoner Abschlusskonzerte der UK-Tour verfolgte ich den Auftakt der The Last Domino?-Tour am 20. September 2021 über Social Media. Bereits tagsüber hatten Fans aus den unterschiedlichsten Ländern die einschlägigen Facebook-Gruppen mit Anreisefotos geflutet. Nachmittags tauchten dann die ersten Fotos der um die Halle herum aufgebauten offiziellen Merchandise-Stände auf. Erwartungsgemäß gab es vor allem teure, lieblos gestaltete T-Shirts – interessant war allerdings eines, das auf der Vorderseite das Bandlogo und auf der Rückseite scheinbar eine von Nic Collins handgeschriebene Setlist aufgedruckt hat. Diese Abfolge entspricht grundsätzlich der Reihenfolge der Stücke auf dem Best Of-Album, enthält allerdings nicht alle Tracks des Albums. Später am Abend konnte man über Facebook den Großteil des Konzertes quasi in Echtzeit verfolgen, weil zahlreiche Fans wiederholt minutenlang „live gingen“ und mit ihren Smartphones Live-Videos in die Facebook-Gruppen streamten. Diese spezielle popkulturelle Praktik des 21. Jahrhunderts ist eine ambivalente Kiste: Einerseits stören mich ‚Dauerfilmer‘ (wie alle anderen Störenfriede auch) in Konzerten massiv; andererseits ist es ja auch schön, besondere Momente für die Ewigkeit festzuhalten und mit anderen zu teilen, die eben nicht live dabei sein können… Davon dürfte es bei der The Last Domino?-Tour eine ganze Menge gegeben haben: Eine überschaubare Anzahl von Konzerten in einer überschaubaren Anzahl reicher Länder bei horrenden Ticketpreisen, restriktiven Reisebestimmungen und einem fiesen, über die Luft übertragbaren und hochansteckenden, potentiell tödlichen Virus sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein niederschwelliges Kulturangebot?
THAT THERE’LL ALWAYS BE ONE MORE DAY TO GO
… und kurz vor der Reise nach London machte uns eben dieses Virus – zum vierten Mal – einem Strich durch die Rechnung: Mehrere Bandmitglieder und deren Angehörige hatten sich trotz Impfung mit dem Coronavirus infiziert, sodass Genesis ihre UK-Tour im Oktober 2021 nicht wie geplant abschließen konnten. Das zweite Glasgow-Konzert und die drei London-Konzert mussten abgesagt bzw. verschoben werden. Für uns bedeutete das, dass wir freitagmittags erfuhren, dass wir montags nicht nach London reisen würden. Unsere kurz zuvor gebuchte Unterkunft und die Flüge (der EuroStar war pandemiebedingt eingestellt und daher keine Option) mussten wir auf unbekannt verschieben. Emotional war ich an dem Punkt zu sagen, dass das Schicksal einfach nicht will, dass ich meine Lieblingsband nochmal sehe – hatte ich doch zu diesem Zeitpunkt für 5 der 6 einzig nicht stattgefundenen Konzerte der Tour Tickets gehabt. Wie es das Schicksal (oder der Kapitalismus) so will, öffnete die abermalige Verschiebung der Londoner Konzerte aber ein Gelegenheitsfenster, von dem ich massiv Gebrauch machen würde: Genesis konnten für Ende März 2022, also ziemlich genau zwei Jahre nach Ankündigung, einen freien Slot im Terminplan der Londoner O2 Arena finden, um die Last Domino?-Tour– und damit die Liveband Genesis – ‚zu Bett zu bringen‘, wie Phil Collins es im BBC-Interview formulierte. Um diese drei Abschlusskonzerte logistisch rentabel zu machen, wurde noch ein Dutzend weitere Shows in die Wochen vor die London-Konzerte gelegt.
So konnten Genesis dann doch noch einmal kurz bei ihrem jahrzehntelang treuen Stammpublikum in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden vorbeischauen und sich gebührend verabschieden. Der Kartenvorverkauf war recht entspannt – die Preise pendelten sich wieder auf dem Niveau von Phils 2017er Tour ein und ich habe quasi alle Karten bekommen, die ich wollte: Den Auftakt in Berlin (Oberrang neben der Bühne), beide Shows in Hannover (einmal aus der Totalen im Oberrang; einmal mit Familie auf der Haupttribüne) und schließlich den ersten Abend in Amsterdam, weil es dort Stehplätze für rund 110 Euro geben sollte. Frei zu nehmen war beruflich kein Problem – Sorge machte mir eher die Skifreizeit mit rund 25 Menschen, die in meinem Kalender zwischen Hannover und Amsterdam stand? Ein klassisches first world problem also.
Genesis konnten indes ihre Tour entlang der Ostküste der USA im Dezember ohne weitere Corona-Fälle wie geplant über die Bühne bringen. Zum Auftakt in Chicago wurde Duchess durch Misunderstanding ersetzt; nach zwei Shows wurde (zum Glück) aber wieder zurückgetauscht. Damit waren Genesis wieder bei der Setlist des UK-Tourabschnitts angekommen, die im Großen und Ganzen der The Last Domino?-Best-Of entsprach und mit Ausnahme von Hold On My Heart und Jesus He Knows Me auch dem, was auf dem Setlist-T-Shirt aufgedruckt war. Ansonsten hatte die Pandemie zumindest Europa wieder fest im Griff – die Niederlande gingen abermals in den Lockdown, in Deutschland gab es Kontaktbeschränkungen und ich bekam im Dezember meine Boosterimpfung.
THESE ARE THE DAYS OF OUR LIVES …
Die Wochen bis zum Auftaktkonzert des zusätzlichen kleinen Europa-Legs der The Last Domino?-Tourwaren geprägt vom Hoffen und Bangen auf die Durchführbarkeit der Konzerte; insbesondere der deutschen: Während es für die Konzerte in London und Paris früh grünes Licht gab, waren die möglichen Corona-Auflagen für Amsterdam sowie Berlin, Hannover und Köln bis kurz vor den Konzerten nicht klar. Die Konzerte in Deutschland standen gar auf der Kippe, da die bis dahin geltenden Corona-Verordnungen derartige Großveranstaltungen angesichts der Omikron-Welle gar nicht zuließen. Abermals just in time für die Genesis-Konzerte erhielten die Regierungen der Bundesländer allerdings die Kompetenz zurück, mittels eigenständiger Landesverordnungen entsprechende Regelungen regional unterschiedlich gestalten zu können. Die Chefs von Hannover Concerts und der Kölner Lanxess-Arena hatten über Wochen lautstark in der Presse eine Genehmigung der Genesis-Konzerte als Signal an die krisengebeutelte Veranstaltungsbranche gefordert und waren schlussendlich erfolgreich: Zuerst wurden am 18. Februar die beiden Konzerte in Hannover genehmigt, am 22. Februar dann die drei in Köln und einen Tag später, am 23. Februar, schließlich auch die beiden Auftaktkonzerte in Berlin. Hier konnten wir also bereits das ‚Domino Principle in action‘ erleben, bevor auch nur ein einziger Ton gespielt war. Parallel zu der Genehmigung der Konzerte in Hannover mussten wir allerdings unerwartet ein weiteres Mal um die drei Abschlusskonzerte in London bangen: Sturmtief Eunice wütete in Großbritannien und zerstörte am 18. Februar Teile der Dachkonstruktion der Shopping-Mall, die sich in der Außenhülle der O2-Arena befindet. In der Folge wurden Teile des Gebäudes gesperrt und einzelne Veranstaltungen im Inneren verschoben. Nach ein paar Tagen wurde aber deutlich, dass die Genesis-Konzerte nicht von der Beschädigung betroffen sein würden.
Ich persönlich verschärfte in den Wochen vor den Konzerten mein persönliches Test-Regime und versuchte auch im Privaten, das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten (was recht schwierig war, da auch meine Partnerin im Bildungswesen tätig ist). Recht kurzfristig buchte ich dann auch Züge und Unterkünfte. Für das Auftaktkonzert in Berlin quartierte ich mich im InterCity-Hotel der Deutschen Bahn am Ostbahnhof ein; für die beiden Hannover-Shows bei meiner Schwester in Braunschweig bzw. in einem Hotel am Hannoveraner Hauptbahnhof. Nach Amsterdam ging es ebenfalls entspannt von Frankfurt aus mit der Bahn; für die Übernachtung hatte Alex ein Low-Budget-Hotel wenige Fußminuten vom ZiggoDome ausgewählt. Für die London-Reise hatten Alex und ich noch die aufgeschobenen Flüge mit British Airways sowie einen auf purer Kulanz basierenden Deal mit einer Unterkunft in Laufnähe zur O2-Arena, weil wir auch im Oktober recht kurzfristig und daher ohne Storno-Option gebucht hatten.
Berlin, Mercedes-Benz-Arena, 7. März 2022 (Montag)
Am Morgen des ersten Berlin-Konzertes machte ich dann zuhause in Mittelhessen noch einen „Bürgertest“, weil ich – trotz Boosterimpfung – kein Risiko am Einlass der Mercedes-Benz-Arena eingehen wollte. Zuvor hatte ich bereits einen Schnelltest gemacht (keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn dieser Test positiv gewesen wäre? zu lange hatte ich auf das Konzert gewartet, um verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen?). Das Warten auf das Testergebnis kam mir wie eine Unendlichkeit vor, aber der Befund war negativ und ich machte mich auf zum Bahnhof. In Berlin angekommen war ich völlig erstaunt darüber, wie sich die Gegend um den Ostbahnhof verändert hatte, seit ich im März 2010 für Peter Gabriels Scratch My Back–Konzert erstmals in der – damals noch von O2 gesponserten – Arena gewesen war. Damals eine weite Brache, ist die Mercedes-Benz-Arena heute eingebettet in ein hippes, gentrifiziertes Stadtviertel voller Systemgastronomie. Der Platz runter zur Spree und zur East Side Gallery ist heute vollständig erschlossen und belebt. Ich traf mich mit Sophie, einer Studienfreundin aus Bremen, auf Burger und Bier im Freien in Sichtweite der Arena, bis ich mich gegen halb 8 zum Einlass begab und quasi ohne Wartezeit bei strikter 2G+-Kontrolle in die Halle kam.
Ich kaufte mir das Tourprogramm und ein Bier im Genesis-Becher und machte mich auf zu meinem ‚olympischen Platz‘ (Motto: ‚Dabeisein ist alles‘) im Oberrang links neben der Bühne (102). Beim Block angelangt, fragte ein Arena-Steward nach meiner Karte, kassierte sie ein und teilte mir mit, dass ich umgesetzt worden war. Da ich von dieser Praktik bereits im Kontext der US-Konzerte auf Facebook gelesen hatte, stellte ich keine Fragen, sondern nahm meine ‚Relocation‘-Karte entgegen und machte mich auf den Weg in den Unterrang. Tatsächlich hatte ich nun eine Unterrang-Karte bei gleicher Perspektive auf die Bühne, die mich im regulären Vorverkauf rund 90 Euro mehr gekostet hätte. Nette Geste! Auf dem Platz trank ich mein Bier, las das – nett geschriebene – Tourprogramm und traf mich dann auf dem Balkon der Arena noch kurz mit meinem Freund Leonard und seiner Partnerin. Leo und ich hatten uns als Teenager im Kontext der 2007er Genesis-Tour im Forum des Deutschen Genesis-Fanclubs kennen gelernt und seitdem unzählige Konzerte verschiedener Künstler zusammen besucht. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir zuletzt zusammen bei besagtem Phil Collins-Konzert im Berliner Olympiastadion gewesen. Um kurz nach 20 Uhr war ich zurück auf meinem Platz und versuchte, mich mental und emotional darauf einzustellen, in wenigen Minuten endlich – nach fast 15 Jahren Wartezeit inklusive fast zwei Jahren Pandemie, in denen die Genesis-Konzerte mein steter Fixstern waren – wieder meine Lieblingsband live zu sehen; womöglich zum letzten Mal. (Trotz Karten und Reiseplänen für sechs weitere Konzerte der Tour konnte ich ja nicht wissen, ob die Pandemie mir oder der Band nicht noch ein weiteres Mal einen Strich durch die Rechnung machen würde?) Wie schon auf Phils Solotour bestand die Pre-Show-Musik vom Band aus einer Playlist mit Motown-Songs, die Phil größtenteils für seinen bislang letzten Studiooutput (Going Back) gecovert hatte.
Wie schon 2007 ertönte dann, bei deutlich höherer Lautstärke, Thomas Newmans Instrumental Dead Already als Intro-Musik: Die Arena wurde abgedunkelt und einzig die Bühne in ein blaues Licht getaucht. Durch meinen Platz konnte ich sehen, wie die Musiker samt Crewmitgliedern mittig hinter der Bühne aus den Katakomben kamen: Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich sah, wie man im Kegel einer Taschenlampe Phil Collins im Rollstuhl um die Bühne herum schob. Wenige Augenblicke später – ich emotional völlig neben der Rolle – erklommen Genesis von der mir gegenüberliegenden Seite die Bühne. Ganz hinten und vorsichtig am Stock schlenderte Phil Collins in orthopädischen Schuhen, einer weiten Leinenhose und Trainingsjacke mit Rennstreifen unter tosendem Applaus zu seinem Platz vorne in der Bühnenmitte: Dem bewährten Frisörstuhl samt Beistelltischchen mit Wasserflasche, Handtuch und laminierten Lyric Sheets. Kaum waren alle auf ihren Plätzen, zählte Nic Collins zügig ein und Genesis legten unter Standing Ovations wie erwartet mit Behind The Lines bzw. Duke’s Intro los. Der Sound in Berlin war auf meinem Platz vom ersten Ton an glasklar und sehr druckvoll. Bereits während der ersten Minuten wurde mir klar, dass ich Chester Thompson am zweiten Schlagzeug musikalisch nicht vermissen würde; so gut und energisch war das, was ich von Phil Collins‘ nunmehr 20-jährigem Sohn an seinem Gretsch-Schlagzeug hörte. Die charakteristischen Fills auf den Concert Toms donnerten durch die Arena, und auch der Rest der Band spielte souverän auf. Exakt mit Einsatz des Schlagzeugs in Turn It On Again wurden erstmals die Musiker überlebensgroß auf den Bildschirmen gezeigt, was ein gelungener Überraschungseffekt war und zu großem Jubel führte. Wie gewohnt zeigten sich Tony, Mike und Phil konzentriert bei der Arbeit. Bereits nach den ersten paar Textzeilen wichen meine „Tränen über den Greis Phil Collins“, wie es über das Glasgow-Konzert im deutschen Feuilleton zu lesen war, Begeisterung und Freude: Endlich waren wir hier – die Band, die Fans – und konnten das Konzert (er)leben. Phil klang viel stärker als auf YouTube und insgesamt würde ich sagen, dass mir Turn It On Again im Gesamtpaket 2022 besser gefallen hat als 2007. Gleiches gilt für Mama, das ohnehin einer meiner absoluten Lieblingsstücke aller Genesis-Epochen ist und 2007 für mich das absolute Highlight im Set war. Dass sie Mama tatsächlich spielen würden, war eine positive Überraschung – und bereits ein erstes Ausrufezeichen so früh im Konzert, dass es um die stimmliche Verfassung des Frontmanns wesentlich besser bestellt ist, als es zu befürchten war. Um Phil Collins‘ noch verbleibendem Stimmumfang Rechnung zu tragen, war das Stück allerdings mittlerweile so tief transponiert, wie es nur geht. Aber: Es funktionierte ausgezeichnet. Die Stimmung war düster – nein, creepy as fuck – und die Bühnenshow gigantisch. Nie war das Stück besser inszeniert. Die gesamte Bühne im Halbdunkel in rotes Licht getaucht, zeigten die Bildschirme abstrakte, pulsierende Bewegungen wie unter einem Mikroskop und dazu Phil Collins‘ gelb angeleuchtetes Gesicht mit all seiner Mimik und Theatralik. Passend dazu klangen auch Tony Banks‘ Keyboards im Vergleich zu früheren Tourneen sehr organisch – und Mike Rutherford schien, als hätte er die Zeit seines Lebens. Kurzum: Bereits nach wenigen Minuten waren meine Zweifel bezüglich der Qualität der Darbietung bei Seite gewischt und ich konnte die verbleibenden knapp zweieinhalb Stunden mit ‚meiner‘ Band voll und ganz genießen. Durch die Umsetzung auf den Unterrang war ich verhältnismäßig nah an der Bühne, konnte aber die Licht- und Bühnenshow nicht so einsehen, wie sie konzipiert worden war. Dafür aber konnte ich in das weite Rund der Arena schauen und die Reaktionen des Publikums sehr gut miterleben. Ich war positiv überrascht, wie sehr das Publikum trotz Maskenpflicht ‚dabei‘ war und wie gut die Stimmung war – scheinbar war wirklich für die meisten Zuschauer:innen ein Knoten geplatzt und alle waren froh, dieses Konzert, diese Band endlich (noch ein letztes Mal) live zu sehen. Das Smartphone-Taschenlampen-Meer während des Akustikparts bei Follow You Follow Me war herzzerreißend schön und so überwältigend, wie ich es auf den folgenden Konzerten nicht mehr erlebt habe. Auch war ich in Berlin beeindruckt von der Qualität der Performance – die Band spielte tadellos auf und auch Phil machte für seine Verhältnisse wenige Fehler: Einzig in den Refrains von Land Of Confusion, Home By The Sea und Duchess genehmigte er sich Textdreher, die vermutlich kaum jemandem aufgefallen wären, wenn nicht die beiden Backgroundsänger den richtigen Text gesungen hätten. Auch bei No Son of Mine hatte er den einen oder anderen Aussetzer. Dieses Thema hat sich aber durch die gesamte Tour gezogen und stellt daher kein Alleinstellungsmerkmal des 2022er Auftaktkonzertes da. Insgesamt merkte man am ersten Abend in Berlin eigentlich nur an den Ansagen, dass die Band nach der monatelangen Pause noch nicht wieder ganz im Tourmodus war: Musikalisch war das Konzert stark. Phil wirkte sehr konzentriert auf die Musik und im Zuge dessen wirkten seine Interaktion mit dem Publikum phasenweise etwas unrund: Bei der ersten Ansage des Abends begrüßte Phil das Publikum nach Mama mit einigen, augenscheinlich improvisierten Bruchstücken Deutsch (‚meine Damen und Herren … dass ihr gekommen seid‘) und versuchte dann, für das folgende Land Of Confusion den Bogen von Thatcher und Reagan hin zur Corona-Pandemie zu spannen, sagte aber (noch) nichts zum Ukrainekrieg. Dies überraschte mich etwas, sollte sich aber bald ändern.
Auch die Ansage vor Home By The Sea war am ersten Abend in Berlin etwas holprig – aber natürlich kannte der absolute Großteil der Zuschauer:innen die von Phil nunmehr als ‚ersten Genesis-Party Trick des Abends‘ angekündigte Séance in- und auswendig, sodass diese „Audience Participation Time“ im Grunde keiner allzu ausführlicheren Erläuterung bedurfte. Überraschenderweise war (neben Mama) bereits Second Home By The Sea für mich ein frühes Highlight im Set: Eigentlich mag ich das Stück nicht übertrieben gerne (tatsächlich hätte ich lieber Driving The Last Spike oder ein vollständiges Fading Lights gehört); aber hier passte einfach alles: Super Sound, super Licht, super Bühne, super gespielt. Ein emotionaler Höhepunkt für mich war auch das neue Medley, bestehend aus der ersten Hälfte von Fading Lights, dem Instrumentalpart von Cinema Show, einem kurzen Zitat aus In That Quiet Earth und schließlich Afterglow. Während erstaunlicherweise Fading Lights, als eines der jüngsten Stücke im Set, am meisten nach unten transponiert wurde, exponierte es Phil Collins‘ stimmliche Limitationen doch am meisten – und war trotzdem ergreifend. Cinema Show war eine Wucht und Afterglow einfach wunderschön: Im Vergleich zu 2007 haben Genesis‘ Lichtdesigner es diesmal verstanden, die Bildschirme hier zurückzunehmen und stattdessen vorrangig mit Kunstnebel und Licht zu arbeiten. Die Farb- und Stimmungswechsel der Musik wurden optisch perfekt abgebildet und Tony Banks‘ anrührender Text wurde wohl nie authentischer gesungen als von einem Phil Collins in der Verfassung, in der er nun mal (leider) heutzutage ist. Im instrumentalen Outro von Afterglow wurde die Band von dem gleißend-weißen Nebel dann fast verschluckt – so müssen die Konzerte der späten 1970er Jahre gewesen sein?
Alles in allem war ich schon von dem ersten Abend mehr als bedient. Meine Erwartungen wurden mehr als übertroffen – Organisation und Sound in der Mercedes-Benz-Arena haben mich voll überzeugt; dazu das Platz-Upgrade, eine tolle Darbietung der Band und auch ein tolles Publikum (nicht nur nach zwei Jahren Pandemie). Was die Konzertreiselogistik anbelangt, so würde ich für Konzerte in der Berliner Arena wohl auch in Zukunft wieder mit dem Zug bist zum Ostbahnhof durchfahren, dort übernachten und die wenigen Minuten zur Arena zu Fuß gehen.
Hannover, ZAG-Arena, 10. März 2022 (Donnerstag)
Anders verhält es sich mit dem Messegelände in Hannover. Hier war ich bereits vor ein paar Jahren mal mit meiner Schwester auf einem EMINEM-Konzert. Das Open Air-Konzert damals hatte allerdings auf dem Platz vor der (beschaulichen) ZAG-Arena stattgefunden, in der nun Genesis spielen sollten. Bereits damals empfand ich das Ensemble aus Stahl, Glas, Beton und kilometerlangen versiegelten Flächen im Nirgendwo als gänzlich ungeeignet für Konzerte. Andererseits ist Hannover bekanntlich eine Phil Collins- und Genesis-Stadt und Phils 2019er Konzerte im Stadion waren wunderbar. Nun also die ZAG-Arena, die für mich bis dato Neuland war. Bereits die Anreise mit dem Auto aus Braunschweig war erwartungsgemäß eine Zumutung, aber auch die Organisation des Einlasses und der 2G+-Kontrolle in Hannover lies aus meiner Sicht arg zu wünschen übrig. Ich habe etwa eine halbe Stunde angestanden, um in die Arena rein zu kommen, weil die Abläufe an vielen Stellen einfach nicht effizient waren; kein Vergleich zu Berlin. Schräg fand ich auch die Hannoveraner Regelung, nachdem die Maskenpflicht nur bis zum Platz galt. In der Konsequenz durfte man sein Getränk nach dem Kauf in den Aufenthaltsbereichen außerhalb des eigentlichen Veranstaltungsraumes nicht trinken; während des Konzertes durften dort dann aber rund 9.000 Menschen ohne Maske sitzen…
Um die Show aus der Totalen sehen zu können, hatte ich wieder eine (Wunsch-)Karte im Oberrang (118) gekauft: Mittig, Gangplatz, 2. Reihe von unten (die erste Reihe vermeide ich, weil man da gerne mal ein Geländer im Sichtfeld hat). In der Halle musste ich dann aber leider feststellen, dass ich einen dicken Kabelstrang im Sichtfeld hatte. Die The Last Domino?-Produktion hatte zwar eine klassische Kopfbühne, allerdings auch quer durch die Halle an der Bühnendecke montierte zusätzliche Licht- und Tontechnik, die vom Licht- und Tonpult am Ende des Innenraums versorgt werden musste. Die entsprechenden Kabel hingen folglich gebündelt jeweils zur Linken und zur Rechten der Pulte von der Decke und somit – je nach Sitzplatz – ordentlich im Blickfeld der Zuschauer:innen. Trotzdem konnte ich die Bühnenshow wie gewünscht frontal und in voller Pracht genießen.
Besonders der Opener, Mama, Home By The Sea/ Second Home By The Sea, Afterglow, Duchess und Domino sind für die Last Domino?-Tour wirklich aufwändig inszeniert worden. Besonders in Erinnerung blieb mir aus Hannover allerdings Throwing It All Away. Auf dem Papier hatte ich mich geärgert, dass Genesis das Stück auf dieser Tour spielen würden – nicht nur, weil sie es 1986/87, 1992 und 2007 fest im Set hatten, sondern auch, weil ja auch Phil es 2018 und 2019 gespielt hatte. Im Konzertkontext aber hat mir diese eher seichte Nummer dann doch sehr gut gefallen – sicherlich nicht zuletzt wegen der schönen Visualisierungen auf der Bühnenrückwand, die hier in vertikalen Streifen Kassettenrücken und Archivaufnahmen der Band auf- und abfahren ließen. Dazu kommt aber auch, dass Phil die Nummer wirklich noch gut singen konnte und der Text, wie so viele im Set, irgendwie auch neu gedeutet werden kann. Insgesamt war auch der erste Abend in Hannover stark; im Gesamtpaket vielleicht sogar überzeugender als Berlin. Phils Ansagen waren flüssiger, sein Humor war schärfer und tatsächlich schlug er in der Willkommensansage den Bogen von den 1980ern nicht nur zur Corona-Pandemie, sondern auch zu Putins Invasion der Ukraine („fucking idiot“). Persönlich war es eher das Drumherum als das Konzert selber, weshalb mir Berlin etwas besser gefallen hat.
Hannover, ZAG-Arena, 11. März 2022 (Freitag)
Das zweite Konzert in Hannover war ähnlich. Um den Stress am Einlass zu umgehen, sind wir früher angereist und kamen dadurch tatsächlich deutlich schneller in die Arena. Begleitet wurde ich von meinem Vater, der schon seit seiner Jugend in den 1970ern Genesis hört und letztlich auch für meinen Musikgeschmack (mit)verantwortlich ist, sowie von meiner etwas jüngeren Schwester, die ganz andere Musik hört, aber um die Bedeutung weiß, die diese Band für meinen Vater und für mich (und auch für unsere Vater-Sohn-Beziehung) hat. Musikalisch war das Konzert stark wie am Vortag. Das Domino Principle war länger und lustiger als am Vorabend und Phil hat bei der Begrüßung nicht mehr wie noch am Vorabend der Landesregierung für die Genehmigung des Konzertes gedankt. Leider hatte Phil aber wieder Textprobleme mit No Son Of Mine – vielleicht lag das an dem überwältigenden Applaus, den er immer kurz vor Beginn des Stückes bei der Bandvorstellung bekommen hat? Meine persönlichen Highlights am zweiten Abend waren jedenfalls der Akustikpart, Firth Of Fifth, Domino und die Zugaben.
Mein Vater war von dem Konzert und von Phils Leistung positiv überrascht; meine Schwester – die Musikwissenschaft studiert hat, mehrere Instrumente spielt, in einem Chor singt und als Redakteurin für ein Kulturmagazin arbeitet – fand Phils Gesang ‚grenzwertig‘, hat aber trotzdem Gefallen an dem Konzert gefunden. Ihr haben die instrumentalen Passagen am besten gefallen; außerdem war sie beeindruckt von der Lightshow und von Nic Collins‘ Schlagzeugspiel. Wir waren sehr zufrieden mit unseren Plätzen im Oberrang auf der rechten Haupttribüne, etwa auf halber Höhe der Halle: Von dort hatte man eine gute Sicht auf die Bühne und die Bühnenrückwand – also ein guter Kompromiss zwischen meinem Plätzen in Berlin und am Vorabend. Mein Vater freute sich über die neue Version von The Lamb Lies Down On Broadway und das Dancing With The Moonlit Knight-Snippet vor Carpet Crawlers. Durch unsere Plätze konnte ich gut sehen, dass Phil nach Invisible Touch nicht die Bühne verlässt, sondern sich hinten rechts auf der Bühne in einer Art schnell aufgestellter schwarzer Wahlkabine ‚versteckt‘, bis der Rest der Band für die erste Zugabe I Can’t Dance wieder die Treppe hochkommt. (Keine Ahnung, ob er auf der (Still) Not Dead Yet-Tour für die Zugaben noch von der Bühne heruntergestiegen ist, oder nicht?) Mein Platz führte im Zusammenspiel mit den Regeln der ZAG-Arena jedenfalls auch dazu, dass mein Treffen mit Tommy, einem weiteren Forum-User der jüngeren Generation, nur recht kurz war: Er hatte seine Karte im Innenraum, ich ja im Oberrang – und der Aufenthalt im verbindenden Treppenhaus war nicht zulässig…
Unterm Strich bin ich in jedem Fall sehr dankbar und froh, dass ich Genesis nochmal mit meinem Vater (und meiner Schwester) erleben konnte – und bin der Auffassung, dass die beiden Konzerte in Hannover ein mehr als würdiger Abschied von einer Fan-Hochburg war. Atmosphärisch und organisatorisch hat mich die ZAG-Arena bzw. die Hannover Messe aber nicht überzeugt. Die Abreise mit der U-Bahn in die Innenstadt hat allerdings selbst mit Ski-Equipment einwandfrei funktioniert. Nach einer kurzen Nacht in einem Hotel am Hauptbahnhof und einem weiteren Schnelltest ging es für mich am nächsten Morgen mit der Bahn über Bremen in die Alpen auf Skifreizeit…
Amsterdam, ZiggoDome, 21. März 2022 (Montag)
Nach einer feucht-fröhlichen Woche in Österreich fuhr ich montagvormittags gemeinsam mit Alex von Frankfurt mit dem ICE nach Amsterdam, um Genesis auf dem einzigen Tour-Stopp mit Stehplatzkonzerten zu erleben. Am Amsterdamer Hauptbahnhof erwartete uns Sophie, die mit dem Zug aus Norddeutschland angereist kam und die mit mir erst am Samstag aus Österreich vom Skifahren heimgekehrt war. Wie auch Österreich hatten die Niederlande zu diesem Zeitpunkt bereits sehr lasche Corona-Regeln implementiert. Auch dort waren Genesis der erste größere Indoor-Act seit Pandemiebeginn, jedoch galt für die beiden Konzerte lediglich eine 1G-Regel („getestet“) – und diese auch nur für den unbestuhlten Innenraum. Da die Informationslage darüber, welche Tests genau am Einlass akzeptiert würden, herzlich widersprüchlich war und wir uns nicht sicher sein konnten, dass unsere deutschen „Bürgertests“ vom Morgen anerkannt würden, hatten wir uns online Schnelltesttermine am Amsterdamer Hauptbahnhof gebucht. Vor dem Abstrich mussten wir Personalausweisnummer, Hoteladresse und Zweck des Tests angeben. Anschließend streunerten wir ziemlich nervös etwa eine halbe Stunde lang durch Amsterdams hippes Bahnhofsviertel, bis wir schließlich alle drei unsere erlösenden niederländischen Negativnachweise per Mail zugesandt bekommen hatten. Anschließend suchten wir ein Lokal, in dem wir an der frischen Luft Burger und Bier zu uns nehmen konnten (und holten uns dabei einen dezenten Sonnenbrand). Gegen Nachmittag sind wir dann mit der S-Bahn raus zum ZiggoDome gefahren – einer recht unspektakulären, modernen Mehrzweckhalle unweit mehrerer großer Fußballstadien.
Unser günstiges Hotel lag keine fünf Gehminuten vom ZiggoDome entfernt und so stellten wir uns etwa eine Stunde vor Einlass an. Ausgestattet mit unseren regulären Papier-Stehplatzkarten von Ticketmaster.nl (110? pro Karte zzgl. Versand) und dem offiziellen niederländischen Negativnachweis per Mail, machte sich bei uns leichte Panik breit, weil Sophies Smartphone nicht ausreichend Speicherplatz hatte, um die – nach Aussage des Arenapersonals vor Ort erforderliche – amtliche niederländische CoronaCheck-App zu laden, um darin das Testergebnis abzubilden. Nach vielen, schmerzlich gelöschten Fotos, Videos und Sprachnachrichten war aber dann auch dieses Problem behoben und wir waren sprichwörtlich ready to go für den Einlass in den ZiggoDome. Die Kontrollen waren dann doch recht entspannt und auch im Inneren des Gebäudes gab es kaum Hektik. Viele Besucher:innen gingen erst einmal zum Merchandise-Stand, an die Garderobe oder zu einer der Bars, sodass wir entspannt vor die Bühne laufen konnten und uns einen Platz in der sechsten Reihe vor Phils Stuhl aussuchen konnten. Die Arena kam mir für ihre ausgewiesene Kapazität ziemlich kompakt und fast schon quadratisch vor (vielleicht vergleichbar mit der Bremer ÖVB-Arena).
In angenehmer Atmosphäre standen wir uns die Füße in den Bauch, während sich die Arena langsam füllte. Das Konzert war mein erstes Stehplatzkonzert in zweieinhalb Jahren und eigentlich müsste man meinen, ich hätte aufgrund meines Alters einen gewissen Wettbewerbsvorteil gegenüber Anderen, aber diese vier bis fünf Stunden Stehen waren im Nachhinein doch ziemlich anstrengend. Ich schätze, das muss man erst wieder lernen. Mit unseren FFP2-Masken waren wir derweil in der Unterzahl und tatsächlich fühlte sich das dicht gedrängte Stehen bis zum Konzertbeginn doch ziemlich unangenehm an. Als die Band dann auf die Bühne kam, war dieses Unbehagen aber verflogen: Zu groß die Euphorie, diese Band – meine Band! – endlich so nah zu sehen! Auf der Turn It On Again-Tour saß ich damals im Oberrang und bei Phils Solotour stand ich zweimal irgendwo hinten im Stadion (Berlin und Hannover 2019) und einmal in der ersten Reihe (Dublin 2017); aber die Distanzen im Fußballstadion sind natürlich nicht mit jenen in einer Halle zu vergleichen. Das Konzert in Amsterdam war jedenfalls ein einziges Fest – um uns rum ein ziemlich internationales, zum Teil auch recht junges Publikum und die Stimmung war, wie zu erwarten, von Beginn an deutlich gelöster als bei einem bestuhlten Konzert.
Ringsum wurde fleißig mitgesungen, was natürlich auch der Band nicht entgangen ist. Der Sound war daher mehr „Mittendrin statt nur Dabei“ und weniger steril als auf den anderen Konzerten der Tour, die ich zuvor gesehen hatte. Besondere Erinnerungen habe ich abermals an Dukes Intro/ Turn It On Again, Home By The Sea, Fading Lights und den Akustikpart. Speziell The Lamb Lies Down On Broadway und That’s All waren super intensiv, weil wir eben so dicht dran waren – und Phil das Publikum natürlich wieder zu Füßen lag. Ich denke, die erste Reihe dürfte einiges an direkter Kommunikation mit Phil während Domino oder I Know What I Like gehabt haben. Nach dem Konzert quatschten wir noch kurz mit Ulli aus dem Forum, der sich dank Early Entry-Karte für sein letztes Genesis-Konzert den Traumplatz in der ersten Reihe direkt vor Phil sichern konnte, und wateten dann durch ein Meer an 0.5L-Einweg-Plastikbechern gen Ausgang. Da der ZiggoDome in einem charakterlosen Sport- und Dienstleistungsviertel liegt, gab es wenig Möglichkeiten der Einkehr zur Konzertnachbereitung. Also hatten wir bereits vorab entschieden, in die Bar des Hotels zu gehen, das direkt neben dem ZiggoDome liegt. Hier konnten wir immerhin noch bis Mitternacht unsagbar teures Fassbier trinken – und die Genesis-Crew tat es uns gleich.
Wenige Meter neben uns hat so etwa auch Phils ehemaliger und Nics heutiger Drum-Tech Brad Marsh seinen Feierabend genossen – wir haben uns aber zurückgehalten und die Jungs in Ruhe gelassen, bis uns ein junger Typ aus der Crew nach ein paar Bier irgendwann angequatscht hat, wie uns das Konzert denn gefallen habe. So haben wir ein bisschen über die Produktion, den Arbeitsalltag und den Einfluss der Pandemie auf das Veranstaltungsbusiness geplaudert. Nach und nach löste sich die Schar dann aber auf und so gingen auch wir irgendwann um kurz nach Mitternacht zurück in unser Hotel. Die Versuchung war zwar da gewesen, auch noch das zweite Konzert in Amsterdam mit zu nehmen, aber wir wollten unser Glück ja auch nicht überstrapazieren. Am nächsten Morgen ging es nach einem kurzen Frühstück im Hipster-Barrista-Café um die Ecke zurück zum Amsterdamer Hauptbahnhof und von dort dann zurück mit dem ICE nach Frankfurt.
London, O2, 24. März 2022 (Donnerstag)
Nach eineinhalb Tagen zurück im Alltag trafen Alex und ich uns am Donnerstagmorgen am Frankfurter Flughafen, um die letzte Etappe unserer persönlichen The Last Domino?-Touranzutreten.
Inzwischen bewarb die Band ein weiteres Produkt in ihrem Online-Shop, das keine Zweifel mehr an der Endgültigkeit dieser Londoner Konzerte ließ: Ein marineblaues Shirt, wahlweise mit kurzen oder mit langen Ärmeln, dessen Brust das Bandlogo samt Tourschriftzug ziert, wobei das Fragezeichen nach The Last Domino durch ein Ausrufezeichen ersetzt wurde. Auf der Rückseite wurden die Musiker samt der beiden Backgroundsänger aufgelistet und darunter die Tourdaten; abgeschlossen von dem Hinweis „That“s All“. Wir flogen mit British Airways im Handgepäck-Tarif zum Londoner City-Airport, der parallel zur Themse im Londoner Osten liegt und der sich nicht nur wegen seiner Innenstadtnähe empfiehlt, sondern auch wegen seines spektakulären Landeanfluges. Vom europäischen Festland kommend, fliegt man zunächst von Osten her am Flughafen vorbei, macht dann eine 180°-Wende und sinkt dann langsam aber sicher parallel zum Fluss in die Innenstadt herab. Dabei überfliegt man nicht nur die ikonische Tower Bridge (und sieht andere popkulturell interessante Bauwerke wie die Royal Albert Hall im Norden oder die Battersea Power Station am südlichen Themsenufer), sondern landet quasi unweit der O2 Arena, sodass wir uns mit eigenen Augen einen Eindruck vom Ausmaß der Zerstörung des Daches verschaffen konnten. Die Einreise ins Vereinigte Königreich ging trotz Brexit dank elektronischer Reisepässe schnell und einfach vonstatten, und da wir kein Gepäck aufgegeben hatten, konnten wir uns auf den Weg zu unserer Unterkunft machen. Alex hatte bereits im Herbst über ein Reiseportal im Internet einen Anbieter ausfindig gemacht, der einzelne Zimmer in einem Wohnhaus im Stadtteil Woolwich vermiete, sodass wir uns nicht nur fußläufig zur in Greenwich gelegenen O2 Arena einquartiert hatten, sondern auch fußläufig vom City-Airport. Wir verließen also das Flughafengelände und marschierten gen Süden zur Themse, die wir dann mit einer kostenlosen öffentlichen Fähre überquerten und schließlich zu unserer Unterkunft gelangten. Nach dem Einchecken waren wir kurz einkaufen. Danach suchten wir die Gegend ab und fanden einen netten Pub am Ufer der Themse, der etwa auf halber Strecke zur Arena lag und uns so gut gefiel, dass wir die nächsten Tage täglich dort einkehren sollten. Nach Fish’n’Chips in der Sonne und dem ein oder anderen Pint machten wir uns irgendwann auf zur Arena.
Dort mussten wir unsere Karten an der Abendkasse abholen. Obwohl wir mit denselben Ticketmaster-Accounts Karten für alle drei Abende gekauft und jeweils die Abholung an der Abendkasse gewählt hatten, bekamen wir schlussendlich nur für den ersten Abend auch echte Papiertickets ausgehändigt. Die Karten für das Freitags- und das Samstagskonzert wurden in den Tagen vor den Konzerten ohne unser Zutun in eTickets umgewandelt, die man ausschließlich in der O2 App anzeigen konnte und deren QR-Code sich alle 60 Sekunden neu genierte. In jederlei Hinsicht also eine ziemlich fan-unfreundliche Änderung… Für unsere Papierkarten mussten wir uns jedenfalls am Donnerstagabend geschlagene 25 Minuten anstellen, da es genau einen Ticketmaster-Schalter an der Arena gab und die dort abzuholenden Karten nicht etwa fertig produziert hinterlegt waren, sondern Kunde pro Kundin gegen Ausdruck der Bestellbestätigung und Identitätskontrolle vor Ort ausgedruckt wurden. Nachdem Alex und ich unsere (vier) Karten endlich entgegen genommen hatten, waren wir auch schon verabredet mit Andrew, einem ehemaligen Geschäftspartner meines Vaters, der uns zwei frei gewordene Karten abkaufen sollte. Pandemiebedingt wollten mein Vater und ein Freund nicht mit, sodass wir froh waren, die beiden arg teuren Innenraumkarten ohne Verlust losgeworden zu sein – und Andrew freute sich, Genesis doch noch mal zu sehen: Zum ersten Mal hatte er sie 1980 auf der Duke-Tour im Londoner Lyceum gesehen.
Während Andrew und sein Kumpel noch eine Kleinigkeit essen wollten, wurden Alex und ich langsam nervös und machten uns lieber schon mal auf den Weg zum Einlass. Dafür musste man zunächst den Millenium Dome betreten, dessen Kern zwar die O2 Arena darstellt; außen herum sich allerdings ein Shoppingzentrum mit allerlei Restaurants, Bars und Vergnügungen wie Kinos und Spielhöllen befindet. Kurioserweise saßen wir an allen drei Abenden in völlig unterschiedlichen Bereichen der Arena, mussten selbige qua Ticket jedoch immer über den selben Eingang betreten – und ironischerweise war dies eben jener Eingang, der direkt unterhalb der sturmverwüsteten Dachkonstruktion lag. Deshalb wurden wir jeweils zunächst aus dem Dome herausgeleitet und mussten einige Hundert Meter im Flutlicht um das gigantische Zelt herumlaufen, bevor wir an anderer Stelle wieder hereingelassen wurden. Quer durch die Baustelle hindurch mussten wir uns für die Sicherheitskontrolle mit Metalldetektoren anstellen; anschließend wurden die Tickets gescannt und wir konnten mit der Rolltreppe endlich nach oben in den Außenring der Arena fahren. Für unsere Plätze im Innenraum mussten wir sodann wieder die Treppen herunterlaufen – vorbei an den Unterrangplätzen, auf denen wir ziemlich genau zwei Jahre und eine Pandemie zuvor bei Music for the Marsden gesessen hatten. Unsere vier Plätze lagen rechts neben dem Mischpult und bestätigten mal wieder meine Einschätzung, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis solcher Karten einfach nicht stimmt. Wir hatten umgerechnet rund 200 Euro pro Karte im Vorverkauf bezahlt und saßen schlussendlich dort, wo man bei einem unbestuhlten Konzert stehen würde, wenn man zehn Minuten vor Konzertbeginn in die Arena kommt. Just in Time für Behind The Lines schafften es auch noch Andrew und sein Kumpel auf ihre Plätze. Glücklicherweise war die Stimmung gleich von Beginn an so gut, dass alle um uns rum (und vor allem vor und hinter uns) das gesamte Konzert über standen, sodass das Konzert sich wie ein Stehplatzkonzert anfühlte.
Sicht und Sound waren jedenfalls gut und auch das Konzert an sich war stark. Phil begrüßte das Publikum mit den Worten, dass dies nun der letzte Stop der Tour sei. Er war bestens aufgelegt und nahm selbst Töne mit, die er sich sonst im Laufe der Tour oft verkniffen hatte – so hielt er sich wieder stärker an die originale Gesangslinie in den Strophen von Land Of Confusion, nahm das höchste „Mama!“ vor dem Einsatz der Drums in Mama mit und sang auch die höchsten „your show!“s in I Know What I Like mit. Natürlich verhakte er sich hier und da wieder in den Texten, aber speziell Behind The Lines, Mama, Cinema Show, Duchess, Domino und No Son Of Mine fand ich sehr druckvoll. Ansonsten blieb alles beim Alten – gesanglich war London I bis dato in meinen Ohren das stärkste Konzert derer, die ich gesehen hatte. Dank der Londoner Curfew hielten wir die obligatorische Konzertbesprechung erst in unserer Unterkunft ab. Dort hatten wir jeweils kleine Kühlschränke in unseren Zimmern, die wir tagsüber mit Kaltgetränken bestückt hatten. Für die Rückfahrt von der O2 Arena zur Unterkunft wählten wir eine Busverbindung direkt ab der Arena-Haltestelle, von wo aus wir quasi ohne Wartezeit mit einem amtlichen roten Doppeldeckerbus circa 15 Minuten zurück nach Woolwich fahren konnten. Bezahlt werden konnte kontaktlos per OysterCard (der Pay-as-you-go-Karte von Transport for London) oder per Kreditkarte. Es bestätigt sich immer wieder: London zeigt, wie öffentlicher Personennahverkehr geht!
London, O2, 25. März 2022 (Freitag)
Am Freitag schliefen wir aus und suchten dann eine Örtlichkeit, um ein spätes, aber standesgemäßes Full English Breakfast zu uns zu nehmen. Wir fanden fußläufig eine kleine Kantine auf dem Gelände einer alten Siemens-Fabrik, wo wir offensichtlich die einzigen Touristen waren. Den Rest des Tages verbrachten wir wieder auf der Terrasse des abgeschiedenen Pubs an der Themse, ehe wir am späten Nachmittag nach Greenwich liefen und dann die Gegend rund um die O2 Arena erkundeten. So fanden wir auch einen weiteren Pub in Sichtweite der Arena, wo wir uns auf ein Bier mit Siggi aus dem Forum und seiner Partnerin trafen. Der Pub sollte uns am nächsten Tag auch für ein weiteres, internationales Fantreffen dienen.
Etwas früher als am Vortag liefen wir vier dann zur O2 Arena – auch, weil wir den eTickets nicht sonderlich über den Weg trauten. Tatsächlich konnten unsere Tickets für einen Moment vor der Halle nicht geladen werden, was Siggi und mich in leichte Panik versetzte. (Screenshots waren wegen der sich ständig erneuernden QR-Codes auch keine Option) Kurze Zeit später funktionierte dann alles und wir konnten uns wie am Vortag im Inneren des Millenium Domes am uns zugewiesenen Eingang einfinden. Diesmal hatten wir Plätze im Oberrang, gegenüber der Bühne in der zweiten Reihe – wir saßen also ähnlich wie ich in Hannover am ersten Abend, aber die Kabelstränge waren deutlich weiter weg und störten in der doch ungleich größeren Halle auch weitaus weniger als noch in Hannover. Wir hatten die Plätze direkt am Gang gebucht und jene vor uns blieben sogar frei. Dadurch hatten wir eine exzellente Sicht auf die Bühne aus der Totalen und der Sound war gigantisch. Wieder war Afterglow mein persönliches Highlight, aber auch Duchess war an diesem Abend so stark wie ich es sonst nicht erlebt hatte – Phil hat den Text auch fast fehlerfrei über die Bühne gebracht. Von der Inszenierung her und ihrem Spannungsbogen war Duchess in der 2021/22er Version den Liveversionen von In That Air Tonight nicht unähnlich: Beide begannen mit dem monotonen Drum Machine-Loop und atmosphärischem, blauen Licht, während sich nach und nach Klangflächen aus Keyboards und Gitarren dazugesellten, bis sich die minutenlang aufgebaute Spannung schließlich mit dem Einsatz des Schlagzeugs und perfekt dazu choreographiertem Blitzlichtgewitter jäh entlud.
Nicht nur musikalisch und – dank des autobiographischen Textes – emotional, sondern auch visuell ist Duchess einer der stärksten Momente der The Last Domino?-Konzerte gewesen: Am Ende machte Phil immer eine sehr starke Geste, wenn er nach dem letzten „You’re the one we waited for“ für einige Augenblicke beide Arme ganz weit ausbreitete und gen Himmel starrte – dieser Moment wurde jeden Abend in voller Bühnenbreite abgefilmt, wobei die bunten Konfetti-Fitzelchen, die das gesamte Stück über die Bildschirmvisualisierungen zierten, um ihn herum aussahen wie kleine Herzchen? Großen Spaß bereitete mir am zweiten Abend in London auch I Know What I Like– mir scheint, Phil hätte diesmal besonders lang mit dem Publikum gespielt und auch sein angedeuteter Tambourin-Tanz war recht umfassend. Seinen Humor und vor allem seine herrliche Selbstironie hat der Mann jedenfalls nicht verloren; und nach wie vor fraß ihm das Publikum in jeder Sekunde aus der Hand – selbst wenn er nur kurz den Finger rührte. Aus dieser Perspektive besonders beindruckend waren auch No Son Of Mine (endlich mal solide ohne Textdreher!) und Domino. Das für die Tour namensgebende Stück liebe ich ohnehin schon immer, seit ich das erste Mal die Invisible Touch-CD meines Vaters durchhörte – aber durch die tiefere Tonart, die düstere Visualisierung und nicht zuletzt auch durch die weltpolitischen Ereignisse der letzten Monate (Euphemismus beiseite: Den Angriffskrieg eines Autokraten auf ein souveränes, demokratisches Land) hat Domino 2022 für mich nochmal massiv dazugewonnen. Es ist eine Art letztes Aufbäumen der Band; und Phil Collins sang das anspruchsvolle, rund zehnminütige Stück völlig ohne Unterstützung der beiden Backgroundsänger auch mit 71 Jahren noch ziemlich gut, wie ich finde. Alles in allem war das Freitagskonzert in London für mich das musikalisch mit Abstand stärkste „meiner“ Konzerte. Deshalb ärgert es mich umso mehr, dass Genesis die drei Abende in London nicht gefilmt und den Zusammenschnitt als authentisches, würdiges Dokument ihres Abschiedes veröffentlicht haben – nicht zuletzt auch für die vielen, vielen Fans, die aus den unterschiedlichsten Gründen diese bemerkenswerte Tour nicht live haben sehen können.
London, O2, 26. März 2022 (Samstag)
So stark das Freitagskonzert war, so ambivalent blicke ich auf Genesis‘ wohl allerletztes Konzert zurück. Alex und ich begannen den Tag abermals mit einem späten Full English Breakfast und einem Pott Cappuccino im – TripAdvisor zufolge – besten Café von Woolwich, bevor wir uns das Zentrum des Stadtteils bei nach wie vor strahlendem Sonnenschein erliefen und dabei allerlei Genesis-„Fachgespräche“ führten. Natürlich mutmaßten wir auch, was am Abend denn Spezielles passieren könnte: Würde Phil eine besondere Ansage machen? Würde womöglich tatsächlich Peter Gabriel auf die Bühne kommen? Warum war Genesis-Manager Tony Smith eigentlich kürzlich auf einem Steve Hackett-Konzert? Und: Hat Steve Hackett die Corona-Fälle in seiner Band nur vorgetäuscht, um unbemerkt seine Tour in Nordamerika zu unterbrechen und für einen Gastauftritt nach London zu jetten? Wir waren uns einig, dass nichts dergleichen passieren würde, und hielten uns mit Belanglosigkeiten bei Laune. Mir persönlich – man entschuldige den schiefen Vergleich – ging es an diesem Tag wie vor einer Beerdigung oder einem anderen unangenehmen Termin, bei dem man eine – längst bekannte, aber doch negative – Nachricht nochmal in aller Förmlichkeit verkündet bekommt: Einerseits will man hin (und die Gefühle katalysieren); andererseits versucht man, den Moment so lange wie möglich aufzuschieben. So lange hatte ich darauf gehofft, Phil Collins nochmal live zu sehen; dann kam alles anders als erwartet und war doch emotional, begeisternd, und toll? Im November 2017 saß ich mit meinem Freund Leo in der Royal Albert Hall und versuchte, mich emotional darauf einzustellen, dass dies der letzte Abend sein würde, an dem wir unseren Lieblingsmusiker live sehen würden. So ganz hat es nicht geklappt; da war immer Hoffnung.
Dann kaufte ich im Sommer 2018 Karten für Melbourne, um eine lange versprochene Australien-Reise endlich einzulösen. Auch dort dachte ich, „dass kann es doch jetzt nicht gewesen sein“. Es folgten die Shows in Hannover und Berlin – und nach und nach wurde die bis dahin absurde Idee einer Genesis-Reunion immer weniger unwahrscheinlich. Dann die Tourankündigung – und dann die beschissene Pandemie und das monatelange Bangen und Hoffen inklusive der vier (fast fünf) Verschiebungen eben dieser London-Termine. Zwischenzeitlich sagte sich der Optimist in mir, als meine YouTube-basierte Diagnose eine stetige Besserung der Performance des Herrn Collins senior konstatierte, dass auch diese Tour vielleicht wieder zwei, drei Jahre und vier Kontinente umfassen könnte – aber letztlich wurden Genesis selbst explizit, indem sie besagtes Fragezeichen aus dem Tourtitel tilgten. Es ist nicht wegzudiskutieren, dass es um Phil Collins körperlich nicht gut bestellt ist – und das Abschlusskonzert in London hat in meinen Augen unterstrichen, warum es konsequent und nachvollziehbar ist, an diesem Punkt einen Schlussstrich zu ziehen. „So stark das Freitagskonzert war“, schrieb ich weiter oben, so fehleranfällig war das Samstagskonzert. Rein objektiv betrachtet war es das schwächste der sieben Konzerte, die ich, quasi against all odds, erleben durfte: Bereits früh im Konzert hat Phil den Klimax in Mama vergeigt; beim Lichtermeer in Follow You Follow Me hat er so arg die Strophen verdreht, dass er sich in der Struktur des Songs verloren hat (zum Glück hat Nic Collins die Situation gerettet, in dem er geistesgegenwärtig mit seinen Jazz-Besen den Refrain eingeläutet hat); gleiches gilt für Throwing It All Away, in dessen simpler Struktur sich Phil auch untypischerweise verloren hat (er hat den Song seit 2018 zigfach live gesungen).
Bei Domino hatte er sogar einen sekundenlangen Totalaussetzer, den wirklich jede:r in der Arena bemerkt haben dürfte, weil er in Part I nach dem zweiten Refrain fälschlicherweise das „all of my life“ angefügt hat, während der Rest der Band bereits in der nächsten Strophe war. ABER: Die Last Domino?-Konzerte waren, anders als frühere Genesis- oder Collins-Konzerte, nie auf Perfektion aus, sondern auf Authentizität, Ehrlichkeit und (gegenseitiger) Dankbarkeit; auf ein letztes, gemeinsames Zelebrieren einer der großartigsten Bands der Rockgeschichte – uns das ist den Herren vorzüglich gelungen. Wir saßen am dritten Abend auf Plätzen der günstigsten Kategorie mittig im Oberrang auf der Haupttribüne in der vorletzten Reihe unter dem Dach. Selbst dort oben kam das Konzert an: Die „Audience Participation Time“ vor Home By The Sea, das „Domino Principle“ vor Domino und die Klatschspiele während I Know What I Like haben das eindringlich unter Beweis gestellt. Abseits dessen hatte das letzte Genesis-Konzert aber auch musikalisch seine (ganz) großen Momente: Das Medley aus Fading Lights, Cinema Show und Afterglow würde ich jederzeit genau so als Film veröffentlichen. Auf YouTube gibt es ein Handyvideo, das die Emotionen zwischen Phil, Mike und Tony wunderbar eingefangen hat! Da spielen drei jahrzehntelange Freunde, zum Teil vom Leben, der gigantischen Karriere und deren Konsequenzen gezeichnet, die Essenz ihres gemeinsamen Schaffens – wohlwissend, dass sie dies zum allerletzten Mal tun. Phils wiederholtes „Remember … Remember?“ am Ende von Fading Lights und die Blicke, die er dabei Mike und Tony zuwirft, sprechen Bände. Zum ersten Mal seit den Anfangsminuten in Berlin hatte ich dabei Tränen in den Augen und einen ordentlichen Kloß im Hals. Fairerweise hatte uns Phil darauf aber vorbereitet: Bereits während seiner Begrüßung nach Mama hätte man eine Stecknadel in der Arena fallen hören können, weil alle Anwesenden gespannt warteten, was er denn sagen würde. Und tatsächlich sagte er, dass dies die letzte Show der Tour sei – und auch die letzte Show für Genesis. Totenstille, dann erfüllte herzerwärmender Applaus die gesamte Arena.
Bei der Bandvorstellung setzte Phil dann zu einer ausführlichen Dankesrede für die gesamte Crew – von Licht und Ton über In-Ear-Monitoring bis hin zu den Truckdrivern und dem Catering – an, bevor er sich schließlich bei Tony Smith, Genesis‘ Manager seit den späten 1970er Jahren, bedankte. (Eine Revanche erfolgte später in den Zugaben, indem die Crew während I Can’t Dance eine Polonaise über die Bühne veranstaltete.) Als bei der Anmoderation zum Domino Principle wie immer jemand „Supper’s Ready“ (wahlweise bei anderen Shows auch: „The Knife!„) rief, witzelte Phil, dass möglicherweise Peter Gabriel gerufen habe – da dieser auch irgendwo vor Ort sei. Nach einem verhaltenen Applaus für „Peter“ motivierte Phil dann das Publikum nochmal für „Peter, Peter Gabriel“ eine Runde Applaus zu spenden – mit Erfolg. Zu einem letzten gemeinsamen Auftritt kam es dann zwar wie erwartet nicht, aber auch so war der Abschluss des womöglich allerletzten Genesis-Konzert mit einem hingebungsvollen, sanften Dancing With The Moonlit Knight / Carpet Crawlers wunderschön – und ich werde nie vergessen, wie meine ewige Lieblingsband sich ein letztes Mal verbeugt hat, sich den Applaus für ihr Lebenswerk abgeholt hat und wie der kleine glatzköpfige Kämpfer in Trainingsjacke danach, auf seinen Gehstock gestützt, ein letztes Mal inne hielt, seinem treuen Publikum einige Luftküsse zuwarf und dann langsam und vorsichtig zum Bühnenabgang marschierte. Vielen Dank für alles – und alles erdenklich Gute…
SO REMEMBER…
Was bleibt also? Für mich persönlich war es ein Geschenk, dass ich mich wider Erwarten doch noch so umfangreich von meiner Lieblingsband verabschieden konnte. Die The Last Domino?-Tour war für mich der maßgebliche Fixstern während der Corona-Pandemie gewesen und ich bin sehr dankbar, dass ich am Ende, aller Verschiebungen und Unwägbarkeiten zum Trotz, sogar sieben Konzerte erleben konnte.
Obwohl Genesis jeden Abend mit der identischen Setlist bestritten, waren die Eindrücke und das Drumherum doch sehr unterschiedlich. Natürlich hätte ich die Setlist anders gewählt. Misunderstanding, Jesus He Knows Me und Abacab hatte ich als gesetzt betrachtet; nach den Infos von den Proben hätte ich auch sehr gerne The Musical Box und die Apocalypse in 9/8 aus Supper’s Ready gehört – aber die von der Band getroffene Auswahl und Abfolge haben live im Konzert einfach wunderbar funktioniert. Wie schon auf Phil Collins‘ (Still) Not Dead Yet-Tour fanden sich an vielen Stellen kleinere oder größere Reminiszenzen an die Vergangenheit, sodass die fast zweieinhalbstündige musikalische Reise für alle Zuschauer:innen etwas zu bieten gehabt haben dürfte. Die Lightshow und die Visuals waren beeindruckend und, anders als noch 2007, sehr geschmackvoll; der Sound gigantisch und die Band voller Spielfreude. Instrumental haben mir Genesis anno 2021/22 dank der frischen Keyboardsounds von Tony Banks und des treibenden Schlagzeugspiels von Nic Collins sogar besser gefallen als noch 2007. Phil Collins hat immerhin hör- und sichtbar alles gegeben, was er noch hat – und mit seiner Aufrichtigkeit, seinem Commitment und nicht zuletzt seinem Charisma und seiner Selbstironie viele Defizite wieder wettgemacht. Paradoxerweise hat seine Verfassung den meisten Stücken eine neue Bedeutung; mitunter sogar neuen Tiefgang gegeben – und so habe ich persönliche Lieblingsstücke wie Mama, Fading Lights, Afterglow, Duchess, No Son Of Mine, Domino oder die Abschlusssequenz Dancing With The Moonlit Knight / Carpet Crawlers nicht nur intensiv(er als früher) erlebt, sondern tatsächlich auch ein letztes Mal live und in Farbe genießen können.
Allen Unkenrufen (und einigen YouTube-Kommentaren) zum Trotz haben sich Genesis mit ihrer The Last Domino?-Tour aus meiner Sicht gebührend und würdig von ihrem Publikum verabschiedet. Diese letzte Konzertreise war zwar anders, als von vielen jahrelang erträumt, aber hatte dennoch alles zu bieten, was diese Band jahrzehntelang ausgemacht hat – und vielleicht sogar mehr Herz? Band und Crew, vor allem aber Tony Banks, Mike Rutherford, Daryl Stuermer und natürlich Phil Collins sei an dieser Stelle für ihre Zukunft nur das Beste gewünscht. Thank you for the soundtrack of my life, wie nicht wenige in den sozialen Netzwerken in diesen Tagen schreiben…
Schade ist bloß, dass diese besondere Tour nicht entsprechend professionell dokumentiert und somit mehr Menschen zugänglich gemacht wurde: Eine Erweiterung des vorliegenden Dokumentationsfilms um die tatsächlich stattgefundene Tour (inklusive Outtakes der später nicht gespielten Stücke!) und ein Zusammenschnitt der drei Londoner Abschlusskonzerte hätten ein überzeugendes Produkt abgeben können. Aus den drei Konzerten hätte man die jeweils beste Performance eines jeden Stückes auswählen können und mit den Ansagen vom letzten Abend zusammenbringen können. Bei der Kameraführung hätte man die Band gleichberechtigter abfilmen können als bei früheren, auf Phil Collins fokussierenden Livemitschnitten und dabei auch einen größeren Wert auf das Konzert aus den verschiedenen Blickwinkeln des Publikums legen können. Dass sich die Band anders entschieden hat, ist zu bedauern. Immerhin gibt es dank der Fans mittlerweile einige Konzerte der Tour komplett auf YouTube. Ob Genesis nun, wo sie als Liveband Geschichte sind, endlich ihre Archive öffnen und ihren Fans im Stile anderer legendärer Bands wie den Beatles, den Stones oder auch Pink Floyd rare frühere Konzertaufnahmen legal und offiziell zugänglich machen? Vermutlich nicht. Vermutlich belassen sie’s dabei und sagen trocken „That’s All“. Fair enough.
Autor: Niklas Ferch