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Genesis – Mark Bell: Foxtrot (Aufstieg und Apokalypse) – Buch Rezension
Mark Bell blickt tief in die Geschichte des Genesis-Albums Foxtrot. Martin Klinkhardt hat nachgelesen.
Ein knappes Dreivierteljahr nach seinem sehr empfehlenswerten Buch über The Lamb Lies Down On Broadway legt Mark Bell nach. Der soeben erschienene zweiten Band der Reihe ‚Album Age‘ widmet sich dem Album Foxtrot und dehnt das Thema im Untertitel auf Genesis 1972-1973 aus. Die Wendung Aufstieg und Apokalypse im Unter-Untertitel irritiert allerdings extrem – wegen der sehr gesuchten Prägung oder weil sich die beiden Ausdrücke auf verschiedenes beziehen?
Apropos irritierend: Das Cover des Buches ziert auf der Front eine von Paul Whitehead selbst (nach Konzepten von ihm und Bell) gewissermaßen aktualisierte Fassung des Foxtrot-Covers. Die Idee ist gut, es gibt auch viel Neues zu entdecken, und doch wirkt das Cover – bei aller Hochachtung vor Herrn Whitehead – äußerst unruhig und fällt beispielsweise gegenüber dem ersten Band der Reihe mit dessen ruhiger Gestaltungssprache doch schon ab. Aber man beurteile ein Buch halt nie nach seinem Umschlagbild, weiß schon der englische Volksmund. Also, schauen wir hinein!
Die ersten drei Kapitel zeichnen nach, wie die sechs Stücke des Albums entstanden. Zunächst stellt Bell die einigermaßen un(ab)gesicherte Lage der Band im Jahr 1972 dar, bevor er umreißt, wie sich die einzelnen Stücke entwickelten und es zu den Studioaufnahmen kommt. Diese Kapitel wirken sehr viel unruhiger, weniger aus einem Guss als bei The Lamb; darin spiegelt sich allerdings auch die eher episodische und nicht monolithische Entstehung der Songs. Im Kapitel über die Aufnahmen werden die Wechsel der Produzenten genauso beleuchtet, wie die Folgen des Umstands, dass die Studiozeit quasi mit dem Schuhlöffel zwischen eine Reihe von Live-Auftritten gequetscht wurde. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der benutzten Technik. Ob jeder Leser diese Informationen in solcher Detailtiefe mit Gewinn liest, sei dahingestellt; allerdings ist es auf jeden Fall verdienstvoll und legt Zeugnis ab von der ausgedehnten Recherche und Materialsammlung, die diesem Buch vorausgegangen ist.
Technisch weniger interessierte Leser kommen im Kapitel 4 auf ihre Kosten, in dem die Stücke in bewährter Manier von musikalischer wie auch textueller Warte nicht nur geschildert, sondern auch interpretiert werden. An dieser Stelle ist Kritik natürlich wohlfeil. ‚Natürlich‘ hat sich Bell entgehen lassen, dass in Clarkes Romanfassung von 2001 der Übergang der Menschheit (in Gestalt von Bowman) in eine körperlose ’neue Gestalt‘ stattfindet, die ‚dort stattfindet, wo kein Mensch hingelangen kann‘ – aber man kann Anspielungen nur erkennen, wenn man kennt, worauf angespielt wird, und Bell weist zu Recht darauf hin, dass die Anspielungsdichte in Foxtrot fast noch höher ist als in The Lamb. Die Seitenzahlen, die Bell den einzelnen Stücken widmet, entsprechen grob der Länge der Stücke (wobei Horizon sein Ausreißer ist). Wenn bei der Ausdeutung der Texte der Fokus sehr stark darauf liegt, was die Stücke über konkret Peter Gabriels Erfahrungswelt und Seelenleben enthüllen, dann führt das sicherlich konsequent die Herangehensweise aus dem Lamb-Buch fort; aber es stellt sich auch die Frage, ob der Blickwinkel damit nicht unnötig verengt ist.
Im fünften Kapitel würde man nun eine Darstellung der Konzerttournee erwarten. Tatsächlich passiert das hier nur kursorisch und zunächst auf den September 1972 beschränkt. Bell konzentriert sich dabei vor allem auf den Fuchs – und das frühe, eher kritische Medienecho. Eine detaillierte Analyse der Frage, wann genau Foxtrot denn in England veröffentlicht worden sein dürfte, irritiert zunächst, liefert aber die Begründung für die überzeugende These, dass Gabriel das britische Konzertpublikum beim Melody Maker Festival in London genau in der Erscheinungswoche des Albums mit Fuchsmaske und rotem Kleid überraschen wollte, um eine hohe Chartplatzierung des Albums zu erzielen. Anschließend werden wir durch das Albumcover von Paul Whitehead mit seinen verschiedenen Elementen geführt, bevor Bell die breitgefächerten Reaktionen der Musikpresse in Großbritannien, den USA und dem deutschsprachigen Raum auf das Album darstellt.
Das sechste Kapitel Fox on the run (die Kapitelbezeichnungen sind etwas prätentiös ausgefallen) betrachtet die Entwicklung der Live-Show von Oktober 1972 bis Januar 1973; diesen Zeitraum gliedert er in drei Phasen: Die Tour mit Lindisfarne als Headliner, dann den Tourneeabschnitt in kleineren Clubs, bei dem Genesis Headliner sind und dank der Unterstützung durch ihre erste eigene Sound- und Lichtanlage sich trauen, Supper’s Ready ins Set zurückzubringen, und schließlich das internationale Tournee-Segment, bei dem Bell vor allem den US-Konzerten breitesten Raum einräumt. Die Darstellung der europäischen Konzerte wirkt fast nur wie ein Aufhänger, um zu erörtern, wie eigenständig oder epigonal Gabriel mit seinen inzwischen zahlreichen Masken ist.
Der Tournee-Abschnitt in England im Februar 1973 und speziell der erste Auftritt von Genesis im Rainbow bildet das siebte Kapitel; er zeugt von allmählich beginnenden Erfolgsspuren der Band: größere Auftrittsorte, ein längeres Set – und eine angemietete, viel bessere Soundanlage, weil die frisch erworbene eigene zu klein für die Bühnen ist. Als visuelle Neuerung kommen die weißen Gazestellwände zum Einsatz, hinter denen die Ausrüstung verborgen wird, was den Fokus stärker auf die Band und noch stärker auf Gabriels steigende Maskenzahl richtet, die gerade Supper’s Ready visuell zum Durchbruch verhelfen. Das Stück wird weiter dadurch hervorgehoben, dass Peter Gabriel immer weniger Geschichten zwischen den Songs erzählt – eine der längsten allerdings den Longtrack einleitet, und zwar im Gegensatz zu früheren Geschichten mit verschlüsseltem Bezug zum Songtext.
Das letzte Hauptkapitel betrachtet die erste richtige Amerika-Tournee ab März 1973 bis zum Ende der Foxtrot-Tour mit dem Auftritt beim Reading Festival 1973 und der Platte Genesis Live. Auch hier zeichnet Bell das Bild einer in den USA von Schwierigkeiten geplagten Tour, deren Konzerte vom Publikum immer noch nicht durchweg gut, aber immerhin schon besser aufgenommen werden. Die Konzerte in Frankreich und Belgien, die die Tour beschließen, treffen dagegen auf nahezu andächtiges Publikum. In diese Zeit fällt auch der Abschied von Richard Macphail und eine längere Live-Pause, die zum Schreiben neuer Songs dienen soll. Als Lückenfüller wird das aufgezeichnete Material der King Biscuit Flower Hour aus Manchester und Birmingham benutzt, um ein Livealbum zu einem sehr günstigen Preis herauszubringen, das der Band neue Hörerschichten erschließen soll. Den endgültigen Schlusspunkt des Kapitels und des Buches bildet der Auftritt beim Reading Festival 1973.
Im Epilog geht Bell zunächst die verschiedenen Veröffentlichungen des Albums über die Jahre durch und erwähnt auch einzelne Einzelveröffentlichungen der Songs (bis hin zu Lover’s Leap als B-Seite von Shipwrecked) und diverse Coverversionen. Knapp geschildert wird, welche Stücke sich wie lang in Genesis-Setlisten halten konnten, und auch Steve Hackett als ‚Fackelträger‘ von Foxtrot wird gewürdigt. Bei den Tribute-Darbietungen wird eine ganze Reihe von Bands genannt, deren unbestrittener Gipfelpunkt The Musical Box sind. Eine Sonderstellung nimmt ein (einmaliger) Gründonnerstags-Gottesdienst unter Einbindung von Supper’s Ready mit Tanzeinlagen ein.
Nach einer Würdigung dessen, was Genesis auf Foxtrot wirklich ausmacht, widmet sich Bell noch einmal kurz verschiedenen kleinen oder bereits behandelten Themen: den Masken (sie seien Auslöser für den Aufstieg der Band und auch für ihren Zerfall gewesen), ob Foxtrot ein Konzept-Album sei (jein), und was die Bandmitglieder selbst vom Album halten.
In den Schlussbemerkungen spürt Bell dem nach, was er „die Magie von Genesis“ nennt, die er genau in Foxtrot entstehen sieht und auf das Spirituelle in der Musik und der Bühnenshow zurückführt – und die sich, ob zufällig oder nicht, parallel zum Wachstum ihrer Hörerschaft entwickelt.
Mit dem Foxtrot-Band hat Mark Bell erneut ein gleichermaßen umfassendes wie lesenswertes Werk vorgelegt. Es ist gut recherchiert, nennt regelmäßig seine Quellen und ordnet vielfach auch Aspekte, die der interessierte Fan bereits kennt, in Zusammenhänge ein, die neue Erkenntnisse oder mindestens Denkanstöße bieten. Nachdrücklicher als beim Lamb-Album stellt sich aber die Frage, ob das Denken, Erleben und die Seelenzustände von Peter Gabriel hier zurecht so viel genauer betrachtet werden, als die der anderen Bandmitglieder.
Was im Vergleich zu Bells Buch über The Lamb außerdem auffällt, ist – bei gleichbleibender sprachlicher Höhe – eine Änderung im Ton. Unter die beschreibenden Elemente mischen sich immer wieder und sehr viel stärker als im ersten Band wertende Ausdrücke. Eine stärkere Reduzierung in die Nähe des unvermeidlichen Minimums hätte dem Buch womöglich gutgetan. Reizvoll dagegen, dass der Autor gelegentlich die Ebene durchbricht und die Leserschaft direkt anspricht.
Autor: Martin Klinkhardt | August 2023
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