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Genesis – Bill Thomas: Genesis in the 1970s (Decades) – Rezension
Bill Thomas hat ein Buch über die 70er Jahre der Band Genesis geschrieben, das im Verlag Sonicbound Publishing ershienen ist. Jan Hecker-Stampehl hat es gelesen und teilt seine Eindrücke.
Hinter diesem jüngst erschienenen Buch über die Geschichte von Genesis während der 1970er Jahre steckt der englische Verlag Sonicbound Publishing, der in der letzten Zeit durch eine große Anzahl von Veröffentlichungen zu einer Vielzahl von Pop- und Rock-Bands und -Solokünstlern aufgefallen ist, darunter auch zu einer ganzen Reihe von Acts aus dem Progressive-/Classic-Rock-Genre. Im Verlagsprogramm stechen vor allem zwei Publikationsreihen heraus: Eine nennt sich On Track und beinhaltet, wie der Untertitel sagt, Analysen zu Every Album, Every Track, also sehr gründliche Kritiken/Analysen zu jedem einzelnen Song auf jeder offiziellen Veröffentlichung des jeweiligen Künstlers. Ein solches Buch wurde 2019 auch zu Genesis veröffentlicht, 2021 folgten entsprechende Bände zu Peter Gabriel und Steve Hackett. Eine zweite Buchreihe nennt sich Decadesund schildert den Werdegang des jeweiligen Acts in einem bestimmten Jahrzehnt.
In dieser Reihe ist nun also ein Band zu Genesis in ihrem ersten wichtigen Jahrzehnt erschienen, als sie sich von den mühsamen Anfängen hocharbeiteten und zu einem veritablen Rock-Act wurden. Der Autor Bill Thomas ist ein britischer Journalist, der laut Buchklappentext primär über Fußball und Musik schreibt und bereits einen Band in der On Track-Reihe zu Kate Bush veröffentlicht hat. Er greift auf Klassiker zurück wie Armando Gallos Bücher, die in der letzten Zeit erschienenen Autobiographien von Genesis-Akteuren, die Interviews auf den Genesis-Box-Sets, aber auch auf einige selbst geführte Gespräche (mit Anthony Phillips, Steve Hackett und dem Schlagzeuger Jerry Marotta, der auf frühen Gabriel-Solo-Alben und -Tourneen trommelte).
Die Kapitelstruktur des Buchs ist recht einfach nachzuvollziehen: Nach einer kurzen Einleitung, in der die sattsam bekannte Entstehungsgeschichte von Genesis knapp abgehandelt wird, geht es in die eigentliche Darstellung. Für jedes Jahr gibt es dabei ein Kapitel; allerdings ergibt sich eine gewisse Untergliederung dadurch, dass jedes Album kursorisch besprochen wird, mit allen wichtigen Eckdaten zur Produktion/Songabfolge/beteiligten Musikern usw. Mit „jedes Album“ sind nicht nur Genesis-Band-Alben gemeint, sondern (ab 1975) auch alle in dieser Phase erschienenen Solo-Alben von Genesis-Mitgliedern – egal, ob sie zu dem Zeitpunkt noch der Band angehörten oder schon ausgestiegen waren.
In gewisser Weise fühlt man sich an das Konzept der CD-Compilation Genesis R-Kive erinnert, wo ja Genesis-Songs ebenso vertreten waren wie ausgewählte Solo-Tracks. Hier wird das Ganze in gewisser Weise noch konsequenter zu Ende gedacht: Alle Alben von Genesis werden besprochen und sämtliche Solo-Produktionen, angefangen bei Steve Hacketts Einstand Voyage Of The Acolyte, über die Alben von Brand X, die unter Phil Collins‘ Mitwirkung entstanden, bis hin zu Tony Banks‘ 1975er Solo-Debüt A Curious Feeling (das auch das letzte besprochene Album im ganzen Buch ist, 1979 veröffentlicht). Auch die Alben von Anthony Phillips und die ersten Peter Gabriel-Veröffentlichungen werden berücksichtigt.
Insgesamt verfolgt Thomas das Ziel, die Entwicklung der Band sehr stark im Kontext der damaligen Zeit zu verorten und kulturelle, soziale und gelegentlich auch politische Einflussfaktoren einzubeziehen. So gut er es vermag, versucht er auch, das Gefüge der verschiedenen Persönlichkeiten und der damit einhergehenden Konflikte nachzuzeichnen. Ein interessanter Aspekt ist hier etwa das Alter von Anthony Phillips, der zum Zeitpunkt seines Abschieds von der Band 1970 gerade mal 18 wurde. Thomas hebt hier sehr stark auf den Alters- und damit Lebenserfahrungsunterschied zu den anderen Mitgliedern ab, die in dieser Zeit schon 20 wurden.
In Hinblick auf Steve Hacketts Ausscheiden streicht Thomas einen Umstand heraus, der nicht ganz neu ist, aber bei ihm nochmal prominenter dasteht: Schon beim Instrumentalteil von The Cinema Show, später bei der Arbeit an Dance On A Volcano (Hackett stieß etwas verspätet zu den Trick Of The Tail-Sessions hinzu) und bei zwei von drei Songs auf der EP Spot The Pigeon hatten Banks, Collins und Rutherford positive Erfahrungen damit gesammelt, zu dritt nicht nur einen Song zu schreiben, sondern wesentliche Elemente davon auch in einer Live-Performance zu tragen. Aber auch der Fakt, dass Hackett 1975 ein Solo-Album produzierte, während Tony Banks fand, nach Peter Gabriels Ausstieg müssten nun alle ihre ganze Energie auf Genesis konzentrieren, um die Band nach diesem herben Schlag neu auszurichten, sorgte für weitere Irritation.
Und ohnedies nagten früher schon gehörige Zweifel an Hackett, der sich in punkto Songwriting den anderen Bandmitgliedern (mit Ausnahme von Collins, der noch nicht wirklich als Songschreiber unterwegs war) als unterlegen empfand. Thomas sucht also hier, wie übrigens auch im Fall von Peter Gabriels Ausstieg, nach den längerfristig wirkenden Faktoren.
Die einzelnen Alben werden vom Autor eher charakterisiert, denn akribisch seziert – was auch gar nicht das Ziel ist (dafür gibt es ja die On Track-Reihe). Dennoch hebt Thomas einzelne Songs hervor, oder zumindest diejenigen Aspekte, die er besonders aussagekräftig findet. Durch die Einbeziehung der immer zahlreicher werdenden Soloprojekte (gerade auch der ausgestiegenen Mitglieder) zeichnet er zudem ein Bild von der gesamten Genesis-Familie. So wird nochmal deutlicher, wie sich in Anthony Phillips‘ Schaffen sozusagen ein bestimmter Zweig von Genesis-Musik in eine eigene Richtung entwickelt, wo sich in Hacketts Output sowohl seine Herkunft aus dem Genesis-Kosmos als auch seine beginnende Weiterentwicklung zeigt, und wie bewusst Peter Gabriel die Abgrenzung von seiner früheren Band betrieb (und doch seinen Genesis-Anteil in seinem frühen Solowerk nicht leugnen konnte).
Durch diese allumfassende Sicht auch auf die beginnende Verzweigung des musikalischen Genesis-Stammbaums hebt sich das Buch am stärksten von anderen Veröffentlichungen ab, weil hier keine Hierarchie aufgemacht wird (nach dem Motto: Hier die eigentliche Geschichte – Genesis – und dort die nachgeordneten Solo-Aktivitäten), sondern alles, was Mitglieder innerhalb wie außerhalb der Band schufen, gleichrangig behandelt wird. Zumindest mir als Rezensent ist dadurch nochmal sehr viel deutlicher geworden, wie oft Phil Collins in den 1970ern vor einem Ausstieg stand, was möglicherweise durch seine unablässige Sessionarbeit und das intensive Engagement bei Brand X abgewendet wurde. Die Bedeutung dieser Jazzrock-Spielwiese für Collins als Ventil, durch das er Dampf ablassen konnte, und zugleich als Einfluss, den er wiederum bei Genesis einbrachte – all dies wird hier gut erklärt.
Thomas erzählt die Geschichte von Genesis in den 1970ern in einem angenehm zu lesenden Plauderton, bei ihm blitzen immer wieder Humor und Ironie auf, und er ist ein Kenner der Rockmusik- wie der allgemeinen Kulturgeschichte dieser Zeit. Er hält sich mit apodiktischen Urteilen zurück, aber gibt durchaus seine Meinung über Songs zu erkennen, die er für nicht so gelungen hält. Interessant ist seine eher positive Bewertung zu And Then There Were Three, ein Album, das ja bei vielen Fans nicht allzu gut wegkommt. Tatsächlich hält er es für keinen derart starken Bruch, wie es oft der Fall ist, deutet eher auf die Kontinuitäten zu früherer Genesis-Musik hin – allerdings eher im Songwriting als in der Klangvielfalt und der Experimentierfreude.
Das Konzept der Buchreihe setzt einen in gewisser Weise künstlichen Rahmen. Die Entwicklung einer Band hält sich ja nicht an die zeitlichen Begrenzungen, die der Kalender vorgibt. Allerdings hat das Ganze schon einen gewissen Reiz, anstatt z.B. einer häufig üblichen Einteilung wie 1967-1975 oder -1977 zu folgen, weil so die Entwicklung der Dinge über die starken Einschnitte hinweg klarer werden. Und so wird auch verständlich, warum Genesis den Exodus von Hackett nur zwei Jahre nach dem Weggang von Gabriel gar nicht mehr als so dramatisch empfanden und wie sie aus der Not eine Tugend machten, die Erkenntnis aus dem letzten Umbruch nutzend. 1977/78 ein neues Mitglied von außen hinzuzunehmen, wäre nach der zuvor gemachten Erfahrung durch die Erneuerung aus der Band selbst heraus wohl undenkbar gewesen.
Das Buch verharrt in einer ähnlichen Schwebe wie Genesis selbst 1979. Die ersten Soloalben von Banks/Rutherford und Phil Collins‘ Ehe-/Scheidungskrise brachten wesentliche Veränderungen mit sich, und Genesis entwickelte sich erst im folgenden Jahrzehnt zur weltweiten Mega-Band. Man darf gespannt sein, ob der Verlag diese Entwicklung in weiteren Teilen, die sich den 1980er und 1990er Jahren widmen würden, weiterverfolgen wird.
Autor: Jan Hecker-Stampehl
Sonicbound Publishing
Paperback, 186 Seiten
ISBN 978-1-78952-146-7
Veröffentlicht: 2021
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