1. Artikel
  2. Lesezeit ca. 9 Minuten

Brand X – Product – Album-Rezension

Brand X waren weiit mehr als eine Zweitband für Phil Collins. Neben Unorthodox Behaviour dürfte Product das beste Album der Band sein. Thomas Jesse schaut sich das näher an.

Persönliche Vorbemerkung:

Product war das erste Album von Brand X, das der Rezensent zum Zeitpunkt seines Erscheinens gekauft hat. Er stolperte über den Sticker „incl. Phil Collins. The Voice of Genesis“ und über eine Anzeige im Musikexpress. *1 Es ist also etwas Besonderes für ihn, dieses Album zu würdigen. Sollte der Rezensent mit seinen Bemerkungen über das Ziel der Objektivität hinausschießen, bittet er um Verständnis.

Hintergrund:

1979 / 1980 startete Charisma eine große Werbekampagne, um die Nachfrage nach Genesis-Produkten zu steigern. Die Soloalben von Tony und Mike wurden ebenso wie das Brand X Album (letzteres eben als Phils Baby) in Zeitschriften angepriesen. Somit war Product eine größere Aufmerksamkeit gesichert.

Phil war nach gescheiterter Ehe aus Kanada zurück und hatte wieder Zeit und Lust viel Musik zu machen. Da das Management von Brand X mit seinem Wunsch nach Kommerzialisierung auf Widerstand der Bandmitglieder (insbesondere Percy Jones) stieß, kam man auf die Idee, neben dem aktuellen Line Up auch ausgestiegene Musiker der Band wieder ins Boot zu holen. Phil war schnell überzeugt und die anderen folgten. So hatte man Musiker für zwei Bandversionen beisammen. Neben Goodsall, Jones, Robinson und Clarke waren da Lumley, Giblin und eben Phil. Sogar Pert ließ sich ab und an bei den Aufnahmesessions blicken. *2

Im April 1979 mietete man sich in Ringo Starrs Startling Studios in Ascot ein. *3 Man probte und nahm in zwei Schichten auf: Tagsüber die Besetzung Goodsall, Lumley, Collins, Giblin und abends Goodsall, Jones, Robinson, Clarke. Der gute Goodsall war doppelt im Einsatz.

Das Ergebnis waren Songs, die ein Doppelalbum gefüllt hätten. Man entschied sich aber die Stücke auf zwei Alben zu packen und diese hintereinander herauszubringen. Zunächst eines mit dem mehr kommerziellen Material der Tagesband. Mit diesem ging man auf Tour, um ein halbes Jahr später die Songs der Nachtband zu veröffentlichen.

Im September 1979 erschien mit Product das erste Album der Sessions. Die Veröffentlichung wurde von einer. -Single des Songs Soho (B-Seite: Dance of the Illegal Aliens- Kurzversion) begleitet. Selbst diesen Song auf einer 12″-Maxi mit den Non-Album-Tracks Noddy Goes To Sweden (Nachtband plus Pert), sowie Pool Room Blues (Tagesband mit Jones und Robinson) auf der B-Seite, zu veröffentlichen, scheute sich Charisma nicht.

Die Band ging mit zwei Keyboardern und letztmalig Phil auf eine einmonatige Tour durch England und den USA. Phil nahm danach endgültig seinen Hut, um Zeit für Genesis und eine Solo – Karriere zu haben. Erst ein Jahr nach den Aufnahmesessions erschien im April 1980 mit Do They Hurt? das Album der Nachtband.

Titel und Covergestaltung:

ProductNach der Auszeit mit Masques wurde wieder Hipgnosis mit dem Coverdesign beauftragt. Die Mannen um Storm Thorgerson schufen eines der buntesten und skurrilsten Artworks ihrer Geschichte. Im Mittelpunkt sehen wir einen Mann, der in einen Getränkeautomaten tritt. Das Geschehen spielt sich an einem Bahnhofsaufgang ab. Zerstört wird diese Szene von comicartig illustrierten Rohren, chemischen Apparaturen und einem Wissenschaftler, der eine Flüssigkeit in ein Glas gießt. Wie ist der Titel und das Cover zu deuten?

„The dictionary defines the word ‚product‘ as a result, consequence, outcome, effect, upshot, by-product, spin off and legacy. A thing or person that is the result of an action or process.

That is exactly what the picture is about. A scientist designs a product – a fizzy drink – in a lab. The machine that dilivers the drink fails to function properly. The result? The frustrated purchaser vents his rage on the vending machine. Negative behaviour as an indirect consequence of a lab technican creating a fizzy drink will have a further repercussion for the young man because of his actions. The butterfly creates a tsunami. It’s a philosophical conundrum. The photography and illustration work particularly well here, due tot he well-thought-through narrative. There’a propper storyline and the position oft he subjects and the stylization oft he picture work in tandem.“, erklärt Aubrey Powell  *4

Deutsch: Das Wörterbuch definiert das Wort „Produkt“ als Ergebnis, Folge, Resultat, Effekt, Nebenprodukt, Nebenwirkung und Vermächtnis. Eine Sache oder Person, die das Ergebnis einer Handlung oder eines Prozesses ist. Das ist genau das, worum es auf dem Cover geht. Ein Wissenschaftler entwickelt in einem Labor ein Produkt – ein kohlensäurehaltiges Getränk. Die Maschine, die das Getränk verdünnt, funktioniert nicht richtig. Das Ergebnis? Der frustrierte Käufer lässt seine Wut an dem Automaten aus. Das negative Verhalten als indirekte Folge des Labortechnikers, der ein Sprudelgetränk kreiert hat, hat für den jungen Mann aufgrund seiner Handlungen ein weiteres Nachspiel. Der Schmetterling erzeugt einen Tsunami. Es ist ein philosophisches Rätsel. Die Fotografie und die Illustration funktionieren hier besonders gut, weil die Erzählung gut durchdacht ist. Es gibt einen guten Handlungsstrang und die Position der Motive und die Stilisierung des Bildes wirken im Einklang miteinander.

Aha, Brand X erzeugen also ein Produkt, dass zu Verhaltensänderungen, zu emotionalen Ausbrüchen des Konsumenten führt?

Songs:

SohoDer Rezensent bezieht sich in Reihenfolge und Zusammenstellung auf die Vinyl LP. Bei der CD-Ausgabe wurde das verändert:

LP

Side one

1 Don’t Make Waves (Goodsall) – 5:28
2 Dance of the Illegal Aliens (Jones) – 7:50
3 Soho (Goodsall, Collins) – 3:38
4 …And So to F… (Collins) – 6:29

Side two

5 Algon (Where an Ordinary Cup of Drinking Chocolate Costs £8,000,000,000) (Lumley) – 6:10
6 Rhesus Perplexus (Giblin) – 3:59
7 Wal to Wal / Not Good Enough – See Me! – 10:44
7a. Wal to Wal (Jones, Giblin
7b. Not Good Enough – See Me! (Jones, Robinson)
8 April (Giblin) – 2:36

CD

1 Don’t Make Waves (Goodsall)
2 Dance of the Illegal Aliens (Jones)
3 Soho (Goodsall, Collins)
4 Not Good Enough-See Me!(Jones, Robinson)
5 Algon (Where an Ordinary Cup of Drinking Chocolate Costs £8,000,000,000) (Lumley)
6 Rhesus Perplexus (Giblin)
7 Wal to Wal (Jones, Giblin)
8 …And So to F… (Collins)
9  April (Giblin)

AdvertDie Entscheidung fiel zugunsten der LP, da die Zusammenstellung mit And So To Fals Abschluss von Seite 1 ein gelungenes dramatisches Finale bietet. Wal to Wal von Not Good Enough – See Me!, die aufeinander aufbauen, zu trennen, kommt einer Zerstückelung gleich.

Don’t Make Waves

Das Album beginnt mit einem fünfminütigen Rockkracher. Verwundert reibt sich der Hörer die Augen. Hat er doch Jazz-Fusion-Rock erwartet. Nicht ein Stück mit Gesang und eingängigem Beat! Phil Collins singt erstmalig „richtig“ auf einem Brand X – Album. Nie klangen die Jungs so Genesis – lastig wie bei diesem Song. Gesang, Schlagzeug und Aufbau erzeugen Gedanken an Phils Stammband. Vielleicht kann man den Stil als Prog-Pop-Jazz-Stadion-Rock bezeichnen. Goodsall, der das Lied komponiert hat, überzeugt mit solider Gitarrenarbeit, Giblins Bass ist prägnant und Phils Schlagzeug unverkennbar.

Dance of the Illegal Aliens

Hier ist der gewohnte Brand X – Sound zu hören. Eine herrliche Basslinie wird begleitet von Keyboards und Gitarre, die losgelassen, entspannt musizieren. Phil drumt sophisticated und gibt dem Stück Halt. Bei Minute 3.00 wird es ganz ruhig, bevor die Musik förmlich explodiert. Auf und Ab geht es bei dem herrlichen Tanz, der so gar nichts mit dem Genesis – Stück ähnlichen Namens Jahre später zu tun hat. In der zweiten Hälfte erzeugen Bass und Gitarre eine bedrohliche Stimmung, die von Keyboard-Geklimper erhellt wird. Ein Xylophon (Pert) ist zu hören. Ein Solo von Goodsall läutet das leider ausgefadete Ende des an Weather Report erinnernden Liedes ein.

Soho

Die Verwirrung des Jazzrockpuristen regt sich erneut. Wieder singt Phil. Straßengeräusche erfüllen den Raum, poppige Percussion, schrammelnde Gitarre und pumpender Bass stimmen ein. Das ist mehr Pop als je von Brand X gehört. Die Melodieführung weist auf die kommende Entwicklung bei Genesis hin. Klingt ein wenig nach Illegal Allien, bzw. umgekehrt. Phil schrieb das Lied zusammen mit Goodsall. Mit Bläsern verstärkt hätte es auch wunderbar Platz auf Face Valuefinden können.

…And So To F…

Der dritte Track, dem Phil (nun von ihm allein komponiert) seinen Stempel aufdrückt. Sicherlich das rundeste Stück Musik von Brand X, das leider bedingt durch Aufführungen bei seinen Solo-Konzerten, Phil zugeschrieben wird. Die Band spielt wie aus einem Guss: Einer spannungsvollen Einleitung mit Gitarre und Schlagzeug folgt der Hauptteil mit Xylophon, Bass und Keyboardteppich im Hintergrund, der in ein furioses Finale mit Tonartwechsel, Gesang, pumpendem Bass und dröhnenden Gitarren endet. Das Stück erfährt eine kaum auszuhaltende Steigerung und ist der perfekte Live-Favorit. Allerdings doch weit weg vom Jazzrock, den wir auf Unorthodox Behaviour hören.

Algon (Where an Ordinary Cup of Drinking Chocolate Costs £8,000,000,000)

ProductEinen Hang zu ausgefallenen Titeln kann man Brand X schon unterstellen. Ist das Stück, wie sein Name verspricht, dem Spacerock verwandt? Mitnichten! Der Ausflug nach Algon beginnt mit wuchtigem wirbelndem Schlagzeug, bis es nach einer halben Minute ruhiger wird. Ein herrlich gelassenes, perlendes Keyboard übernimmt die Führung, duelliert sich mit einem soften Bass. Zwei Minuten später hören wir wieder den Wirbel des Beginns, der von wilden Xylophoneinlagen auf die Spitze getrieben wird. Dann wieder Klavier – und Bassläufe, die das Auf und Ab weiterspinnen. Phil spielt hier ein weiteres Wot Gorilla?, während Goodsalls Gitarre das Stück dem fulminantem Finale entgegenführt. Das ist Brand X Fusionrock at its best. Es ist sperriger als die vorherige Nummer, komplex, unheimlich perkussiv und nie die Melodieführung vergessend.

Rhesus Perplexus

Den Hörer erwartet ein wunderschön von akustischer Gitarre dominiertes jazziges Kleinod, dass mit coolen Bassläufen, perlenden Pianokaskaden und einem funky Collins glänzt und auch auf Masques seine Heimat hätte finden können. Leider mit nur vier Minuten viel zu kurz.

Wal to Wal / Not Good Enough – See Me!

a) Wal to Wal: Der Titel bezieht sich auf die Wal-Bassgitarren, die Jones und Giblin spielen. Welches Ergebnis gibt es, wenn man zwei Bassisten und einen Schlagzeuger zusammen musizieren lässt, während der Rest der Band eine Kaffeepause macht? Richtig – Geblubber, Gewummer, Gesummse, Gehämmer, dass drei Minuten anhält, *5 um in

b) Not Good Enough – See Me!: von einem Schlagzeug und Keyboard-Exzess abgelöst zu werden. Eine schräge Gitarre tobt sich aus. Nach knapp drei Minuten wird es mit einem solierenden Bass leiser. Welch Klänge kann man aus einem Bass herausholen! Schlagzeug intoniert, treibt ganz weich bis zu Minute fünf. Ein schwebender Synthesizer eröffnet die nächste Jazzrock Tour de Force, die auf den Beginn des Stückes und Goodsalls Solo verweist.

April

Wunderschön relaxt endet das Album Ein warmer Bass wird von Synthesizerteppichen und Naturgeräuschen begleitet. *6

Zusammenfassung:

Brand X ist mit Product ein abwechslungsreiches, viele Musikstile zitierendes Album gelungen. Es greift Elemente des Prog, des Pop, des Rock auf und verwebt sie mit dem Jazz. Geschickt wird die wachsende Bekanntheit von Phil Collins genutzt, um z. B. mit dessen Gesang dem Album neue Märkte zu erschließen. Wie zu erwarten, geht das zu Lasten der Komplexität und des Erkennungswertes. So verwundert es nicht, dass das Nachfolgealbum Do They Hurt? in eine Sackgasse führte und die Band schließlich lange in der Bedeutungslosigkeit verschwand.

Brand X folgen mit der Vereinfachung ihres Sounds, der Kommerzialisierung vielen Bands dieser Zeit. Genesis sollten auch diesen Weg gehen – allerdings um Längen erfolgreicher als die Jazzrocker.

Product macht dennoch Spaß und klingt heute noch wenig verstaubt. Es ist für Phil ein wichtiger Schritt vom reinen Musiker zum Komponisten und erfolgreichen Solo-Künstler.

Das Album gibt Einblick in einen ganz eigenen Musikstil und lädt den Hörer augenzwinkernd zum jazzrockenproggenswingen ein.

Autor: Thomas Jesse

Anmerkungen:

*1. Musik Express, Nr. 10, 1979, S. 22: https://www.musikexpress.de/wp-content/uploads/zeitung/musikexpress/J0XDnniCR7hrL/index.html#/html5///page/22
*2. Wie immer: Vielen Dank an Stefan Gerlach für seine hervorragende, extraordinäre Bandgeschichte in diesem Special!
*3. Siehe:  https://de.wikipedia.org/wiki/Tittenhurst_Park
*4. Aus: Aubrey Powell, Vinyl. Album. Cover. Art, The Complete Hipgnosis Catalogue, London 2017, S. 268
*5. Phil experimentiert hier zum ersten Mal mit der Roland Drum Machine, noch vor Duke. https://en.wikipedia.org/wiki/Roland_CR-78, zum Wal To Wal Bass: https//Walbasses.co.uk
*6. Die Band fand das Stück so gelungen, dass es neu arrangiert und länger gespielt auf dem Album Is there Anything About? 1982 als A Longer April veröffentlicht wurde.