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Amanda Lehmann – Innocence And Illusion – Rezension
Nach zahlreichen Beiträgen auf Alben und während Live-Shows von Steve Hackett veröffentlicht Amanda Lehmann im August 2021 ihr erstes Soloalbum. Thomas Jesse hat genauer hingehört.
Hintergrund
Wer kennt Amanda Lehmann? Nun, dem aufmerksamen Genesis-Fan wird sie als zeitweiliges Mitglied der Steve Hackett Live Band aufgefallen sein. Mit ihm tourte sie zwischen 2009 und 2013, danach war sie bei zahlreichen Gastauftritten dabei. Sie spielte Rythmusgitarre und übernahm teilweise den Gesang (*1). Sie gastiert ebenso auf Steves letzten Alben. (*2)
Vorher, in den 80ern und 90ern tourte sie in UK mit ihrer eigenen Band, veröffentlichte 1994 ein Album im Duo mit Eddy Deegan, Wazzoon und 2010 eine Solo-EP, Shadow (digital auch erhältlich bei AmazonMP3). (*3)
Schon als Kind begann sie zu singen und wurde Mitglied in einem Chor. Sie wurde am Klavier ausgebildet und brachte sich dann das Gitarrenspiel bei. Eine rote Gitarre sollte ihre Trademark werden.
Nach den Tourneen mit der Steve Hackett Band begann Amanda neue Songs zu komponieren und an älteren Stücken zu arbeiten. Sie ließ sich Zeit, ihre Lieder reifen zu lassen, um sie schließlich in den letzten eineinhalb Jahre auf einem Album zu verewigen. Als erstes Ergebnis wurde im September 2020 das Lied Memory Lane als Video veröffentlicht. (*4)
Amanda nutzte ihre Bekanntschaft zu den Musikern rund um Steve Hackett, so dass diese und der Meister himself Gastauftritte auf dem Album haben. Für die Komposition zeichnet mit einer Ausnahme Amanda verantwortlich. Die Produktion übernahm sie mit Hilfe von Nick Magnus und für zwei Stücke mit Roger King.
Musiker
Amanda Lehmann: Gesang, Gitarre, Keyboards/Klavier
Nick Magnus: Keyboards, Klavier
Roger King: Keyboards
Steve Hackett: Gitarren, Mundharmonika
Rob Townsend: Alt-Saxophon
Paul Johnson: Backing Vocals
Artwork
Das Coverartwork wurde von Des Walsh Illustrations kreiert (*5). Eine in goldenen Farben des Sonnenauf- bzw. -untergangs getauchte Landschaft wird von in der Luft schwebenden Felsbrocken durchzogen. Auf dem sich im Vordergrund befindenden Felsen steht Amanda, auf ihre rote Gitarre gestützt, in die Ferne schauend. Ein Fantasyartwork im Stil von Roger Dean. Die Thematik erinnert den Rezensenten an die Spiegelreisende-Saga von Christelle Dabos (*6)und vor allem an das Artwork der Yes-Alben Fragile und Close to the Edge.
Das Backcover prägt eine Waldlandschaft im dunkelblauen Licht einer Vollmondnacht, die von feenhaft glitzernden Sternchen durchzogen wird. Die Sleevenotes und ein Foto von Amanda, sitzend auf der Bühne, ergänzen das Design. Leider liegt dem Rezensenten das Album nur in digitaler Form vor. So sind keine genauen Aussagen zum Aufbau des Covers möglich. Leider sind die Songlyrics nicht dabei.
Erwartet nun den Hörer eine musikalische Reise in Fantasylandschaften wie Mittelerde, oder ins keltische Britannien?
Songs
01 Who Are The Heroes? (6:58)
Düster dräuende Keyboards eröffnen die Reise, eine akustische Gitarre setzt ein, Chorgesang und endlich Amandas Stimme intonieren. Das Stück nimmt Tempo auf, eine herrliche an Marillion, oder die späten Strawbs erinnernde Leadgitarre intoniert, um von einem Keyboardsolo a la Mark Kelly, gespielt von Nick Magnus, erlöst und schließlich begleitet zu werden. Ein dezentes Klavier und der Refrain beenden ein aufhorchen lassendes Prog-Stück. Amandas Gesang ähnelt Sally Oldfield, mit leichtem Kate Bush – Einschlag, oder auch Tracy Hitchings.
02 Tinkerbell (5:59)
Es klimpert und klingelt, xylophonartige Kakophonien erschallen, Arpeggien einer akustischen Gitarre übernehmen das Spiel, eine E-Gitarre folgt. Immer kunterbunter wird die Fahrt, die Gitarre heult, die Keyboards erinnern an ein Karussell. Ein Walzertakt erklingt. Aber wie herrlich singt Amanda hier! Von Sopran zu Alt, sehr variabel, reicht ihr Stimmenumfang. Der Hörer, die Hörerin werden in ein nächtliches Kinderzimmer versetzt, in dem die kleine Tinkerbell aus dem Disney-Buch springt, allerlei Unsinn macht und uns in die Welt des Peter Pan entführt. Ein Zauber, den wir nur in unserer Kindheit sehen konnten, oder mehr?
03 Only Happy When It Rains (3:47)
Welch ein verblüffender Bruch! Hatte der Rezensent sich auf ein Prog-Album eingestellt, nun das: Eine fast bluesige Nummer, von Steve Hacketts Mundharmonika eröffnet, führt uns in die zwanziger Jahre, lässt Erinnerungen an die Zeiten des Swing, der verqualmten Clubs hochkommen. Amandas rauchiges, erotisches Timbre trägt dazu bei. Rob Townsend veredelt den Song mit einem schönen Alt-Sax-Solo. Roger King steuert synthetische Strings und Brass bei und koproduzierte. Let’s swing! (*7)
04 The Watcher (7:20)
Düstere Keyboards erfüllen den Raum, xylophonartige Klänge durchbrechen sie, endlich ein hörbarer Bass. Ehe an Peter Gabriel zu denken ist, beginnt es mit einem Bluesakkord zu rocken. Hey, ist Amanda Deep Purple Fan? Ein Gitarrensolo lässt an Marillions Brave oder Clutching At Straws denken. Man erwartet Fish zu hören, aber es ist Amanda, die diesem Stück zwischen Prog, Metall und Westcoast liegend, mit ihrem variablen Gesang den Stempel aufdrückt. Gesanglich begleitet wird sie eher unauffällig von Paul Johnson. Neben Tinkerbell für den Rezensenten das Highlight des Albums.
05 Memory Lane (4:52)
Das schon im letzten Jahr als Video veröffentlichte Stück widmet Amanda ihrer an Demenz erkrankten Mutter. Ein sehnsuchtsvoller Gesang, akustische Gitarre und synthetische Strings, sowie ein gefühlvolles Sax-Solo zeichnen das getragene Folkpopstück aus. Die späten Clannad, oder Enya lassen grüßen. Roger King steuerte die Keyboards und die Coproduktion bei.
06 Forever Days (5:25)
Ein Gitarrensolo rockt, begleitet von einer Orgel, um dann das Tempo tragender werden zu lassen. Ein Auf-und-Ab der Stimmungen erfüllt die Prog-Pop-Metall-Nummer. Das Stück scheint unbeschwerte Jugendtage, erfüllt von Motorradausflügen, Tanz und Lachen, zu beschwören. Steve Hackett lässt ein krachendes, metallenes Gitarrensolo erklingen, bevor es ruhiger, melancholischer wird. Amandas Gesang schwangt von hell zu dunkel. Wo sind die Tage, die sich ewig und unvergänglich anfühlen, geblieben?
07 We Are One (4:56)
Eine wunderschöne Ballade, die etwas an Pink Floyds High Hopes erinnernt. Sie erzählt mit herzzerreißendem Gesang, begleitet von sanften Klavierakkorden, vom Kreislauf des Lebens, von Jugend und Alter, dem Zusammenhang allen Seins. In dem Stück liegt die Intention des Albums: Die Darstellung der Lebensreise von uns Menschen, die Drehungen und Wendungen, die Hoffnungen und Träume, kurz: unsere Erfahrungen zwischen Unschuld und Illusionen. Eine frühere Version gibt es auf dem Harmony For Elephants Album. (*8)
08 Childhood Illusions (4:50)
Meine Güte, schon wieder bringt uns die Zeitmaschine in die Goldenen Zwanziger: Bluesig, swinglastig, sentimental in einen Slowfox übergehend, singt Amanda im Stil der Diven dieser Zeit. Ein kongeniales Alt-Sax-Solo von Rob Townsend veredelt dieses Kleinod. Der Refrain nimmt den Titel des Albums auf:
Innocence and Illusion
Childhood delusions
The man in the moon still follows me home
09 Where The Small Things Go (1:43)
In einer Art Reprise musizieren Amanda und Steve Hackett, der das Stück mitkomponiert hat, mit Gesang und akustischer Gitarre. Herrlich, Amandas Gesang im Duett mit Steves Nylon. Das wunderschöne Einschlaflied beschließt leise säuselnd eine aufregende Reise in die Wirrnisse des Lebens.
Zusammenfassung
Innocence and Illusion ist eine beeindruckende Sammlung musikalischer Perlen, die irgendwo zwischen Prog, Blues, Jazz, Metall, Folk, Swing und Pop liegen. Wie die kleine Tinkerbell zaubert Amanda Lehmann Lieder aus dem Hut, die den Hörer, die Hörerin in ihren Bann ziehen. Die Songs beschreiben Erfahrungen, die wir Menschen im Leben machen. Sie umspannen die Zeit von der Kindheit bis ins Alter.
Amanda schlüpft mit ihrem variantenreichen Gesang spielend in jede Rolle. Sie beeindruckt mit ihrer Stimme, die an Sally Oldfield, Joni Mitchell, Kate Bush, Tracy Hitchings, Moya Brennan und Maggie Reilly (um nur einige zu nennen) erinnert. Ihr solides Gitarrenspiel ist vor allem von Steve Hackett und Steve Rothery beeinflusst. Ihre Kompositionen erschaffen die Musik nicht neu, aber sie verleihen den zitierten Stilen einen femininen Touch, gewinnen ihnen eine neue Spielart ab und machen mit einer unglaublichen Spielfreude Spaß. Lediglich das Fehlen einer „echten“ Rythmussektion ist ein kleiner Wehrmutstropfen. Sie hätte für noch mehr Druck sorgen können.
Der Rezensent wünscht sich eine Tour, um die Lieder mit livehaftiger Dynamik in die Welt zu tragen. Sie haben viele Hörer und Hörerinnen verdient. Ja, Amanda Lehmann kann, wie sie selbst sagt, stolz auf ihr Album sein.
Die schauspielerische Herangehensweise an die Erkundung des Charakters, vom Kind zur Frau und wieder zurück, macht Amanda zur Anführerin ihrer eigenen Fantasien, die viel über den Zustand des Menschen zu sagen hat, und fügt der Kraft des Rock einen Hauch von Chanson und einen Hauch von magischem Realismus hinzu. Wir entdecken ein wahres musikalisches Chamäleon (*9)
Diesen Worten Steve Hacketts möchte ich noch eines hinzufügen: Liebe Musikfans, geht auf Entdeckungsreise in die Welt des musikalischen Chamäleons! Ihr werdet auf dem Weg be oder verzaubert.
Innocence And Illusion ist in Deutschland nur bei JustForKicks erhältlich. Amandas Facebook-Seite findet ihr hier.
Anmerkungen:
1. Vor allem bei Shadow of the Hierophant, z. B. hier
2. Out of the Tunnels Mouth 2009, Beyond the Shrouded Horizon 2011, Genesis Revisited II2012, Wolflight 2015, The Night Siren 2017, At the Edge of Light 2019, Surrender of Silence 2021
3. Shadow
4. Memory Lane
5. Siehe hier
6. Eine sehr empfehlenswerte Fantasysaga. Siehe hier
7. Eine Live-Version ist hier zu sehen
8. Siehe hier
9. Zitiert nach dem Promotiontext zur Veröffentlichung des Albums.
Autor: Thomas Jesse