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URBAN RENEWAL feat. The Songs of Phil Collins – Rezension
2001: Die R&B-Szene zollt Phil Collins Tribut. Wir blicken zurück auf das Album Urban Renewal, das doch sehr weit weg war von der Komfortzone eines Fans von Genesis oder Phil Collins.
Vorbemerkung
Das erste Urteil:
Als Urban Renewal im Jahre 2001 erschien, habe ich das Album relativ schnell gedanklich unter „überflüssig“ und „nervig“ abgehakt. Ohne es mir überhaupt komplett anzuhören. Natürlich nahm ich die beiden ausgekoppelten Singles zur Kenntnis, Another Day In Paradise von Brandy und ihrem Bruder Ray J, sowie In The Air Tonite (schon über die bemüht coole Schreibweise konnte ich mich damals herrlich aufregen) von Lil‘ Kim feat. Phil Collins (by the way kein „echter“ Collins, sondern ein Sample aus seinem alten Hit). Beide Singles konnte man kaum überhören, waren sie doch gerade in Deutschland ziemlich erfolgreich. Die Neuauflage von In the Air Tonight schaffte es bis auf Platz 3, während Brandy und ihr Bruder sogar noch einen Platz höher die Charts stürmten.
Aber wie gesagt, das war trotz meiner großen Leidenschaft für Collins nichts, was mich interessierte. Es bestätigte eher mein Vorurteil, dass Rapper und Musiker aus der HipHop-Community keine eigenen musikalischen Ideen von Substanz haben und daher dreist und unoriginell Melodien und Hooks aus guten Popsongs klauen müssen, damit sie ihr nerviges Gerappe halbwegs brauchbar vermarkten können. Höhepunkt (bzw. Tiefpunkt) dieses aus meiner damaligen Sicht „kreativlosen Musikmissbrauchs“ war übrigens I’ll Be Missing You von Puff Daddy. Oh Mann, wie ich das Stück gehasst habe!
Die zweite Chance:
Aber die Zeit vergeht, und man wird älter und vielleicht auch ein bisschen altersmilde. Im März 2022 beendet Phil Collins (vermutlich nun auch endgültig) seine große Karriere als Musiker. Anlass für mich, sein Werk noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Meiste stand zwar schon im CD-Regal, doch dann kaufte ich das Plays Well With Others CD-Set und erweiterte so meinen Blick auf das unglaublich vielseitige Netzwerk des Schlagzeugers Phil Collins. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr Phil von Kolleginnen und Kollegen unterschiedlichster Genres und Herkunft als Musiker geschätzt wurde und wird.
Irgendwann war ich dann wieder einmal bei Andrä in Dortmund (meinem Lieblingsladen für Second Hand Medien) und stöberte aus Gewohnheit im CD-Fach von Phil Collins. Das Big Band-Album hätte ich gerne mitgenommen, war aber nicht da. Statt dessen stand da die Urban Renewal. Und erstmals wurde meine Antipathie von einer gewissen Neugier überlagert. Du kennst dieses Album im Grunde gar nicht, dachte ich. Der nächste Gedanke war: Du solltest dir die Zeit nehmen und schauen, ob dein Urteil von damals angemessen war. Und schließlich: Wenn du dem selbst gesetzten Anspruch, das Werk des Meisters möglichst vollständig zu kennen, gerecht werden willst, musst du auch diese CD mal hören. Also nutze diese Chance!
Und da man einem gebrauchten Gaul auch nicht zu viel ins Maul schauen muss, hab ich das bisschen Kleingeld investiert, und das Album gekauft. Ich will an dieser Stelle noch nicht zu viel spoilern, kann aber schon jetzt feststellen, dass ich meine frühere Meinung doch recht gründlich revidieren musste.
Konzept des Albums und Songauswahl:
Urban Renewal feat. the Songs of Phil Collins, so der vollständige Titel des Albums, ist ein Tribute-Album mit zwei wesentlichen Ansätzen:
Erstens:
Es geht hier um die Würdigung des Sängers und Songwriters Phil Collins. Der Schlagzeuger Phil Collins und die durch ihn selbst vor kurzem in der Drumeo-Doku vorgenommene Akzentuierung („I am more of a drummer who sings a bit“) treten hier also in den Hintergrund. Die Songauswahl umfasst folgerichtig auch nur Songs, die Phil selbst geschrieben (oder in zwei Fällen als Co-Autor mitgeschrieben) hat. Weiterhin beschränkt man sich hier auf Songs des Solokünstlers Collins. Genesis bleiben außen vor (wobei Misunderstanding durchaus in die Songsammlung gepasst hätte…).
Der Schwerpunkt liegt weiterhin ganz klar auf erfolgreichen Singles (mit Schwerpunkt auf den Megasellern No Jacket Required und …But Seriously). Mit All Of My Life und Can’t Turn Back The Years reihen sich immerhin zwei „Deep Cuts“ aus dem Collins-Ouevre in die Tracklist ein. Can’t Turn Back The Years ist dabei auch der neueste Song, d. h. alles nach 1993 wird hier außer Acht gelassen. Vermisst man also etwas? Hinsichtlich Songwriting-Qualität und Bekanntheitsgrad eventuell You’ll Be In My Heart. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass diese Nummer mit Blick auf das Releasejahr des Tribute Albums (2001) fast gerade erst erschienen war. Insofern ist die Tracklist insgesamt schon eine runde Sache.
Zweitens:
Es kommen alle teilnehmenden Musikerinnen und Musiker aus einer bestimmten Musikrichtung, die hier als „urban“ beschrieben, aber mit Begriffen wie „R & B“ oder „Black Music“ ebenso treffend gelabelt werden kann. Dementsprechend haben wir es hier (mit einer kleinen Ausnahme) auch nur mit schwarzen Künstlern zu tun, die Phils Songs interpretieren. Als mit R & B verwandtes Musikgenre werden teilweise auch Stilmittel von Rap/HipHop verwendet. Man kann hier also durchaus von einem Coveralbum sprechen, denn diese Künstlerinnen und Künstler covern Phils Songs. Was dann aber unter Covern verstanden wird, ist so vielschichtig, dass ich darauf noch einmal später zu sprechen kommen werde. Zunächst ist die Klärung einer anderen Frage wesentlich.
Phil Collins und Black Music:
Wie kommt es, dass ausgerechnet schwarze Musiker dem Sänger und Songwriter Phil Collins Tribut zollen? Der scheinbare Widerspruch, den diese Frage aufwirft, lässt sich relativ schnell auflösen. Von allen Mitgliedern des klassischen Genesis-Lineups ist Phil am wenigsten durch das geprägt, was in seiner extremen Ausprägung durch das Charterhouse Internat repräsentiert wird, wo die englische weiße Oberschicht nach konservativen und traditionellen Maßstäben erzogen wurde. Phil hatte schon früh die Lockerheit, die Tony, Mike, Steve und auch Peter weitgehend fehlte. Und er hat einen musikalischen Ansatz, der im Gegensatz zu den anderen viel direkter, spontaner und „aus dem Bauch heraus“ kommt. Dies betrifft sowohl seine Texte, als auch seine Kompositionen (bestimmte Drumarrangements einmal ausgenommen), die deutlich einfacher und nicht so komplex, intellektuell und „verkopft“ sind wie Vieles seiner Kollegen.
„… es war … erstaunlich, wie schwierig es doch war, obskure Genesis-Texte zu singen. Ich bin ein direkter, emotionaler Komponist und Sänger. Ich singe: I love you and I miss you and I want you, ganz egal was es ist“ (Phil Collins, Come Rain Or Shine-Doku)
Diese Einfachheit, die vielen Progfans oft ein Dorn im Auge ist (weil sie es fälschlicherweise mit „niveaulos“ gleichsetzen), findet nun andererseits großen Gefallen bei Musikerinnen und Musikern, die ihrerseits Musik nicht zuallererst mit dem Kopf denken, sondern sich vom Gefühl und ihrer „musikalischen Seele“ leiten lassen. Soul-Musik als Bestandteil von Black Music und handgemachter Vorläufer von modernem R & B harmoniert somit ziemlich prächtig mit dem, was Phil musikalisch ausdrücken will.
Aber die Beziehungen zwischen Collins und schwarzer Musik sind deutlich vielfältiger und klar belegbar. Es ist sicher kein Zufall, dass Phil mit Chester Thompson einen schwarzen Jazzrockdrummer zu Genesis holte, als er zum Frontmann wurde. Er suchte nicht den besten Techniker, sondern jemandem mit dem richtigen Feeling. Und als er im Studio Follow You, Follow Me einspielte, tat er dies nach eigener Aussage, indem er sich vorstellte, wie Chester den Part getrommelt hätte (vgl. Chapter & Verse, S. 227).
Collins‘ nachhaltigste musikalische Prägung war nicht weiß, sondern schwarz. Es war der Sound und das Songwriting von Motown, der/das seine Solokarriere weiter in Schwung brachte (You Can’t Hurry Love), zusammen mit Lamont Dozier für Buster später wiederbelebt wurde, und dem er zum Ende seiner Karriere als Recording Artist mit Going Back ein fulminantes Denkmal setzte.
Und es war vor allem sein Albumdebüt Face Value, das eben in weiten Teilen auch eine Liebeserklärung an schwarze Musik und Musiker war. Die Kommentare der Beteiligten bestätigen dies: „Face Value is a record that has a lot of black influence. … His (Phils) feelings and his soul are expressed in terms very much influenced by black American music“ (Ahmet Ertegun) „Alphonso Johnson was one of my heroes from Weather Report“ (Phil Collins)
„This track (I missed again), it had that real Earth, Wind and Fire quality to it“ (Alphonso Johnson) Nicht zu vergessen, dass Collins mit dieser Verschmelzung von weißer und schwarzer Musik eine Art Pionier war. „White guy with a black horn section? That’s not right. … They should all be black. Or all be white“ (Hugh Padgham)
„We in the horn section didn’t know who Phil Collins was. … He’d played with Genesis, which meant nothing to us“ (Tom Tom Washington*) *alle Kommentare von Classic Albums: Face Value DVD
Zeit seines musikalischen Lebens war Phil Collins jemand, der nachhaltig von schwarzer Musik geprägt wurde, und der im Gegenzug auch schwarze Musikerinnen und Musiker prägte. Diese Prägung fand nicht nur Ausdruck in seiner Arbeit als Produzent und Schlagzeuger für z.B. Philipp Bailey, die Four Tops oder Chaka Kahn, sondern eben auch als Vorbild für eine ganze Generation schwarzer Sängerinnen/Sänger, die in den Achtzigern mit seinen Hits aufwuchsen und sich mit seinem Songwriting und seiner Art, zu singen, sozusagen seelenverwandt fühlten.
Die Bandbreite des Coverns: Urban Renewal ist als Coveralbum eines, das dem Hörer bewusst macht, wie vielfältig man den Ansatz des Coverns von Songs ausgestalten kann. Collins selbst war bei seinen Motown-Covern immer maximal nah am Original. Auf Urban Renewal gibt es keinen einzigen Titel, der einem Original von Phil derart ähnlich ist. Es gibt Stücke mit kleinen Änderungen, die man relativ schnell zuordnen kann. Aber eben auch solche, die so eigenständig oder „entstellt“ anmuten, dass sie manchmal kaum zu identifizieren sind. Die Mischung zwischen „ziemlich originalgetreu gecovert“ und „komplett neu arrangiert und erfunden“ ist aber gut ausbalanciert. Sprich: Es gibt ausreichend Neues zu entdecken. Aber es finden sich immer noch genug vertraute Melodien, die das Ganze als Tribut für Collins erkennbar machen.
Beteiligte Künstler
Wenn man sich die Liste der beteiligten Künstlerinnen und Künstler anschaut, muss man objektiv sagen, dass es nicht die allererste Liga des R & B ist, die sich dort versammelt hat. Etliche der zum Entstehungszeitpunkt angesagtesten Stars wie Whitney Houston, Usher, R. Kelly, Toni Braxton, Puff Daddy, Boyz 2 Men, Mary J Blige oder Jay-Z fehlen. Die Karrieren von Beyoncé (als Solokünstlerin) und Alicia Keys standen noch bevor. Einzig Mariah Careys Abwesenheit darf als entschuldigt gelten. Sie hatte ja erst im Jahr 2000 Phil mit einem Cover von Against All Odds gewürdigt.
Nichtsdestotrotz vereint Urban Renewal neben hierzulande eher unbekannten Namen wie Deborah Cox, Malik Pendleton, Joe, Debelah Morgan, Changing Faces oder Terence Quaites auch einige Gesichter aus den Charts. Da ist allen voran natürlich Brandy zu nennen, deren Song (zusammen mit Monica) THE BOY IS MINE 1998 auch in Deutschland ein Hit war. Montell Jordans Nr. 1-Hit THIS IS HOW WE DO IT (von 1993) könnte man auch noch im Ohr haben. Ebenso Brian McKnights BACK AT ONE (1999, trotz des Titels „nur“ eine Nr. 2). Ol‘ Dirty Bastard war 1998 am Bee Gees Recycling GHETTO SUPERSTAR beteiligt, während Lil‘ Kim an der Wiederaufbereitung von LADY MARMALADE (2001) mitwirkte.
Coko sang den Refrain von Will Smiths MEN IN BLACK (1997, wobei das Original von Patrice Rushen um Längen besser ist). Kelis war zum Zeitpunkt von Urban Renewal noch kein Star, servierte aber zwei Jahre später ihren ungeheuer nervigen MILKSHAKE. Alles in allem also genug Prominenz für ein nicht nur für Collins-, sondern auch Genre-Fans interessantes Tribute-Album. Und das sei auch für die etwas unbekannteren Namen eindeutig festgestellt: Das ist kein Laienensemble, denn singen bzw. rappen können die alle!
Tracklisting:
Ray J Prelude (Ray J)
Another Day In Paradise (Brandy & Ray J)
Sussudio (Ol‘ Dirty Bastard)
Something Happened On The Way To Heaven (Deborah Cox)
This Must Be Love (Dane Bowers from Another Level feat. Kelis)
In The Air Tonite (Lil‘ Kim feat. Phil Collins)
Gotta Hold Over Me (Easy Lover) (Coko)
I Don’t Care Anymore (Kelis)
Can’t Turn Back The Years (Joe)
Do You Remember (Debelah Morgan)
Against All Odds (Montell Jordan)
One More Night (Changing Faces)
All Of My Life (TQ)
I Wish It Would Rain Down (Brian McKnight)
Take Me Home (Malik Pendleton)
URBAN RENEWAL – Track by track
Ray J Prelude (Ray J):
Das Album beginnt mit einem ca. 40 Sekunden langen Vorspiel, in dem der darauffolgende Song vorweggenommen wird. Zu einem dronenartigen Keyboardton hören wir echoartig einen kurzen Ausschnitt vom Chorus von Another Day In Paradise. Als atmosphärische Einstimmung durchaus gelungen.
Another Day In Paradise (Brandy and Ray J)
Der erste Song des Albums ist in Tempo, Aufbau, Harmonik und Melodik fast eine 1:1 Kopie des Collins Originals. Änderungen bestehen lediglich im Wegfall des Intros und einer leicht transponierten Tonart (ein Halbton höher im Vergleich zum Original). Brandy singt die erste Strophe, ihr Bruder Ray J die zweite, die dritte teilen sich beide. Auch wenn beide Phils Gesang nicht punktgenau imitieren, sondern hin und wieder auf eine für R & B typische Art phrasieren, bleiben sie stets nah beim Original. Das Arrangement setzt auf für den Musikstil typische Beats, Bass und (synthetisch klingende) Gitarrensounds. Da hier die Veränderungen eher auf der Soundebene liegen, und die Songsubstanz nicht angetastet wird, ist das ein guter Einstieg ins Album, der Collins-Fans und R & B-Freunde gleichermaßen abholt.
Sussudio (Ol‘ Dirty Bastard)
Und schon wird es experimenteller. Von Phils Sussudio leiht sich Ol‘ Dirty Bastard (Mitglied des Wu-Tang Clans) lediglich den Chorus aus, welcher hier von einer Frau gesungen wird. Dazwischen serviert uns Bastard konventionelle Rap-Parts und nach dem zweiten Chorus ein bisschen Vocoder-Gesang. Strophe und Refrain laufen über dieselben Grundharmonien (a-e-d-e), was dem Ganzen ein leicht bluesiges Feeling gibt. Ansonsten ist diese Version deutlich langsamer als Phils (100 statt 121 bpm), was den HipHop Charakter betont. Ob Sussudio hier ein Mann ist? Jedenfalls wird das „she“ im Chorus zu „he“ verändert. Alles in allem ist diese Fassung recht weit weg vom Original und für den klassischen Phil-Fan sicher eine Herausforderung.
Something Happened On The Way To Heaven (Deborah Cox)
Deborah Cox traut sich, bei ihrer Version von Something Happened On The Way To Heaven ein paar wesentliche Dinge zu verändern. Zunächst einmal ist ihr Song viel langsamer (60 gegenüber 115 bpm), was gefühlt als „Halftime“ wahrgenommen wird. Dann garniert sie die recht originalgetreue Melodie im Gegensatz zu Phil vorrangig mit Begleitakkorden in Moll. Wo bei Phil ein eher nachdenklicher Text mit viel musikalischem Dur und Uptempo kontrastiert wird (was mir auch gut gefällt), bilden bei Cox Text, Tempo und Harmonik viel mehr eine Einheit. Sie hat diesen Song nun eindeutig als melancholisch positioniert, was eine plausible und kreativ interessante Entscheidung ist. Weiterhin spendiert sie dem Ganzen ein eigenes Intro und verzichtet auf die textlich (redundante) dritte Strophe des Originals.
This Must Be Love (Dane Bowers from Another Level feat. Kelis)
Dane Bowers (übrigens die einzige weiße Stimme im schwarzen Tribute Ensemble) von der englischen Boyband Another Level wird hier noch von Kelis unterstützt. Das Cover ist leicht schneller (3 bpm mehr) als die Version von Collins und weitgehend (Tonart, Melodie, Harmonie) mit dieser identisch. Der Text ist bis zur 3. Strophe originalgetreu, die dann fehlt und zum Schluss durch eigene Variationen zur Titelzeile ersetzt wird. Größte Änderung ist hier eine rhythmische: Während das Original von Collins ternär (also an einen Shuffle oder Swing angelehnt) ist, ist diese Coverversionen binär.
Kleiner Exkurs: Wer ein Gefühl für die Unterscheidung von binären und ternären Rhythmen bekommen möchte, kann mal Collins‘ I Missed Again (binär) mit dem ursprünglichen Demo des Songs (ternär) vergleichen. Auch der Song Willow Farm von Genesis wechselt zwischen ternärem (Anfang und Ende) und binärem (Mitte) Rhythmus.
In The Air Tonite (Lil‘ Kim feat. Phil Collins)
Das Besondere an diesem Song ist, dass er der einzige auf dem Album ist, der ausgiebig Samples des Originals verwendet. Gleich am Anfang hören wir Daryls Gitarre und die berühmte Drummaschine. Folglich ist hier auch die Stimme von Phil zu hören, denn sein Gesang trägt dieses Stück ganz maßgeblich. Verwendet werden der Chorus und die komplette erste Strophe. Die zweite Strophe („Well I remember“) wird hingegen nur kurz angerissen. Tempo und Tonart der Samples entsprechen der Version von 1981. Zwischen die zahlreichen Klang- und Melodiezitate von Collins (auch der ikonische Drumbreak darf hier nicht fehlen) hat Lil‘ Kim nun eigene Rapparts eingebaut, die sich – so weit ich das verfolgen konnte und wollte – ziemlich klischeehaft an den für Gangsterrap typischen Themen abarbeiten, also Geld, Gewalt, Ruhm und dem Dissen von Kollegen. Diese Rapparts sind mit typischen Beats unterlegt.
Das ist textlich und klanglich teilweise weit weg von der Komfortzone für Collins-Hörer. Ist es deshalb nun eher nervig oder doch gerade interessant? Das soll jeder für sich entscheiden. Anerkennen muss man, dass Lil‘ Kim dem Collins-Klassiker eine neue Generation und Zielgruppe erschlossen hat. Collins sieht das wohl ähnlich positiv. Er wählte den Song für seine Plays Well With Others Compilation aus.
Gotta Hold Over Me (Easy Lover) (Coko)
Kommen wir zum ungewöhnlichsten Song des gesamten Albums. Gotta Hold Over Me (Easy Lover), gesungen von Coko, ist – wie schon der Titel andeutet – im Prinzip ein völlig eigenständiger R&B-Song in chilligem Tempo. Er ist auch der einzige Titel, bei dem neben Collins (und in diesem Fall Greg Phillinganes und Nathan East) zusätzlich zu den Originalautoren weitere Songwriter genannt werden. Was völlig in Ordnung geht, da Dove Daniels und Olivia Pam hier von Collins unabhängig komponiert und getextet haben.
Niemand, der dieses Stück im Radio hört, würde auf die Idee kommen, dass es sich hierbei um ein Cover von Easy Lover handeln soll, selbst wenn der Songtitel zitiert wird. Aber irgendwer muss Coko dann doch gebeten haben, einen hörbaren Bezug zum Original einzubauen, und so hören wir ab 2:27 für 15 Sekunden, wie jemand einmalig den Chorus von damals singt. Dennoch kann man einen Song wohl nicht viel weiter entfernt covern als hier geschehen. Ob man das mag, muss jeder selbst herausfinden.
I Don’t Care Anymore (Kelis)
Das Original von Collins ist einer seiner emotional überzeugendsten Darbietungen, angesiedelt irgendwo zwischen enttäuschter Selbstreflexion und Wutausbruch. Das Cover von Kelis steht dem in nichts nach. Es wirkt durch eine signifikante Tempoverschärfung (96 gegenüber 70 bpm) sogar noch eine Spur ruheloser und aggressiver. Melodisch orientiert sich Kelis überwiegend bei Phil. Auch der Text wird prinzipiell übernommen. Harmonien gibt es anfangs kaum, statt dessen treibt ein repetitives Pattern aus Beats und Keyboard den Song vorwärts.
Die Bridge ist dann auch harmonisch nah bei Collins und beruhigt das Stück ein wenig. Doch das ist nur die Ruhe vor dem Sturm, denn nun folgt eine eigene Kreation der Dame, ein geshouteter Teil („Do you care?“), auf den eine Background Gang mit „Hell no!“ antwortet. Ziemlich eigenwillig, aber doch absolut passend zum Song. Am Ende gibt es dann noch eine kleine Textvariation („We don’t care anymore“). Alles in allem eine interessante und mit Blick auf den Wutlevel Collins‘ ebenbürtige Coverversion.
Can’t Turn Back The Years (Joe)
Joes Cover von Can’t Turn Back The Years dürfte nicht nur Collins-Fans, sondern auch Collins selbst gefallen, schließlich ist dieser Song einer seiner Favoriten. Dabei ändert Joe hier im Vergleich zum Original so gut wie nichts, aber er singt wirklich gut, und auch das instrumentale Arrangement ist geschmackvoll. Positiv hervorheben möchte ich, dass das „Quietschekeyboard“ des Originals hier durch ein Saxophon ersetzt wird, wodurch die Melodie sehr gefühlvoll zur Geltung kommt. So wird das, was bei Collins stets wie ein Demo klingt, hier zu einem vollwertigeren Arrangement. Ob diese klangliche Lösung letztlich besser ist, bleibt aber wohl Geschmacksache.
Do You Remember (Debelah Morgan)
Auch Debelah Morgan covert sehr nah am Original. Sie übernimmt von Collins Text, Melodie (hier für ihre Stimmlage transponiert), Harmonik und Tempo. Sie gönnt ihren Phrasierungen aber einige Schnörkel, was ihre tolle Stimme gut zur Geltung bringt. Schön sind hier auch die mehrstimmigen Passagen. Ansonsten ist das Arrangement genretypisch mit Beats und ein paar Sprachsamples („Put your hands up“) ausdekoriert und recht spartanisch.
Against All Odds (Montell Jordan)
Montell Jordan wird die Ehre zuteil, einen der größten Collins-Klassiker zu interpretieren. Keine einfache Übung, denn besser machen kann er es kaum, und zu viel Änderung wäre auch nicht gut. Er bleibt in Sachen Tempo, Melodie und Harmonien sehr nah beim Original. Auch der Text wird quasi 1:1 übernommen. Statt des Klavierintros beginnt das Stück hier mit einem getragenen Chorgesang, bevor dann mit der ersten Strophe auch die Beats einsetzen. Das ist vielleicht der größte Unterschied zu Collins, bei dem die erste Songhälfte komplett ohne Drums auskommt. Somit muss Jordan auf den dynamischen Aha-Effekt des einsetzenden Schlagzeugs verzichten. Statt dessen setzt er auf gleichbleibende R & B typische Sounds. Als kleine Steigerung taucht im letzten Chorus dann wieder der (hier sehr gospelig-schöne) Chor auf. Das Outro wird im Gegensatz zu Collins etwas ausgedehnt. Insgesamt eine eher unauffällige Coverversion, aber gut gesungen.
One More Night (Changing Faces)
Changing Faces, das sind Cassandra Lucas und Charisse Rose. Die beiden setzen bei ihrem Cover von ONE MORE NIGHT auf einen interessanten Ansatz. Verändert wird eigentlich nur ein Parameter, nämlich die Harmonik. Alle anderen (Melodie, Tempo, Aufbau und Text) werden beibehalten. Bei den Begleitakkorden gönnt man sich hingegen viel Freiheit und verleiht ihnen sehr jazzige Noten. Das Resultat ist eine wiedererkennbare Phil-Ballade, die aber nicht so „süßlich“ klingt wie das Original, sondern irgendwie spannender. Wem dieser Song von Collins stets zu schmalzig war, der könnte diese Version mal antesten. Allerdings fehlt das formidable Saxophonsolo. Ansonsten klingt das Arrangement (R & B typische Beats statt Collins‘ kultigem Drumcomputer) relativ unauffällig genregerecht.
All Of My Life (TQ=Terence Quaites)
Tempo, Tonart, Melodie und Harmonik werden von TQ bei dieser Version vom Original übernommen. Was hier positiv auffällt, ist das Arrangement, in dem Gitarren neben genretypischen Beats die Hauptrolle übernehmen. Zunächst fungieren diese locker schrammelnd als akustische Begleitung. Aber dort, wo bei Collins das Saxophonsolo kommt, hören wir dann tatsächlich ein verzerrtes Gitarrensolo. Unerwartet, aber durchaus effektvoll. Eine kleine textliche Änderung hat man sich hier am Ende gegönnt. Aus „Playing records upstairs while he watched TV“ wird 2001 „Playstation upstairs while he watched TV“. Dort wo sich früher Schallplatten drehten, wird nun also das Joypad traktiert. Netter Einfall.
I Wish It Would Rain Down (Brian McKnight)
Brian McKnight schafft mit seiner Version von I Wish It Would Rain Down eine gute Balance aus Bewahren und Verändern. Der Text von Collins wird übernommen, das Tempo hingegen ordentlich gesteigert (87 gegenüber 63 bpm). Die eher klaren Harmonien von Collins verjazzt er ordentlich, und auch der ziemlich straighte Rhythmus wird von ihm „beunruhigt“. Bei der Melodie beginnt er in der Strophe zunächst sehr nah bei Phil. Dann entfernt er sich im Chorus hörbar von ihm und kreiert schließlich eine Bridge, die kaum noch zu erkennen ist. Die letzte Strophe singt er dann über die Begleitung des Chorus. Für Claptons brillante Leadgitarre gibt es hier allerdings kein Gegenstück. Insgesamt ist das eine achtbare Interpretation, die einiges wagt und dennoch als Cover erkennbar bleibt.
Take Me Home (Malik Pendleton):
Take Me Home war in Collins‘ eigener Setlist häufig das Schlussstück. Es also ans Ende dieses Albums zu setzen, macht durchaus Sinn. Malik Pendletons Version ist gegenüber dem Original etwas langsamer (112 bpm gegenüber 120 bpm) und einen Halbton nach unten transponiert. In der Melodie lehnt er sich anfangs stark an Collins an, erlaubt sich aber im Verlauf auch Freiheiten. Die verwendeten Harmonien sind jazziger als bei Collins. Tempo, Harmonik und das minimalistisch gehaltene Arrangement (die für Collins typische dynamische Steigerung durch das einsetzende Schlagzeug entfällt hier) sorgen insgesamt für ein chilliges Clubjazzfeeling. Der Chorus (schöne Backingvocals!) ist bis auf die „prisoner“-Zeile wieder nah bei Collins.
Die größte Änderung im Song besteht im Verzicht auf die komplette dritte Strophe. Statt dessen lädt uns Malik auf eine Tour in die eigene Heimat ein („l’ma tell you what home is to me“). Dazu zählt für ihn das typische Südstaatenessen im Haus von Großmutter Lily, der Besuch einer alte Kirche, das Füße-hoch-Legen und die Erinnerung an die Mutter, die ihn manchmal mit der Rute vertrimmte. Dadurch macht sich Pendleton den Song auf eine liebenswerte und authentische Art zu eigen und sorgt für ein schönes Albumfinale.
Fazit
Ich muss hier vorwegschicken, dass ich weder ein ausgewiesener Kenner der schwarzen Musikszene, noch ein Riesenfan der Stilrichtung R & B bin. Und für mich als Collins-Fan bleiben die Originale ohnehin unerreicht, gerade auch mit Blick auf Phils einzigartige Stimme, sein herausragendes Drumming und die vielfach überzeugenden handgemachten Arrangements unter Beteiligung großartiger Studiomusiker (z.B. Daryl Stuermer, Leland Sklar, Pino Palladino, Dominic Miller und die fantastischen Bläser). Insgesamt muss ich aber anerkennen, dass ich Urban Renewal erstaunlich gut durchhören kann und dabei auch Spaß habe. Den hier beteiligten Musikerinnen und Musikern gelingt ein buntes und abwechslungsreiches Tribute-Album. Es ist ein erfolgreicher Transfer der Songs von Phil in die Klangwelten von modernem R & B und HipHop.
Hilfreich ist hierbei, dass nicht alles auf Nummer Sicher gecovert wird, sondern man teilweise sehr gezielt und effektiv an bestimmten Songparametern schraubt. Stimmlich zeigen die Damen und Herren allesamt ein tolles Potenzial. Die Leidenschaft, mit der man hier singt, macht deutlich, wie viel Soul in Phils (oft auch kritisierten) Texten steckt. Und es besteht für mich überhaupt kein Zweifel daran, dass alle, die hier mitwirken, Phil Collins als große Inspiration sehen und sich hier vor ihm verneigen.
Für Fans von Phil, die alles von ihm haben oder zu kennen glauben, kann Urban Renewal durchaus eine Bereicherung sein. Ich zumindest habe den Kauf nicht bereut. Das Betreten dieses mir nicht vertrauten musikalischen Terrains hat mir einige Wochen ziemlichen Spaß gemacht. Die CD wird sicher auch in Zukunft ab und zu in meinen Player wandern.
Das Schlusswort soll an dieser Stelle von Collins selbst kommen. „I am deeply flattered that these songs have transcended and crossed barriers that some assume are there not to be messed with“. (CD Booklet Urban Renewal)
Autor: Rainer Löser