- Artikel
- Lesezeit ca. 6 Minuten
Tony Levin – World Diary – Album Rezension
Erst im Jahr 1995 hat der langjährige Bassist von Peter Gabriel, Tony Levin, sein erstes Soloalbum veröffentlicht. Harald Köhncke teilt seine Eindrücke von World Diary.
Tony Levin ist das dienstälteste Mitglied aus Peter Gabriels Band, denn er war bereits bei dessen erster Platte dabei und ist es noch immer.
Geboren wurde Levin 1946 in den USA, wo er auch heute noch lebt. Er studierte an der Eastman School of Music in Rochester und war 1968 erstmalig an Plattenaufnahmen beteiligt, deren Gesamtzahl inzwischen die 500 deutlich übersteigt. Anfangs spielte er hauptsächlich Jazz mit seinem akustischen und elektrischen Bass, im Laufe der 1970er Jahre wurde er dann vermehrt auch für Pop, Folk und Rock gebucht. Zu Peter Gabriel kam er über Producer Bob Ezrin, der ihn von Aufnahmen mit Alice Cooper kannte. Seit den 80ern ist er auch immer wieder mit dem Chapman Stick zu hören, gelegentlich auch mal an Keyboards (z.B. live bei Peter Gabriel), Cello, Gesang oder Tuba.
Bekannt ist Tony Levin außerdem als Mitglied von King Crimson (seit 1980 mit Unterbrechung bis heute) und durch seine eigene Gruppe Stick Men (seit 2009).
World Diary ist – kaum zu glauben – das erste Soloalbum von Tony Levin und wurde zunächst auf seinem eigenem Label Papa Bear Records veröffentlicht. Zwei Jahre zuvor gab es bereits seinen ersten als Solokünstler veröffentlichten Song Lone Bear auf Plus From Us (der Ergänzungskompilation zu Peter Gabriels Album US) zu hören. Dieser Song ist auf World Diary nicht enthalten.
Wenn man so will, handelt es sich bei World Diary um ein Konzeptalbum und das Konzept steckt schon im Namen. Es versammelt Songs, die Levin größtenteils auf Tour „überall“ in der Welt aufgenommen hat, teilweise sogar in Hotelzimmern. Die Aufnahmequalität ist trotzdem gut, gewinnt durch dieses Vorgehen sogar eher an Wärme. Unterstützt wurde er von wenigen befreundeten Musikern, von denen einige dem Genre „Weltmusik“ zuzuordnen sind.
Außerdem ist es Tony Levins Hobby, auf seinen Touren sowohl zahlreiche Fotos zu schießen als auch Tagebuch zu schreiben. Beides ist seit vielen Jahren öffentlich: die Fotos in inzwischen zwei Bildbänden und die Tourtagebücher auf seiner Website.
Bei den Aufnahmen zu World Diary gab es die Website noch nicht und so finden wir im Booklet nicht nur zahlreiche Fotos von „on the road“, sondern auch Auszüge aus Tagebuchaufzeichnungen (stilecht auf Hotelpapier geschrieben).
Damit wird vielleicht schon deutlich, dass dieses von mir so bezeichnete Konzeptalbum musikalisch eher ein Sammelsurium ist, das weder den modernsten Sound noch minutiös durchkomponierte Songs enthält. Vielmehr sind die Lieder spontan gespielt und/oder komponiert und teils improvisiert, manchmal auch nur kleine Vignetten. Meistens wird Levin von nur ein oder zwei Musikern begleitet, die auch als Mitkomponisten aufgeführt sind. Keiner der Musiker ist bei mehr als zwei der 13 Liedern dabei.
Das Album beginnt in Chasms hypnotisch und bedrohlich mit dem Duett aus einer sich immer wiederholenden Stick-Figur und der Violine von Shankar. Ein paar lautmalerische Vocals Shankars (vergleichbar denen, die man von Peter Gabriel kennt) sind auch mit dabei. Im Ergebnis hat das Ähnlichkeit mit Gabriels Soundtrack Passion, ist aber reduzierter.
Bei The Train musiziert Levin zusammen mit Ayub Ogada (kenianische Lyra und Gesang), welcher auch bei Us dabei war und leider Anfang diesen Jahres verstorben ist. Auch hier gibt es keinen Songtext. Das Ganze hört sich dann für westliche Ohren sehr traditionell afrikanisch an (was es tatsächlich nicht ist).
Im zweiten Teil der CD findet sich mit Nyatiti ein weiteres Stück aus der Zusammenarbeit, das wie auch das erste in den Real World Studios aufgenommen wurde und bei dem Levin zu einer repetitiven Lyra-Figur improvisiert.
Das nächste Stück We Stand In Sapphire Silence wird vom Stick und der zart gezupften Koto dominiert und hat etwas mehr Songstruktur. Im zweiten Teil darf Jerry Marotta japanische Perkussion beisteuern. Insgesamt ein angenehmer, ruhiger Song, den man sich gut als Soundtrack für eine Doku über Fernost vorstellen könnte.
Ganz am Ende der Platte ist ein weiterer Song mit Koto, The Sound Of Goodbye, diesmal aber ohne Perkussion. Für dieses Lied hatte Koto-Spieler Brian Yamakoshi laut Tagebuch im Booklet vorgeschlagen sehr langsam zu spielen. Das Ergebnis ist ein gefühlvoller, ruhiger Schluss, bei dem man träumen kann oder auch – je nach Aufmerksamkeit – sanft hinwegschlummert.
Smoke ist einer von zwei „Songs“ mit dem norwegischen Jazzsaxophonisten Bendik, der Ende der 80er kurze Zeit zusammen mit Levin in der Band Steps Ahead war. Der Song (und auch I Cry To The Dolphined Sea, s.u.) entstand, nachdem Bendik Levin bei dessen Besuch in Oslo nicht – wie erwartet – zu einsamen Fjorden führte, sondern mit ihm in der aufgrund der Olympischen Winterspiele überfüllten Hauptstadt blieb. In seinem Buch Beyond The Bass Clefberichtet Tony Levin, dass wir hier nur den Einstieg des Songs bekommen. Der Rest wurde dann bei Bruford Levin Upper Extremities weiter verwendet. Somit ist lediglich ein 50 sekündiger Soundscape zu hören.
Das zweite Stück I Cry To The Dolphined Sea hingegen hat eine normale Länge und wird durch zusätzliche Schlagzeugoverdubs von Jerry Marotta unterstützt. Das Saxophon ist nun der Anführer, die Gitarrensaiten des Chapman Stick folgen melodisch (auch mal wie ein Gitarrensynthesizer klingend) und die Basssaiten bilden den coolen, etwas unnahbaren Grundrhythmus.
Anschließend an Smoke gibt es mit Etude In The Key Of Guildford ein Zusammenspiel von Levin mit Bill Bruford an den elektronischen Drums. Der Song entstand (ebenso wie der zweite Jewels) bei Bill Bruford zuhause in… Guildford! Es ist genau das, was man sich vorstellt, wenn man an Brufords Drums und Levins Stickspiel denkt und erinnert somit durchaus an 80er King Crimson-Momente, ist aber ebenfalls kein durchkomponierter Song im eigentlichen Sinne.
Jewels scheint eine erweiterte Version von Evensong aus dem Yes-Album Union zu sein. Bei diesem Album spielte bekanntermaßen Tony Levin auf einigen Songs Bass, nämlich denjenigen, die zunächst zu einem weiteren Anderson Bruford Wakeman Howe Album werden sollten. Daran erkennen wir, dass manche von Levins Aufnahmen schon ein paar Jahre alt waren, denn Union erschien 1991. Von der Stimmung her wäre Jewels auch wieder ein Soundtrack-Kandidat und hat mit King Crimson nichts zu tun. Die elektronischen Drums erinnern an ein Glockenspiel und der melodische Stick könnte am Anfang und Ende fast ein verzerrtes Cello sein.
Espresso & The Bed Of Nails ist ebenfalls ein Stück ohne Weltmusiktouch, ändert aber in der Mitte abrupt seine Stimmung von klaustrophobisch zu crimsonesk. Levin spielt hier mit der kanadischen Perkussionsgruppe Nexus zusammen – mit einigen Mitgliedern davon hatte er die Musikhochschule besucht – und kreiert eines der spannendsten Stücke der CD. Laut Booklet allerdings in einer gekürzten Version. Mir ist nicht bekannt, dass die komplette Version irgendwo veröffentlicht worden wäre.
Aufnahme Nummer Zwei dieser Kollaboration kommt gegen Ende der CD und heißt Heat und ist mit sechseinhalb Minuten das längste Stück der Scheibe. Es wird dominiert vom Stick, der sehr abwechslungsreich zwischen einschmeichelnd, monoton und aggressiv pendelt. Die Perkussionisten bilden hier nur den Hintergrund und unterstützen Levin dabei, den komplexen Song stimmungsvoll darzubieten.
Doudouk-Spieler Levon Minassian ist bei Mingled Roots dabei, das King Crimson-Fans vielleicht von der Compilation Sometimes God Hides: The Young Person’s Guide To Discipline kennen. Dort ist allerdings nur eine gekürzte Version zu hören. Das Stück passt sehr gut zu den Worldmusic-Einflüssen der Gabrielschen US-Phase, auch wenn Levins Bass stellenweise sehr verzerrt ist.
La Tristesse Amoureuse De La Nuit bildet insofern einen Höhepunkt der CD, als dass hier neben Levon Minassian auch Manu Katche (Drums) zu hören ist. Das Ergebnis könnte so auch auf späteren Levin-Soloalben veröffentlicht sein: neben einem durch die Flöte etwas orientalischen Feeling hört man ziemlich abgefahrene Bass- und Schlagzeugimprovisationen mit leichter Jazzschlagseite. Somit handelt es sich um die im traditionellen Sinne progressivste Aufnahme auf World Diary.
Insgesamt gesehen bietet Tony Levin uns ein sehr abwechslungsreiches Album an, das weder mit Pop noch mit Progressive Rock viel zu tun hat. Damit zeigt er eine Seite von sich, die man als reiner Gabriel-Fan eher nicht kennt, die er aber auch bei den Stick Men und diversen anderen Projekten auslebt.
Wer sich von Weltmusikeinflüssen nicht abgeschreckt sieht, improvisierte Songs genießen kann und auch die Vorherrschaft von Stick und Bass nicht störend empfindet, wird bei World Diary mit einem atmosphärischen und vielschichtigen Hörerlebnis belohnt.
World Diary erschien 1995 bei Papa Bear Records, in Europa dann 1996 bei Columbia; Spielzeit: 57:00min
Es ist derzeit nur über Drittanbieter bei amazon und anderswo erhältlich.
Harald Köhncke (Mai 2019)