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Tony Levin & Bill Bruford – Upper Extremities – Album Rezension
1998 haben Schlagzeuger Bill Bruford und Tony Levin ein gemeinsames Album veröffentlicht. Harald Köhncke blickt zurück und bewertet die Zusammenarbeit.
1987 veröffentlichte Gitarrist David Torn sein Album Cloud About Mercury, bei dem Tony Levin(Peter Gabriel, King Crimson, Stick Men) und Bill Bruford (ex-Yes, ex-King Crimson, ex-Genesis (live), ex-U.K. …) die Rhythmusfraktion bildeten. Zehn Jahre später besuchte Levin Bruford im Studio in der Nähe von New York, wo dieser gerade mit Ralph Towner und Eddie Gomez ein Album beendete. Das Studio war anschließend frei und kurzentschlossen luden die beiden Torn und den Trompeter Chris Botti ein, um mit ihnen zusammen zu spielen und aufzunehmen. Heraus kam das Studioalbum um welches es hier gehen soll.
Neben den genannten Instrumenten sowie Schlagzeug (Bruford) und Bass & Stick (Levin), sind nur ganz wenige Keyboards und nahezu kein Gesang auf dieser CD zu hören.
Zuallererst fällt das Albumcover ins Auge, das ein geschmackvolles abstraktes Gemälde von Tony Levin zeigt. Nachdem Levin bereits Fotos für das Cover aufgenommen hatte, malte er das Bild beim Hören der Rough Mixes und verwarf anschließend alle Fotos.
Die Musik auf dem Silberling ist verwandt mit Levins erstem Soloalbum World Diary und auch seiner Kollaboration mit Jerry Marotta zwei Jahre später (From The Caves Of The Iron Mountain), klingt aber doch anders. Zusätzlich ist das besagte Album von David Torn eine gute Referenz, es macht jedoch deutlich mehr Gebrauch von 80er-Sounds.
Bill Bruford selbst beschreibt die Musik auf Bruford Levin Upper Extremitiesals atmosphärischere, weniger songorientierte King Crimson mit Leadtrompete. Gerade die Trompete bringt einen deutlichen Jazzfaktor hinzu und zwar nicht – wie man beim Namen Botti vermuten könnte – Smooth Jazz, sondern eher Fusion. Improvisation ist hier kein Fremdwort, auch wenn die Songs größtenteils vor der Aufnahme arrangiert wurden.
Das erste Stück Cerulean Sea, mit siebeneinhalb Minuten auch das längste der Platte, entstand aus Levins Aufwärmübungen für den King Crimson-Liveauftritt. Zu seinem im Vordergrund stehenden repetitiven Basslauf gesellen sich jazzige Drums von Bruford, die eher „schrottig“ als nach High End klingen, und Torns nervenaufreibende Gitarre. Botti ist hier (und auch bei ein paar anderen Stücken) nicht dabei. Das Ergebnis hört sich wie reduzierte King Crimson an: nur drei Instrumente und keine Keyboards – auch die Drums sind akustisch. Fast hypnotisch wirkt der Song, wenn da eben nicht die Gitarre wäre, die den Eindruck mehr in Richtung eines vertonten Alptraums wendet.
Im Anschluss regiert eine ganz andere Stimmung: obwohl auch Original Sin montone Bassläufe und irritierende Gitarren vorweisen kann, lässt Bottis sehr weit im Vordergrund agierende Jazztrompete meine Assoziationen mehr in Richtung knisternder Spannung in dunklen Clubs nach Mitternacht gehen. Levin unterstützt mit seinem Bass den Jazzansatz und nur David Torn weicht ab, indem er – allerdings mehr in den Hintergrund gemixt – richtig ab- bzw. aufdreht. Der Mann kann extreme Emotionen mit der Gitarre ausdrücken, ohne dabei schnell oder laut zu spielen; dafür spielt er stark verzerrt.
Original Sin findet man in einer gekürzten Version auch auf der Kompilation Sometimes God Smiles: The Young Persons‘ Guide To Discipline, Volume II [amazon].
Etude Revisited ist eine erweiterte (und neu aufgenommene) Version eines Liedes von Tony Levins Album World Diary: Etude In The Key Of Guildford. Da er jenes mit Bill Bruford zusammen entwickelt hatte, passt das und dennoch stehen diesmal Trompete und Gitarre im Fokus. Ich finde, diese Version ist besser als die ursprüngliche, auch weil Levins Spiel wärmer klingt und Bruford diesmal auf das elektronische Schlagzeug verzichtet. Gerade die Gitarre rückt die Sache auch ein bisschen mehr in die Rockrichtung bzw. eine ungewöhnliche Spielart des Jazzrock, wenn man so will.
Das vierte Stück A Palace of Pearls (On A Blade Of Grass) ist etwas ruhiger, was durch die gehaltenen Basstöne (z.T. mit Cellobogen gespielt?), Torns lang klingende Gitarrenloops und die überwiegend sparsamen elektronischen Drums gelingt. Auch hier steht die Trompete im Vordergrund und ich glaube man kann sicher sagen: wer Jazztrompete so gar nicht leiden kann, für den ist diese Platte nichts.
Bei Fin De Siecle wird erneut ein Song aus Levins erstem Soloalbum neu interpretiert und zwar diesmal Smoke. Da das allerdings drei Jahre zuvor ein nichtmal einminütiges Snippet war, sind die Versionen kaum vergleichbar. Ich finde, die hier präsentierte Fassung „riecht“ nach den Crimson’schen ProjKcts, auch wenn dort keine Trompete zu hören ist. Der Vergleich ist nicht abwegig, denn Ende 1997 hatten Levin und Bruford zusammen (mit Robert Fripp und Trey Gunn) als ProjeKct One musiziert (nachzuhören auf Live At The Jazz Cafe) [amazon].
Wie auch alle anderen Aufnahmen der CD folgt Fin De Siecle keinerlei klassischer Songstruktur. Es gibt zwar wiederkehrende Themen oder Melodien, im Ergebnis klingt es aber so als hätte jemand beim Improvisieren der vier Instrumentalisten einfach mal „Record“ gedrückt und dann nach ein paar Minuten ausgefaded.
Da ich nicht jeden Track einzeln beschreiben möchte, springe ich an dieser Stelle von Nummer fünf zum zwölften und letzten Stück Presidents Day, das nach Aussage von Tony Levin als einziges komplett improvisiert ist. Es kommt ein bisschen jazziger rüber als die meisten anderen des Albums, letztlich ist der Unterschied aber nicht groß. Typisches Bruford-Schlagzeug (plus ein paar seiner elektronischen Effekte) trifft auf wilde Gitarre und die Jazztrompete. Levin selbst übernimmt mit seinem Stickspiel keine Führungsrolle sondern reagiert auf die Mitspieler.
Interessiert man sich für abgefahreneren Prog mit Jazzeinflüssen, ist dieses Album ein Reinhören wert. Es hat wenig bis nichts mit der Musik von Genesis oder Peter Gabriel gemein, ist kaum in eine Schublade zu stecken, aber ziemlich sicher für Fans der ProjeKcts ebenfalls sehr interessant. Ich persönlich finde – obwohl ich weder Jazz- noch Trompetenfan bin – dass es sich um eines der spannendsten Soloprojekte von Tony Levin handelt und die CD auch nach über zwanzig Jahren weiterhin faszinierende Hördurchgänge zu bieten hat.
Tipp: wer noch höher gelegene Extremitäten ausloten will, sei auf das Livealbum BLUE Nights hingewiesen (sehr empfehlenswert!).
Außerdem trafen Levin und Torn im Jahr 2011 erneut aufeinander und veröffentlichten mit dem zweiten (noch aktuellen) Yes-Schlagzeuger Alan White die CD Levin Torn White.
Das Album Bruford Levin Upper Extremities erschien zunächst bei DGM und Papa Bear Records (Levins eigenem Label), wurde aber anschließend mehrfach wiederveröffentlicht. Zur Zeit kann es u.a. bei Bill Brufords Label bei Burningshed oder direkt bei Tony Levin erworben werden.
Quellen: Tony Levin: „Beyond The Bass Clef“ (Buch); Homepage Bill Bruford; Homepage Tony Levin
Autor: Harald Köhncke (Juni 2019)