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The Musical Box – The Lamb Lies Down On Broadway – Live in Montreal 2000
Im Jahr 2000 erhielt die kanadische Coverband The Musical Box erstmals die Lizenz, die Show zu The Lamb Lies Down On Broadway in Kanada aufzuführen. Michael Spuck war für it vor Ort
Ich sitze zentral hinter dem Mischpult im Saal, was optimalen Sound und exzellente Sicht verspricht. Das Spectrum ist eine Mischung aus kleinem Theater und Kneipe. Der Saal ist bestuhlt mit Tischen, auf dem Balkon sind diverse Stuhlreihen hintereinander gesetzt. Die Bühne wirkt leicht gedrängt, da die Halle als solche eher Kleinstadtcharakter besitzt, Ein einfacher Stuhl zur Linken für den Gitarristen, eine leichte Erhöhung für den Herrn am Bass und in der Mitte ein paar Felsen am hinteren Bühnenende, Schräg davor ein reichlich mit Percussions bestücktes Schlagzeug und rechts vorne die Batterie der Keyboards, diese auch auf ein kleines Podest gestellt – wofür, würde bald klar werden. Alles ist bestens vorbereitet und passt – was sich sogleich zeigen wird.
Nach einem Vormusiker verlischt das Licht endlich gegen 21 .30 Uhr und The Musical Box betreten die Bühne. Die Einleitung zur Story erzählt Denis Gagné alias Rael alias Peter Gabriel. Schon hier wird wieder deutlich, wie originalgetreu vorbereitet und gearbeitet wurde. Kleidung, Jeans, weißes T-Shirt, schwarze Lederjacke, Frisur und jetzt auch noch das durch die Schminke maskierte Gesicht – es ist quasi kein Unterschied zu den bekannten Bildern von 1975 zu erkennen. Die Stimme identisch und die Gestik perfekt imitiert… „This is the story of Rael“.
Eric Savard, seit Sommer der neue Keyboarder, hat sich exzellent auf The Lamb vorbereitet und stimmt die ersten Klavierläufe an. Es gibt keine digitalen Controller und kein automatisches Arpeggio – alles live und manuell. Die Band steigt ein und Rael legt los. Perfekter Sound. Ausgewogen balanciert, nicht zu laut, kommt alles klar rüber und haut mich trotzdem erst mal völlig platt. The Lamb Lies Down On Broadway kommt kräftig, Gesang und Einsätze absolut präzise. Ohne große Effekte oder Kostümierung bringt Rael seine Geschichte. Unterstützt wird das Szenario von den ersten Dias des kompletten Original-Sets, die von hinten an die Bühnen-Leinwand auf drei Bildschirme geworfen werden. Während die Berichte aus der Vergangenheit aussagen, dass es eigentlich immer, bis auf wenige Ausnahmen, technische Probleme damit gab, funktioniert hier alles perfekt. Ein in diesem Fall erfreulicherweise nicht authentisches Ereignis. Nach dem kräftigen Opener – mit begeistertem Applaus bedacht – kommen nach Fly On A Windshield die etwas ruhigeren Songs. Rael schlüpft unter die Keyboards, singt liegend Cockoo Cocoon, spielt Flöte und ist „stuck in a cage“. Dieser Song mit seinem wunderschönen Keyboard-Solo ist natürlich der nächste Höhepunkt. Wild das Tamburin ans Bein schlagend zeigt sich Rael gequält und zwängt sich selbst den Mikrophonständer hinter seinen Rücken, so dass er wie eine Käfigstange wirkt. Dieser Mikro-Ständer soll angeblich aus dem Keller von Tony Banks stammen und bei der Lamb-Tour von Peter Gabriel verwendet worden sein. Antiquiert wirkt das gute Stück auf jeden Fall.
Die Pfeife ertönt, und die Keyboard-Akkorde setzen ein. The Grand Parade … entwickelt mehr und mehr Dynamik und ist, was das Schlagzeugspiel betrifft, absolut fesselnd – als wäre man immer noch „in the cage“. Rael wechselt ständig seinen Standort auf der Bühne. Mal ist er auf erhöhten Positionen hinter den Musiker-Kollegen, mal links oder rechts am Bühnenrand, mal zentral, mal am Bühnenrand. Er ist ständig in Bewegung. Es fällt schwer, sich alle Bilder gleichzeitig zu verinnerlichen, wo doch nebenbei auch die Multi-Dia-Show im Hintergrund abläuft. So gesehen vielleicht eine der ersten Multi-Media-Produktionen. Rael erzählt, wie es weiter geht. Er ist „back in N.Y.C.“. Als die „bottle filled with gasoline“ auf die Felsen geschmissen wird, gibt es den ersten unerwarteten pyrotechnischen Effekt. Die kleine Explosion löst eine rötliche Flamme aus.
Passend zum nächsten Stück werden rosa Herzchen auf die Leinwand projiziert: Hairless Heart, mit diesem so unglaublich zerbrechlich wirkenden Gitarrenpart, bei dem man jeden Ton in Gedanken mitspielt, bevor die Keyboards orchestral dazu einsetzen. Während Counting Out Timedem Stück entsprechend locker gebracht wird, setzt bei The Carpet Crawlers eine knisternde Atmosphäre ein. Das Licht gedämpft, baut sich dieses wunderschöne Stück langsam auf, und der gesamte Saal bildet den Chor. Das Gitarren-Solo leitet The Chamber… ein und beim Einsatz der Band bebt der Saal. Unter dem ständigen Wechsel zwischen den leisen, sensiblen Parts und den kräftigen Passagen entwickelt sich das Stück zu einem herausragenden Live-Track. Leider wird der ganz am Ende gespielte Klavier-Akkord durch enthusiastischen Applaus übertönt. Man hört ihn nur, wenn man darauf achtet.
Zum letzten Mal wird die Geschichte weitererzählt, und Lilywhite Lilith nimmt sich Raels an, gefolgt von einer absolut perfekten Version von The Waiting Room. Das Schlagzeug setzt ein, der Rhythmus beginnt, und das Publikum wird ins rechte Licht gerückt: vier Strahler knallen mit voller Energie von der Bühne in den Saal, während Rael, als Schatten von einem der Projektoren angestrahlt, auf die Rückseite der Leinwand projiziert wird. Ein kleines Keyboard-Spiel leitet dann The Lamia ein. Die Scheinwerfer fixieren die Keyboards, während fleißige Helfer den „Lamia-Vorhang“ an einem Deckenhaken befestigen. Rael schlüpft (fast unbemerkt) hinein, der Haken geht ab nach oben, und das Klavierspiel beginnt. Der sich drehende, schlangenbemalte Vorhang wird abwechselnd von innen und außen beleuchtet, so dass Rael mal unsichtbar, dann umschlungen wirkt. In blaue und grüne Farbtöne gehüllt, erscheint Rael im weißen Ganzkörper-Body wie eine fahle Gestalt. Die Stimme, mit leidendem Timbre versetzt, verklingt, und das Gitarrensolo vollenden die mystische Atmosphäre – The Lamia gleiten von der Bühne.
…Silent Sorrow In Empty Boats ist leider nicht ganz so ruhig, wie es sein sollte. Noch völlig begeistert, sind einige Leute mehr am Labern als am Zuhören – das Stück hätte mehr Beachtung verdient. In der Zwischenzeit hat die Crew den sagenhaften „Slipperman“ vorbereitet. Die Felsen im Hintergrund der Bühnenmitte aufgeklappt, kommt der glibbernde transparente Schlauch hervor, von hinten durchstrahlt von Rotlicht. „Slipperman“ kriecht wie ein schlüpfendes Insekt durch die Röhre, pellt sich hinaus und steht da: in perfektem Kostüm, der Kopf leicht wackelnd im einsetzenden Rhythmus. Die Stimme kommt gut – passt zur Figur, obwohl es nicht einfach scheint, das Mikrophon unter dem Kostüm in die richtige Position zu bringen. Die per Luftschlauch aufblasbaren Genitalien unterstreichen, worum es Rael geht, als er sich in sein Schicksal ergibt. Eine absolut surreale Inszenierung. „Slipperman“ bewegt sich über die gesamte Bühne, und schließlich erschlafft symbolträchtig, was vorher noch prall erschien. Vom „Slipperman“ kuriert (vom Luftschlauch entkoppelt), ist es vorbei mit der Herrlichkeit. Auf den Dias wird der Rabe immer größer, kommt immer näher – bedrohlich aber unausweichlich. Er entschwebt, und der „Slipperman“ ist verschwunden.Ravine läßt kurz durchatmen, und Rael kommt zurück auf den Broadway. Dann beginnt dieses irrsinnige Keyboard-Solo im 9/8-Takt, bevor Rael zur Entscheidung gezwungen wird: „Here I go“. Es geht In The Rapids. Das Licht gedämpft, konzentriert auf die Bühnenmitte, wird der letzte große Knalleffekt vorbereitet. Das Keyboard zieht zweimal hoch und – bamm, der Lichtblitz links und rechts der Bühne blendet gerade lang genug, um den doppelten Rael erscheinen zulassen. Jeweils links und rechts oben steht er sich gespiegelt gegenüber und wird vom Stroboskoplicht in Szene gesetzt. Welcher ist der echte? Zurück auf der Bühne zieht Rael Bilanz, was es mit itauf sich hat.
Entgegen der Version auf Genesis – Archive 1 wird nicht ausgeblendet: Am Ende nochmals den Synthie eingesetzt, zieht der Ton hoch, und mit einem letzten Knalleffekt wird ein Konzert beendet, das man als die perfekte Wiedergestaltung eines Kunstwerkes bezeichnen kann. Die Zugaben sind The Musical Box und Watcher Of The Skies. Ersteres habe ich von TMB noch nie so gut gehört und von Denis gespielt gesehen, das war das Größte! Es ist schlicht unmöglich, jedes Detail, z. B. die 1120 Dias, in diesen Bericht ausgiebig miteinzubeziehen. Das Ganze stellte sich als komplette Einheit, einfach als großes Ganzes dar. Was die Musik angeht, habe ich viele Stimmen gehört, die sagten, erst durch die Wahrnehmung des Gitarrenparts auf der Bühne ist deutlich geworden, weichen Anteil Steve Hackett am kompositorischen Werk von Genesis hatte – dem kann ich nur zustimmen!
Die Reise war sicherlich teuer, aber ein einmaliges Erlebnis, an das ich den Rest meines Lebens denken werde. Ich traf Paul Whitehead nach einer der Shows, der mir sagte, er hätte während des Konzerts den Saal verlassen, um vom Balkon aus einen anderen Blickwinkel zu bekommen. Während er durchs Foyer ging und der Sound daher leicht gedämpft war und kein Blick auf die Musiker möglich, erschien es ihm wie ein Déjà-vu. Genau das hatte er doch vor 25 Jahren schon einmal gehört. Und ich glaube es ihm, denn er muss es wissen!
Autor: Michael Spuck