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The Musical Box – Live in Portsmouth 2007 (Selling England) – Fanberichte
Ihr habt das Wort: Zum letzten Mal touren The Musical Box mit den Shows zu Selling England / Foxtrot in Europa. Wir veröffentlichen Eure Berichte – hier einer aus Portsmouth!
Selling England by The Poundlive in Portsmouth (15.03.2007)
… im Geiste genauer Wiedergabe!
The Musical Box boten am letzten Donnerstag eine fesselnden Abend voller Musik. Ihre Wiederaufführung der Genesis-Show von 1974 kommt dem Original näher als alles andere. Mir gefällt die Idee, daß Tributbands sich dem Geist genauer Wiedergabe verschreiben. Die wachsende Zahl solcher Shows und ihrer Beliebtheit dürfte zeigen, daß ich damit nicht allein stehe. Ich glaube aber auch, daß es Platz gibt für mehr Künstler, die die Rockmusik der Vergangenheit mit mehr Lust an der Interpretation angehen.
Ich habe noch nie verstanden, warum der Kanon der Rockmusik nicht genauso behandelt werden kann wie der des Theaters oder der klassischen Musik. Wir gehen gerne hin und schauen uns endlose Bearbeitungen, Auslegungen und Wiederaufführungen dramatischer Werke an und sind uns darin einig, dass das Werk dieses Dichters genau zu diesem Zweck vorliegt. Viele Leute sind sogar der Ansicht, dass die Produktionen, die „dem Original“ am nächsten kommen, zu den uninteressantesten gehören und dass die Regisseure, Schauspieler und Bühnenbildner, die das originale Stück zerlegen und im Kontext der heutigen Welt und aktueller Themen wieder neu zusammensetzen, einen viel herausfordernderen Umgang mit dem Material bieten. Für meinen Teil würde ich viel lieber eine experimentelle Interpretation von Macbeth oder Hamlet sehen, die zwar in Bezug auf den Text ein Wagnis eingeht, aber zum Nachdenken anregt und etwas auszusagen hat, als ins Globe Theatre zu gehen und mir anzuschauen, wie sich dort jemand bemüht, Hamlet historisch richtig zu erstechen, wie William Shakespeares Truppe das damals gemacht haben dürfte.
Daher ist die detailversessene Genauigkeit von The Musical Box zwar schön und ihre Aufführung aufregend und unterhaltsam, aber durch die Imitation verschenken sie ihre eigenen Stärken als eigenständige Künstler und versäumen es, sich selbst in die „Vorführung“ einzubringen, die sie da abziehen. Die frühen Genesis-Shows müssen für die Zuschauer schockierend gewesen sein; so seltsam war der Bühnenaufbau, so kraftvoll die Musik und so wunderbar seltsam war die Fantasie des (manche würden sagen: einzigen) Darstellers Peter Gabriel. Der Rest der Band bringt anonyme Schatten auf die Bühne, die von fluoreszierendem Licht geflutet ist, das die weißgekleideten Gestalten heraushebt, die sich wie Wissenschaftler über ihre Instrumente beugen. Was folgt, sind zwei Stunden eigenartiger Musik, oft wunderschön, häufig unheimlich, bisweilen angsteinflößend und stets brilliant vorgetragen. Watcher Of the Skies, Firth Of Fifth, The Cinema Show und The Knife feierten eine wunderbare Auferstehung als die Genesis-Stammnummern, die sie vor mehr als 30 Jahren gewesen sein müssen.
Die musikalische Leistung ist makellos und beeindruckend – vor allem Martin Levac als Phil Collins (einmal ruft jemand aus dem Publikum „Du solltest Solo weitermachen, Phil!“) und der Gitarrist Francois Gagnon als Steve Hackett, der dieselbe Mischung aus zerbrechlicher Schönheit und furchtbarem Zorn aus seiner Gitarre zaubert wie der originale Musiker und Komponist.
Die Schwachstelle im Set ist, wie schon andere hervorgehoben haben, The Battle Of Epping Forest. Die Komposition entpuppt sich als eines der Stücke von Genesis, die live weniger gut wirken. Die Musiker schienen hier auch nicht ganz bei der Sache zu sein, und die schnellen und komplexen Gesangsteile kamen einfach nicht ’rüber. Schade – auf der Platte ist es ein tolles Stück, das überdies Genesis‘ kaum glaubliche Neigung zum Punk verrät.
Höhepunkte für mich waren das bedrohliche Musical Box mit den donnernden Instrumentalteilen und den pseudoputzigen Kinderreimen, die nach viktorianischem Landadel und dem perversen Jäger-Geist unter der Oberfläche riechen. Es war einer der spannendsten Augenblicke des Abends, als Denis Gagné als der Alte Mann wieder auf die Bühne kam, erfüllt von der bizarren aber überzeugenden Bühnenwirkung des Genesis-Frontmanns.
Der andere Höhepunkt kam mit der Klimax von Supper’s Ready. Der Schluß der Apocalypse in 9/8, als Gagné mit dieser Schachtel auf dem Kopf wiedererscheint, ist wirklich erschreckend. Die Musik türmt sich über den Zuschauern auf, voller Energie und immer drängender. Irgendetwas muss nachgeben oder die Halle wird explodieren, plötzlich wird die Bühne im flackernden Blitzlicht halb sichtbar und Gabriel/Gagné ist dort, jedenfalls etwas ist da. Er ist kaum zu erkennen, kaum menschlich… 666 ist nicht mehr allein, er saugt dir das Mark aus den Knochen. Dieser Abschnitt wirkt wie ein Kinofilm und erinnerte mich an Kultfilme von damals, wie The Wicker Man, und heute, wie Alien. Auch scheinen hier Elemente des Theaters der Grausamkeit auf. Gabriels Aussehen ist wahrlich anders als alles, was wir je vorher gesehen oder uns vorgestellt hatten.
Wunderbar heraufbeschworen wurde also, was damals eine magische Originalshow war. Mein Problem liegt darin, dass die Band sich so sehr genau an das Original hält. Mir scheint, Denis Gagné, der Mann mit dem schwierigsten Job nämlich dem, Peter Gabriel „zu sein“, hat diesen nicht ganz ausgefüllt. Stimmlich war er außerordentlich stark und ähnelte nahezu verstörend dem Original. Physisch jedoch und auch in den seltsamen, bisweilen unverständlichen Geschichten zwischen den Stücken, verfügt er nicht über das Charisma oder die Würde, die Gabriel für diese Rolle mitbrachte. Es gibt in der Show eine Menge skurrilen Humors, der oft gut funktioniert, aber leider bisweilen unabsichtlich ist, wenn beispielsweise der Sänger in seinem schwarzen Catsuit wie ein Frosch über die Bühne stolziert. Ich wünschte mir, er würde sich entspannen, das Skript Skript sein lassen und einmal zeigen, wie diese großartige Band alles nimmt, was sie aus der Reproduktion gewonnen hat und es weiter entwickelt, das Original erweitert und (ganz leise gesagt) verbessert. Diese Musik gehört nämlich nicht ins Museum.
von Chris Sculthorpe, deutsch von Martin Klinkhardt