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The Musical Box – Live in Ludwigshafen 2003 (Foxtrot) – Fanberichte
Ihr habt das Wort: The Musical Box touren mit den Shows zu Selling England / Foxtrot in Europa. Wir veröffentlichen Eure Berichte – hier einer aus Ludwigshafen – Foxtrot-Show!
Foxtrotlive in Ludwigshafen (25.10.2003)
Und so kamen sie von nah und fern, aus der Pfalz und halb Europa, und strömten nach Ludwigshafen, jene bezaubernde 150jährige Ansammlung von Wohnhäusern und Fabriken, für die in Mannheim der Platz nicht gereicht hat. Der Pfalzbau (so man ihn denn fand) erweist sich als überraschend hübsch und deutlich kleiner als die anderen Hallen und erzeugt so – verbunden mit dem enthusiastischen Fachpublikum – vom Start weg eine gespannte, knisternde und erwartungsfrohe Atmosphäre. Die große Mehrheit der Zuschauer hatte die Selling-Show gesehen, und ich gehe mal davon aus, dass wir alle eine Art reduzierten Gig mit ein paar älteren Songs erwarteten, oder?
„Werch ein Illtum!“, um mit Herrn Jandl zu sprechen.
Ich hätte mir nicht für eine Sekunde vorstellen können, wie anders diese Show aussehen und klingen würde. Gegenüber Selling sieht die Bühne regelrecht nackt aus: Weiße Vorhänge als Hintergrund, keine Requisiten, wenig Masken und kaum Spezialeffekte. Denis/Gabriel steht die meiste Zeit hinter seiner kleinen Trommel und arbeitet mit Körpersprache statt mit Kostümen. Das Licht strömt und gleißt in grellen Primärfarben und steht trotz seiner zwangsweisen Einfachheit den subtilen visuellen Effekten in Selling an Dramatik nicht nach – man betrachte nur den schockartigen Farbwechsel in Watcher an der Stelle, an der Gabriel sonst seinen Flattermantel heben würde – es stockt einem der Atem.
Was einem aber völlig die Sprache verschlägt, ist die Musik. Die Gitarren sind einfacher, die Instrumente klingen rauher, und TMB/Genesis spielten unglaublich schnell, laut und aggressiver. Man lasse sich nicht von der Setlist narren, im Glauben, das wäre ja nur die halbe Selling-Show plus ein paar ältere Nummern.
Sicherlich wären die neuen/alten Stücke schon fast den Eintritt wert, aber speziell der Unterschied bei den gemeinsamen Songs ist radikaler, als ich es mir je gedacht hätte. Am Ende von Musical Box trägt Denis/Gabriel keine Maske, also hören wir an Stelle der gebrochenen Old Man-Stimme den jungen Gabriel schreien und toben. Die Apocalypse-Sektion von Supper’s Ready baut sich zu einem akustischen Tumult auf, der wie eine Amok laufende Maschine rattert und donnert – überhaupt der komplette Charakter des Stücks ändert sich von Grund auf gegenüber der visuell opulenteren und konzertanteren Form in Selling. Dass Genesis das Stück jemals in die Mitte des Sets platzierten, erschien oft und vielen sonderbar, aber sobald man Foxtrot als Ganzes hört, ergibt es perfekten Sinn.
Was die (in Europa) ungehörten Lieder angeht, Can-Utility klingt so majestätisch, und Get ‚Em Out By Friday nach genau dem diabolischen Vergnügen, wie man es sich nur wünschen konnte, und Fountain muss man hören… live entwickelt sich eine Dynamik, die man fühlen, aber kaum beschreiben kann.
Tja, und dann kam… Hogweed! Was habe ich darauf gewartet, und wie lange wollte ich dieses eine Lied hören. Und wenn man sich sonst so sehr auf etwas freut, dann wird mehr als einmal der Wunsch von der Realität ruiniert, oder?
„Werch ein Illtum!“…
Wer Selling gesehen hat, der weiß, wie The Knife dem Konzert am Ende einem Kanonenknall gleich hinterher donnert. Während Foxtrot als Ganzes schon ähnlich kraftvoll wie The Knife daherkommt, ist Hogweed der unbestrittene infernalische Showdown. Denis/Gabriel explodiert faktisch auf der Bühne, und die Band hämmert diese gloriose Klangwucht mit einem so uferlosen Maß an Energie und Gewalt, dass selbst einige Metal Bands wie Geigenquartette aussehen würden (na ja, vielleicht mal abgesehen von Apocalyptica 🙂
Die meisten Leute dachten sicherlich (und ich verhehle nicht, dass ich selbst dazu zählte), dass Selling das große Ding ist, und Foxtrot nur eine Art Zugabe für die treuesten Fans. Das ist seit Ludwigshafen nicht mehr haltbar, denn beide Shows sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht, und beide auf ihre Weise kongenial. Und wenn gelegentlich gesagt wurde, Selling wäre von Wesen und Art wie ein „klassisches Konzert“, dann finden wir uns bei Foxtrot (eine analoge Übertreibung gebrauchend) auf der Punk-Seite des Zauns wieder…
TMB lehren uns (Spätgeborenen) mit Selling, dass Genesis vor drei Jahrzehnten ein Performancewerk mit einer visuellen Kraft und Bildgewalt schufen, das im Vergleich die Mehrzahl aller Multimedia-Experimente seit diesen Tagen zum bemühten Gebastel degradiert. Und nun lehren sie uns mit Foxtrot, dass Genesis davon abgesehen auch noch eine saugute Rockband war.
Noch Fragen? Ach ja, eins noch: Wie Leute (in Kenntnis der zwar raren, aber eindringlichen Filmfragmente des Originals) auf die Idee kommen können, Denis wäre ein schlechter Schauspieler, entzieht sich meinem Verständnis. Außer man kann nun wirklich die persönliche Anbetung eines Künstlers von der künstlerischen Leistung desselben nicht mehr unterscheiden. Aber wenn selbst ein Zyniker und ewiger Meckerer wie ich im Konzert sitzt und auf die Bühne starrt wie ein kleiner Junge auf den Weihnachtsbaum, dann sind dort Zauberer am Werk. Punkt.
Autor: Martin Christgau