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The Musical Box – Live in Den Haag 2007 (Selling England) – Fanberichte
Ihr habt das Wort: Zum letzten Mal touren The Musical Box mit den Shows zu Selling England / Foxtrot in Europa. Wir veröffentlichen Eure Berichte – hier zwei aus Den Haag!
Selling England by The Poundlive in Den Haag (29.01.2007)
Wie Genesis in den 70ern
Ich weiß nicht, warum es so ist – aber in meinen Heimatstadt Holten, ein kleiner Ort mit 8000 Einwohnern im Osten der Niederlande hatte Genesis immer schon eine große Fangemeinde. Mein großer Bruder Bert wurde 1977 vom Genesis-Fieber gepackt. Das führte zu einem großen Dominoeffekt; 1980 ‘fiel ich um’ und mein jüngerer Bruder Hans dann Mitte der 80er. Bert und ich sahen unser erstes Genesiskonzert 1981 in Leiden (genau: das Abacab-Konzert, bei dem die Band beinahe von der Bühne gebuht wurde…), Hans wurde 1987 in Hannover auf der Invisible Touch-Tour in die wundervolle Welt von Genesis eingeführt. Bekannte von uns, Joop und Harry, hatten das Glück, Konzerte der Wind & Wuthering und der And Then There Were Three-Touren besucht zu haben. Harry hatte sogar die Lamb-Show in Groningen gesehen. Der glückliche! Aber das war schon so lange her, daß er sich kaum noch daran erinnerte. Keiner von uns hatte jedoch die Chance gehabt, eine Foxtrot oder Selling-Show zu sehen. Als eine ‘Coverband’ namens The Musical Box bekanntgab, daß sie durch Europa touren würden, wurden wir alle ganz aufgeregt. Sollte das unsere Chance sein, “jene frühen, magischen Jahre” zu erleben?
Wegen der ‘nächsten Generation’ wurde mein älterer Bruder von seiner Tochter und seinem Sohn nach Den Haag begleitet. Damit waren wir dann eine Gruppe von vierzehn Genesis-Fans, die unbedingt die “alte, dunkle Genesis-Ära” erleben wollten. Wir sahen mehrere TMB-Konzerte in Deutschland und Holland, gleich von den ersten Konzerten an (erstes Konzert in Oberhausen am 16. Oktober 2003), damit wir die Foxtrot, Selling und Lamb-Shows mitnehmen konnten. So war das Konzert in Den Haag am 29.1.2007 mein achtes TMB-Konzert und die vierte Selling-Show. Da dies die letzte Chance gewesen sein dürfte, diese großartige Band zu erleben (inzwischen werden schon wieder neue Shows geplant), ist nun der richtige Augenblick gekommen, die ganzen Konzerte, die wir gesehen haben, und ganz besonders Den Haag Revue passieren zu lassen. Auf gehts…
Vorgruppen sind meistens eher langweilig, aber die holländische Progband For Absent Friends (klingt vertraut, oder?) bildeten an diesem Abend in Den Haag eine rühmliche Ausnahme. Sie spielten ein beeindruckendes Set von einer halben Stunde und stellten ihr neues Album Square 1 vor. Obwohl die rund 1200 Zuschauer (bei ingesamt 2166 Plätzen) TMB kaum noch erwarten konnten, wurden For Absent Friends mit überraschend begeistertem Applaus belohnt. Das war wirklich mal eine Vorgruppe, die das Publikum für die Hauptgruppe warmmacht: die Zuschauer hatten viel Spaß mit ihnen. Inzwischen wuchsen die Erwartungen ins Uferlose, während wir eine weitere halbe Stunde auf die Hauptgruppe warten mussten. Immerhin waren die Getränkestände geöffnet und die Leute sehr entspannt.
Und: Oh ja, TMB waren unglaublich! Was kann man anderes sagen, wenn man diese äußerst begabten kanadischen Musiker auf der Bühne sieht? Wenn man die Augen schließt, hört man Genesis Show für Show. Alle, die bereits auf einem oder mehreren Konzerten von TMB waren, werden darin mit mir übereinstimmen, daß sie eine außergewöhnliche Gruppe sind! Genauigkeit, Detailtreue, technische Begabung, Bühnenbild und Beleuchtung – alles IST wie Genesis in den 70ern. Es ist schwierig, das Konzert kritisch zu beleuchten, denn nach jeder TMB-Show – auch nach dieser achten noch – schaut man einander ins Gesicht und fragt sich, wie zum Geier sie diese Show beenden wollen! Die Zuschauer (meistens ‘Alte Männer’ über 40…) flippten voll aus und dankten der Band mit stehenden Ovationen! Trotzdem muß man ein wenig kritischen Abstand behalten, schon weil es so viel zu entdecken gibt!
Für diejenigen, die ein paar kritische Anmerkungen hören wollen, sei gesagt: Watcher Of The Skies war nicht laut genug, und der Sound des Keyboards lag nicht so nahe am originalen Banks-Sound wie er sollte; auch war er etwas anders als auf vorigen Touren. David Myers hat hier und da ein paar Noten ausgelassen, der Bass war ärgerlich drückend, vor allem bei The Knife, und während der zweiten Hälfte der Show wirkte der Sound etwas verzerrt. Das lag aber nicht am Saal, dem World Forum Theater im World Forum Convention Centre, sondern an der gewaltigen Lautstärke am Ende! Schade, daß die Band More Fool Me nicht spielte. Und das hätte ich beinahe vergessen: Die Band durfte aus Sicherheitsgründen keine Magnesium’bomben’ am Ende von Supper’s Ready verwenden. Zuletzt noch dies: Die Ordner waren sehr schnell dabei, Digitalkameras zusammen mit ihren Eigentümern einzusammeln. Mindestens drei Fans wurden ‘verhaftet’ und aus dem Saal geführt, wo sie ihre Kamera abgeben mussten. Schluss mit diesen unschönen Details, ich möchte hervorheben, daß die Show großartig war!
Unsere Gruppe von 14 Genesisfans habe ich schon erwähnt. Sie ist besonders interessant, weil (was man oft bei Genesisanhängern sieht) drei Musiker zu ihr gehören – drei Schlagzeuger sogar! Es überraschte daher nicht, daß diese drei Martin Levac ganz besonders aufmerksam zusahen. Abgesehen davon, daß Levac Collins so sehr ähnelt, daß er sein Klon sein könnte, waren ‘unsere’ Drummer von Levacs erstaunlicher Schlagzeugakrobatik überwältigt. Der jüngste unserer drei Musiker (ein riesiger Fan von Dream Theater) war tief beeindruckt und sagte mir nach der Show in Den Haag, daß das Allerschwierigste der ständige Wechsel des Schlagzeugrhythmus sei, ganz besonders bei Supper’s Ready. Er wusste schon, daß Phil und Martin hervorragende Schlagzeuger sind, aber was er an diesem Abend sah, beschrieb er selbst nur noch als ‘atemberaubend’…
Wie bereits angedeutet: Wenn man TMB öfter sieht, egal ob sie Selling, Foxtrot oder Lamb spielen, gibt es eine Menge zu entdecken. Als ich mir TMB anschaute und mich mit der Vergangenheit von Genesis – der Ära Gabriel also – befasste, wurde mir klar, wie und warum Genesis sich zu der Ära Collins hinentwickelten. Tatsächlich ist Genesis mit Gabriel gar nicht so viel anders als Genesis mit Collins, wie manche Fans uns weismachen wollen. Es gibt so viele Ähnlichkeiten zwischen den frühen Shows und denen der 80er und 90er Jahre, dass man sie schon Markenzeichen von Genesis nennen könnte. Viele der Bühnen-, Licht- und Performanceelemente dieser Band in all den Jahren sind typisch für Genesis. Der Instrumentalteil von The Cinema Show erinnerte mich beispielsweise sofort an den Instrumentalteil von Fading Lights: während beiden außerordentlich kraftvollen Teilen sind nur drei Leute auf der Bühne, nämlich der ‘harte Kern’ von Banks, Collins, Rutherford. Ein weiteres Charakteristikum ist der Einsatz von Stroboskopen: Man vergleiche, wie sie während der Selling– und Lamb-Shows eingesetzt wurden und wie 1980 bei One For The Vine. Und sogar die Projektionsflächen sind ein Markenzeichen: Die Diapräsentationen für Selling wurden ersetzt durch die Jumbotrons. Deshalb mag ich Genesis 1969-1975 genausogerne wie Genesis 1976-1998. Die Markenzeichen blieben, wurden aber kein Abklatsch ihrer selbst. Die Band entwickelte sich. Genau darum ist diese Zeit so spannend! Wir können die Ära Gabriel und die Ära Collins direkt hintereinander sehen und bekommen so Gelegenheit zu verstehen, wie und warum Genesis zu dem wurde, was es jetzt ist und in diesem Sommer sein wird. Danke, The Musical Box und Genesis, daß ihr das möglich macht.
Von Gerrit Bekkernens, deutsch von Martin Klinkhardt
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Was für ein toller Abend!
Für dieses Konzert verkauften sich die Karten nicht sehr gut. Die Empore wurde abgesperrt, und alle, die Emporenkarten hatten, konnten sie gegen einen Parkettsitz eintauschen. Zum Glück war der Abend für alle sehr schön; das Publikum genoss ihn ganz offensichtlich und die Band erhielt mehrere stehende Ovationen.
Nach der Vorgruppe For Absent Friends, einer niederländischen Progrockformation, kamen The Musical Box kurz vor neun Uhr abends auf die Bühne. Watcher Of The Skies war, wie üblich, das erste Stück. Das Mellotronintro klang großartig, und als der Rest der Band einstimmte, war der Sound in der Halle von Anfang an spitze. Ich erinnere mich noch, dass der Sound ein wenig wackelig war, als ich die Band 2004 zuletzt SEBTP spielen sah.
Die Supermarktgeschichte, mit der Dancing With The Moonlit Knight 2004 eingeleitet wurde, hatte man durch die „Ich befinde mich im englischen Kanal“-Einleitung ersetzt. Der ruhige Anfang des Stückes wurde perfekt gegeben und war ein Glanzpunkt der Show. Auf die Geschichte von Romeo und Juliet folgte eine der besten Darbietungen von The Cinema Show, die ich je gehört habe. Der Harmoniegesang von Denis Gagné (Peter Gabriel) und Martin Levac (Phil Collins) klang herrlich; der Instrumentalteil, der als Trio gespielt wurde, bildete einen weiteren Höhepunkt der Show.
Es folgte I Know What I Like. Zwischen den Meisterwerken The Cinema Show und Firth Of Fifth enttäuscht es immer ein wenig, aber das ist nur meine Meinung. Firth Of Fifth wurde mit der Geschichte von den fünf Flüssen angekündigt. Die (fehlerfreie) Pianoeinleitung bekam bis dahin den größten Applaus des Abends. Nach dem Stück empfing die Band wiederum stehende Ovationen.
Ein schöner Schlag auf die Basstrommel von Denis Gagné markierte den Punkt in der Geschichte von Henry und Cynthia, als dieser stirbt. Auch dieses Stück wurde fantastisch dargeboten. Francois Gagnon bekam einen Soloauftritt für ein exzellentes Horizons, das More Fool Me aus der Setliste verdrängt hatte.
The Battle Of Epping Forest war stets schon einer meiner Favoriten aus dem SEBTP-Set; ich finde die Live-Darbietung einfach köstlich. In der Geschichte von Old Michael hatte man auf die Ermahnung „Phil, es sind doch Leute da!“ (aus dem Rainbow-Konzert) verzichtet; stattdessen sollte er „schneller … schneller!“ (wie auf dem Shepperton-Film) spielen. Darauf folgten 23 Minuten, die wir höchstwahrscheinlich nie wieder von Genesis so sehen werden: Supper’s Ready. Ausgezeichnet gespielt, erhielt es wieder stehende Ovationen.
Dann bekamen wir als Zugabe The Knife, ein Stück, das einem Großteil des Publikums offensichtlich nicht so gut bekannt war. Damit endete die wahrscheinlich letzte Aufführung der Selling England-Show in den Niederlanden.
Auf dem Weg zur Straßenbahn kam ich mit einigen anderen Fans ins Gespräch, und einer fragte: „Hast du etwa das Konzert mitgeschnitten?“ Ich gestand ihm, dass ich das getan hätte. Später holte ich meinen Recorder und meinen Kopfhörer heraus, um die Aufnahme zu prüfen, und spielte den anderen Teile von Dancing With The Moonlit Knight vor, was ihnen sehr gefiel.
Im Zug nach Hause hörte ich mir die ganze Show nochmal an und merkte, was für ein toller Abend das war. Wenn das wirklich die letzte Selling England-Show in Holland war, werden mir The Musical Box sehr fehlen.
Von MdK, deutsch von Martin Klinkhardt