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The Musical Box – Live in Berlin 2003 (Selling England) – Fanberichte

Ihr habt das Wort: The Musical Box touren mit den Shows zu Selling England / Foxtrot in Europa. Wir veröffentlichen Eure Berichte – hier einer aus Berlin!

Selling England by The Poundlive in Berlin (17.10.2003)

FlowerBereits das allererste Aufglühen der selbstleuchtenden Watcher Of The Skies-Augen produzierte „Ahs“ und „Ohs“ im Publikum, und genauso staunend sollte der Abend weitergehen. The Musical Box trafen auf ein aufnahmebereites Publikum in Berlin.

Die Zeit war reif geworden für eine Deutschlandtournee der Kanadier: Es ist 2003 – Die Akzeptanz von Coverbands in Deutschland ist durch die Zunahme Las-Vegas-ähnlicher Shows stark gestiegen, die Siebziger sind wieder hoch in Mode, und es gibt inzwischen sogar schon wieder aktuelle Bands, die sich dem intellektuellen, melodiösen Rock (Radiohead, Elbow) oder sogar den ans Peinliche grenzenden großen Gesten auf der Bühne (The Darkness) verschrieben haben.

Und so spielte das Publikum seinen Part, sang bei Hits wie I Know What I Like textsicher mit und verlangte als Zugabe natürlich The Knife! Es gab viel Zwischenapplaus bei diesem Konzert, immer wenn ein besonderer Effekt oder ein besonders gut interpretierter Instrumental- oder Gesangpart das Publikum begeisterte – ansonsten aber herrschte ein fast andächtiges Staunen vor. Manchmal allerdings hatte man den Eindruck, dass viele im Publikum das Original der Bühnenshow zu wenig kannten, um wahrzunehmen, dass jede einzelne Wendung des Konzertes durch Genesis und nicht etwa durch spontane Ideen von The Musical Box vorherbestimmt worden war.

Letztere jedoch spielten ihre Rolle(n) ausnehmend gut . . . kann eine Coverband besser als das Vorbild sein ? – Im Falle von The Musical Box schon !

Genesis live in den Siebziger Jahren, das war bei aller Qualität auch ein nicht 100%ig textsicherer Peter Gabriel, der zudem noch eine sehr schlechte Mikrofontechnik besaß, ein oft unter Alkoholeinfluss spielender Phil Collins, introvertierte Musiker, die sich vor lauter Nervosität auch schon mal verhaspelten. – The Musical Box schienen bei ihrem Auftritt in Berlin all diese Probleme nicht zu kennen. Schließlich stand hier auf der Bühne die Band, die einmal ihre Karriere gestartet hatte mit dem Anspruch, die Studioversionen der Lieder im Konzert zu bringen, also die Versionen, die selbst Genesis nicht 1:1 hatte übertragen können. Und so verwundert es kaum, dass die langen Instrumentalpassagen, in denen der Sänger die Bühne verließ (zum Beispiel während The Cinema Show), nicht etwa reine Wartephasen waren, in denen das Publikum sich mit jeder Faser den Sänger zurückwünschte, sondern genauso wichtige Teile wie die Gesangparts – jeder noch so komplizierte Ton saß perfekt ! ! !

Natürlich spielten bei dieser Gewichtung der Instrumentalparts im Publikum auch Genesis‘ begleitende Originaldias und Originallichteffekte eine Rolle, deren Abwechslungsreichtum eine ganz besondere Atmosphäre schuf – eine wahre Multimediashow eben ! – Kein Wunder, dass man sich dabei wie auf einer Reise, wie in einer selbsterlebten Erfahrung fühlte : der Zuschauer weniger als passiver Konsument, sondern als ganz aktiver Teil dieses Spektakels !

Viel ist schon zu Sänger Denis Gagné geschrieben worden : hier in Berlin, da gab er nicht nur den Gabriel durch Gesang, Sprache, Mimik, Gestik, Stimmlage, NEIN – dieser Mann atmete und lebte Peter Gabriel ! ! ! Selbst wer Denis privat kannte, hatte es sehr schwer, sich dieser Illusion zu entziehen – auf der Bühne hörte Denis Gagné auf zu sein – und Gabriel erschien!

The Musical Box in Berlin – ich könnte zu jedem einzelnen Lied mein ganz persönliches Highlight nennen: Immer gab es irgendwas Besonderes zu schauen, zu hören – zu lachen, zu schwelgen, zu träumen, mitzufiebern . . . Deshalb hier nur einige wenige Impressionen:

Genauso wie Gabriel 1973, so benutzte auch Denis Gagné ganz wenige Brocken Deutsch in seinen Ansagen. Besonders gut kam nach der „Enthauptung“ Little Henrys ein ausgerufenes „Little Henry KAPUTT ! “ . . .

War man schon von der Ähnlichkeit Denis Gagnés zu Gabriel fasziniert, so sollte das im Laufe des Abends durch ein anderes Bandmitglied sogar noch getoppt werden: Der diesjährig hinzugewonnene neue Schlagzeuger, Martin Levac, singt wie Phil Collins 1973 und sieht aus bzw. kommuniziert mit dem Publikum wie Phil Collins in den Achtzigern. Er ist geradezu ein Phil-Collins-Klon, absolut unglaublich ! Dank dieses neuen Bandmitglieds konnte auf der diesjährigen Tournee auch erstmals die Performance von More Fool Me im The Musical Box-Konzert stattfinden. Bereits, als Martin sich in seiner weißen Maler-Latzhose vom Hocker erhob und sich ein Jackett überstreifte – und typisch stakkatohaft nuschelte : „Normally, on stage, I prefer wearing something a little bit more comfortable – no jacket required!“ war die Illusion (samt Insider-Joke) perfekt. Das Publikum, das die Präsenz eines 80er-Jahre Phil Collins vielleicht eher im kollektiven Gedächtnis hatte als die eines 70er-Jahre Gabriel, ging sofort ab wie eine Rakete. Und das anschließende More Fool Me war so perfekt, dass man – Augen geschlossen oder offen gehalten – wahrhaft Phil Collins vor sich zu meinen glaubte !

Sehr emotionale Momente waren dann natürlich auch die Ballsaal-Szene mit der Discokugelbeleuchtung während The Cinema Show, der alte Mann in The Musical Box, der direkte Vergleich von Denis Gagné mit dem Peter Gabriel-Dia während The Battle Of Epping Forest, The Guaranteed Eternal Sanctuary Man mit der Dornenkrone, Apocalypse in 9/8 mit den Flammeneffekten (für die die Band erst seit einem Jahr zwei der weltweit letzten Originalprojektoren einsetzt) und natürlich die Explosion und gleichzeitige Verwandlung Denis‘ am Übergang des Liedes zu As Sure As Eggs Is Eggs samt dem fast schon religiös zu nennenden Lichtschwert-Finale.

Ein weiteres Highlight war natürlich auch (hier aber eher im lustigen Sinn) die Liveversion von The Battle Of Epping Forest – von Peter Gabriel damals gefürchtet, von Denis Gagné souverän vorgeführt – da übertraf meiner Meinung nach der Schüler sogar den Meister ! ! !

Beendet wurde das Konzert plangemäß mit The Knife – auch Peter Gabriel ist in seinen besten Tagen bestimmt nicht energiegeladener und „aggressiver“ über die Bühne gewirbelt als Denis Gagné ! ! !

Alles in allem war der Berlinbesuch von The Musical Box ein absolut gelungenes Konzerterlebnis, ich kann es kaum erwarten, bis die Kanadier The Lamb Lies Down On Broadway nach Deutschland holen ! ! !


Autorin: Karin Woywod