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The Musical Box – Berlin 2005 – Konzertbericht
2005 brachte The Musical Box die Show zu The Lamb Lies Down On Broadway nach Europa. Hier sind eure Fan-Berichte von den Konzerten.
Erst mal Hut ab vor den Herrschaften in Genesis, die sowohl die Musik als auch die Show konzipiert haben! ! ! – So, ich hab’s gesagt – – – und jetzt zu The Musical Box‘ Verdiensten.
Zeitreise vom Feinsten, es dauert nur ein paar Sekunden, und schon sind das da auf der Bühne nicht mehr Denis Gagné und Co., sondern Peter Gabriel und Genesis! Natürlich geht es um die detailgetreue Kopie – aber es muss hier endlich auch mal gesagt werden: die Kanadier sind verdammt gute Musiker und Showleute, um so was hinzukriegen!
Phil Collins hat nach seinem Gastspiel bei The Musical Box sinngemäß gesagt, The Musical Box würden zwar wesentlich besser als das Original spielen, aber dafür hätten sie die Sachen ja schließlich auch nicht geschrieben ! – Ich frage mich aber, was schwerer ist – sein eigenes Konzept durchchoreografiert auf der Bühne durchzuziehen und dabei man selbst zu bleiben – – – oder dieselbe Qualität abzuliefern, dabei aber die ganze Zeit jemanden anderen spielen zu müssen. Wer Denis Gagné, den Sänger, auch mal privat gesehen hat, der merkt, dass nicht eine Bewegung während der Lamb-Show seine eigene ist, jedes Zucken des Mundwinkels, jedes Vorschieben der Unterlippe, die Art wie er einfach nur von einem Schauplatz zum anderen läuft, wie er sich bewegt, wie er tanzt – alles nur “Gabrielismen” !
Und verdammt noch mal, der Kerl ist gut! Selbst, wenn er – wie in Berlin geschehen – mit einer Erkältung zu kämpfen hat, bringt er jede subtile Gesangsstelle herüber, so wie sie sein soll, und ist bei den kraftvollen sogar besser als Gabriel. Wenn man mal die Gesangsqualitäten des Leadsängers mit derjenigen von Gabriel seinerzeit vergleicht, so fällt auf, dass Gagné gleich bleibend Superleistungen liefert, egal, was die Gesangsstelle gerade fordert: Feinheit oder notengetreuen Powergesang – während Gabriel selber damals in seinen Livegesangqualitäten doch äußerst schwankend war, seinen Text durcheinander brachte und die hohen Töne nicht immer traf – manchmal blieb ihm auch einfach die Stimme weg – menschlich verzeihlich, aber doch hörgenussschmälernd. Hingegen die einzigen Male, bei denen man Denis‘ Erkältung bemerkte, waren am zweiten Berliner Abend die ruhigeren Parts von The Lamia und die einleitenden Parts bei The Musical Box, da blieb ihm etwas die Luft weg, so dass seine Stimme nicht genug trug. Der einzige weitere Fehltritt geschah übrigens ebenfalls am zweiten Abend in Berlin: Während eines Sprungs vom hinteren Bühnenpodest aus ans vordere Mikrofon rutschte Denis aus und schlug der Länge nach hin – nicht jeder im Publikum dürfte allerdings gemerkt haben, dass das nicht Teil der Show war!
Nachdem wir die Negativa abgehandelt haben, kommt jetzt nur noch Positives. Meine Empfehlung: Geht und seht Euch diese Band an ! Geht dabei möglichst nicht in die vorderen Reihen, so etwa ab der achten Reihe dürfte der Genuss lohnender sein. In Berlin mussten wegen einer baulichen Gegebenheit die Diawände viel niedriger als sonst aufgehängt werden, so dass sich die Musikerfiguren direkt davor abzeichneten – meiner Meinung nach sogar ein Plus!
Ihr werdet überrascht sein von der Klangqualität: laut, doch niemals breiig – fast jedes Instrument und jeder Effekt einzeln heraushörbar. Ihr werdet überrascht sein von der Dynamik der Musik – viele Stücke sind viel mitreißender als auf der Platte, herauszuheben wären da In The Cage und The Waiting Room. Letzteren habe ich übrigens damals auf Kassette oder CD immer “weitergespult” bzw. weggedrückt, so sehr “hasste” ich das Stück. Und jetzt bin ich von der Präsentation des Evil Jams ( = der Liveversion von The Waiting Room) von The Musical Box stark begeistert, so viele Strukturen, so viele interessante “Texturen” und Fragmente, so viele schräge Sounds, langsam kommt Rhythmik und eine gewisse Einheit in die Sache, das Publikum wird von der Bühne her erleuchtet / geblendet, und dann am Ende die Projektion des Schattenriss der Figur des “Todes” im Nosferatu/Stachelkronen-Kostüm – absolut gänsehautverursachend, schaurig-schön !
Die Instrumentalisation des gesamten Abends ist unvergleichlich, man weiß gar nicht, welchen Virtuosen man zuerst nennen soll: Sébastien Lamothe an Bässen und Gitarren, den Keyboarder Éric Savard oder den allerdings (wie seinerzeit Hackett? ? ?) etwas unterforderten, weil selten eingesetzten Gitarristen François Gagnon.
Besonderes Lob gebührt allerdings dem Schlagzeuger und Backing – Vokalisten Martin Levac. Peter Gabriel hat einmal über seine erste Begegnung mit Phil Collins gesagt, “Just the way he sat down on the stool, I knew that he was gonna be good. There’s some people who just have some sort of confidence about what thay do.” (“Allein die Art, wie er auf dem Schlagzeughocker Platz nahm, sagte mir, dass er gut sein würde. Einige Leute strahlen einfach eine gewisse Selbstsicherheit in ihrem Tun aus.”) Dasselbe gilt für Martin Levac.
Während des Konzertes zieht mehrmals sein kraftvolles, unendlich kompliziert erscheinendes, packendes Schlagzeugspiel (oder die ungewöhnlichen Perkussionen und Effekte) die alleinige (und bewundernde) Aufmerksamkeit des Konzertgängers auf sich. Und dazu kommt noch, daß Martin so total in seine Rolle geschlüpft ist, dass es geradezu unheimlich ist! Dank Martin fällt einem zum ersten Mal auf, wie viel kleine stimmliche Collins-Beiträge es in diesem Konzert gibt – das geht von einigen geplanten komischen “Zwischenrufen” über Oberstimmen-Backing-Vocals im Duett mit dem Leadsänger bis hin zu einigen wenigen kurzen Hauptstimmenmomenten – jeder Beitrag, jede Mimik, jede Gestik so stark “Phil-Collins-mäßig”, daß es einem schaudert dabei !
Und Martins Gesangeinlagen sind gut, mindestens genauso gut wie das Original, und zum ersten Mal wird einem bewusst, welch starken Anteil Phil’s Stimme an dem Konzertgesang-Klangerlebnis hatte, und man versteht zum ersten Mal, warum nach Peter Gabriels Weggang plötzlich alle behaupteten, Phil Collins klänge wie Peter Gabriel. Phil hat nie wie Peter geklungen, aber er hat stark wie das Gesanggemisch geklungen, das auf vielen Genesis-Songs verwendet wurde, und seine Stimmenreichweite lag weit oberhalb derer von Gabriel, so dass sich beide zu einer “SUPER-PETER”-Stimme vereinigten. Und genau dasselbe passierte an jenen zwei Abenden in Berlin – Denis‘ Stimme und die stimmlichen Akzente, die er setzt, sind schon sehr weitreichend, Martins Stimme ist hoch (aber überhaupt nicht kastratenhaft) und kraftvoll – – – aber zusammen sind sie DIE SUPERSTIMME schlechthin! ! !
Was noch ?
– – – Die Dias, die man vorher vielleicht nur zu 10 % kannte, die teilweise sehr beeindruckend, künstlerisch, emotional oder aber auch sehr explizit, sehr graphisch erotisch sind! Hairless Heart, In The Cage und Counting Out Time stechen da besonders hervor ! Die Dias beeinflussen sehr stark die Wirkung der Songs auf das Publikum!
– – – Die Lightshow und die Effekte. Leider kam die Pyrotechnik in Berlin nicht zum Einsatz, ich hätte doch sehr gerne mal gesehen, wie Rael einen Molotow-Cocktail auf den Bühnenfelsen “wirft”. Aber die “Streiflichtereffekte” während In The Cageoder die Sequenz kurz vor It, wo nach einer kurzen Dunkelperiode das Publikum mit Stroboskopblitzen geblendet wird und auf einmal an jedem Ende der Bühne insgesamt zwei Raels herumstehen (kleiner Tipp, vom Publikum aus ist der Linke der wahre Rael) – generell alle Stroboskop und Blendungseffekte – sind sehr beeindruckend. Und die Farblichter tragen doch sehr zur Atmosphäre bei!
– – – The Slipperman – grotesk und grandios – genug gesagt! ! !
Also: auf zum ganz besondern Konzerterlebnis, auf zur Zeitreise (süßliche Rauchschwaden aus dem Publikum inbegriffen) – auf zu The Musical Box ! Nützt den Moment, so lange er währt, eine DRITTE Chance wird es wohl nicht geben! ! !
Autorin: Karin Woywod