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The Ant Band – Das „Slow Dance“-Projekt zum Anthony Phillips Event: So fing alles an
Vier Herren mittleren Alters starten im Oktober 2013 ein gemeinsames Projekt: Sie wollen innerhalb von weniger als sechs Monaten ein Instrumentalstück für einen einzigen Auftritt beim Anthony Phillips Event einstudieren.
Vier Herren mittleren Alters starten im Oktober 2013 ein gemeinsames Projekt:
Sie wollen innerhalb von weniger als sechs Monaten ein Instrumentalstück für einen einzigen Auftritt einstudieren.
Soweit klingt das erstmal nicht besonders spektakulär; erst wenn man die näheren Umstände etwas beleuchtet, kann man in etwa erahnen, welche Herausforderung hinter diesem Vorhaben steckt: Das Stück, um das es sich handelt, ist der erste Teil des ersten Teils von Slow Dance, der Beginn des gleichnamigen Albums von Anthony Phillips aus dem Jahr 1990, das aus zwei ca. 20minütigen instrumentalen Suiten besteht. Die vier Musiker mit ganz unterschiedlichen Backgrounds kennen sich untereinander kaum oder nur flüchtig – was war passiert, dass diese „Schnapsidee“ Realität werden konnte?
Martin Brilla erinnert sich:
„Anfang Oktober gab der Fanclub bekannt, dass es im März 2014 ein ANTHONY PHILLIPS-Event in Welkers geben sollte – mit Ant höchstpersönlich. Für mich als langjährigem Fan war klar, dass ich mir das nicht entgehen lassen konnte. Es gab einige im Forum, die sich wie ich freuten. Bei bloßer (Vor-) Freude sollte es allerdings nicht bleiben.“
Denn in der Ankündigung des Fanclubs ist zur Überraschung aller zu lesen:
„Wie allgemein bekannt ist, spielt Anthony ja nicht (mehr) live vor Publikum – und daher wird es auch kein Konzert mit ihm geben. Wir haben aber dennoch vor, Phillips-Livemusik auf die Bühne des Bürgerhauses zu bringen. […] Daher die Bitte an alle Musiker unter euch: Hört euch Phillips-Alben an und probiert Stücke nachzuspielen, um sie im März in Welkers auf die Bühne zu bringen!“
Martins ursprünglicher Favorit ist die Scottish Suite vom Album Private Parts & Pieces II ? Back to the Pavilion:
„Den OpenerSalmon Leap fand ich schon immer faszinierend. Aber dazu hätte man eine richtige Band gebraucht – mit Schlagzeug und Bass (den spielt da ein gewisser Mike Rutherford). Außerdem schienen mir die Anforderungen an den Keyboarder nicht ohne zu sein, weshalb ich davor zurückschreckte. Dann kam ich aufSlow Dance.“
Sascha Krieger erinnert sich an den Aufruf im Forum:
„Der wagemutige und mit allen Wassern gewaschene Martin Brilla hatte die dufte Idee, man könne doch dieses leicht zu spielende, nur aus circa drei Noten bestehende Kleinod des phillipschen Schaffens mit einzwei Mann nach einzwei Proben einzweimal beim Fanclubmeeting spielen. Wird schon nicht so schwer sein. Ist ja nicht Varese. Sah ich genauso und schnell war man sich einig: Läuft.“
Außer Sascha melden sich Peter Musto und Thomas Waltner, letzterer bietet sogar seine Wohnung in Solingen für Proben an und wird schnell musikalisch aktiv:
„Er hatte alles transkribiert, was mich freute, denn das ersparte mir viel Arbeit, die mit dem Heraushören zwangsläufig verbunden gewesen wäre?, berichtet Martin. ?Allerdings kam dann der Perfektionist in mir durch: Die so wichtigen, weil prägenden Akkordfolgen am Anfang, die überdies später wieder aufgenommen werden, hatte er nicht hundertprozentig getroffen. So wollte, nein konnte ich es nicht lassen. In der Konsequenz versuchte ich Weihnachten 2013 stunden-, nein tagelang, die Akkorde genauso aufzuschreiben, wie sie im Original waren. Das war auch deshalb so schwierig, weil die Sounds so wunderbar „waberten“ und sie zudem mit einem Rauschen versehen waren. Am Ende des 1. Weihnachtsfeiertages hatte ich ’schon‘ die ersten 30 Sekunden fertig…“
Thomas gibt das unumwunden zu:
„Ich hatte kurz vor Weihnachten mal das Stück mit einem Freund zusammen durchgespielt, und dabei sind doch noch ein paar Fehler aufgefallen, Sachen, die ich falsch notiert hatte. Hauptsächlich falsche Vorzeichen am Ende des Stückes, aber auch ein paar mal Akkordbezeichnungen ohne Kreuzchen (eigentlich so auffällig, das man es wieder übersieht…).“
Peter ahnt angesichts der Noten inzwischen, was da auf ihn zukommt – man wird um gemeinsame Proben nicht herum kommen. Da er in Berlin wohnt, ist das aufgrund der Entfernung natürlich ein Problem für ihn. Er schlägt daher vor, dass Thomas‘ Freund statt seiner an den Proben teilnimmt, doch der will nicht. Thomas heuert daher kurz nach Weihnachten Tom Morgenstern an, von dem er weiß, dass dieser Gitarre spielt und ebenfalls im Rheinland wohnt. Damit sind die Proben kein großes logistisches Problem mehr, außer für Sascha:
„Solingen. War für die anderen „um die Ecke“, für mich am anderen Ende der Welt. Also eine dreistündige Fahrt. Dafür – und so schlagen Ying und Yang immer wieder gnadenlos zu – wohne ich nur 20 Minuten vom Nabel der (Fanclub-) Welt entfernt. Um die Ecke von Welkers. Zauberschaum.“
Drei Monate sind also schon vergangen; die erste Umbesetzung ist erfolgt und noch hat man nicht zusammen geprobt. Der Termin steht jedoch: am 12. Januar sollen sich die vier erstmals in Solingen treffen. Martin hat die wesentlichen Parts inzwischen fertig. Tom wartet Anfang Januar jedoch immer noch auf seine Tabulaturen, denn er kann keine Noten lesen. Als er sie schließlich eine Woche vor der ersten Probe bekommt, muss er feststellen:
„Die waren praktisch unbrauchbar. Klar, Thomas war gelernter Keyboarder und verstand nicht viel von Fingersätzen für Gitarristen. Außerdem stellte ich fest, dass Ant im Original doch einiges mehr spielt – statt einzelner Noten waren dort Arpeggios zu hören, die ganze Akkord-Griffe voraussetzten. Ich musste mir die Parts also in kürzester Zeit selbst erarbeiten. Schließlich wurde ich auch noch gefragt, ob ich nicht zufällig auch Keyboards spiele, denn sie brauchten noch ein weiteres für den Schluss. Da hatte ich die Idee, dafür meine ‚YouRockGuitar‘ mitzubringen, ein Gerät, das entfernt an ein Gitarre erinnert, sich auch ähnlich bespielen lässt und mit dem man einen Synthesizer per MIDI ‚fernsteuern‘ kann.“
Sascha kann ebenfalls keine Noten lesen und hört sich die Akkorde selbst heraus:
„Zum Glück hatte Tom die Leadgitarre und die anderen Jungs die Keys und Blasinstrumente übernommen und ich konnte so auf den Pfaden von Mike Rutherford wandern und mich immer schön im Hintergrund verschrammeln. Nicht mal Basspedale musste ich spielen. Perfekt. Das hatte den Vorteil, dass ich bei den Proben staunend Zeuge werden konnte, wie wunderbar Thomas das ganz Stück im Überblick hatte, um uns sozusagen als ‚Clonmeister‘ von Ant die Sache unheimlich geduldig und detailverliebt in die Gehirnwindungen zu schieben. Pausen bestanden aus Gebäckstücken und Kaffee und Tee. Es war fast wie im legendären ‚Cottage‘! Nur im 4. Stock, in Solingen und?.naja, nicht im Cottage. Aber schön trotzdem. Weitere Pluspunkte: Thomas war ein Fan von alten Keyboards und altem Equipment. Gab also immer was zu bestaunen.“
Es finden sich insgesamt nur drei oder vier gemeinsame Probentermine mit allen vier Musikern. Sascha muss aufgrund der großen Entfernung ein paarmal passen und sofort fällt den übrigen drei auf, dass damit ein wichtiges Bindeglied fehlt, denn sein Gitarrenpart läuft, abgesehen vom Intro, das gesamte Stück durch. Die Proben ohne ihn sind daher weniger effektiv. Erst bei der vorletzten Probe schaffen es die vier erstmals, das Stück ohne Fehler durchzuspielen.
Rückblickend bedauert Martin, nicht mehr Zeit gehabt zu haben:
„Ich hätte lieber das gesamte Album kompositorisch auf 10-15 Minuten ‚komprimiert‘ und diese Zusammenfassung dann live dargeboten. Das wäre für mich eine fantastische Herausforderung gewesen. Ob ich sie gemeistert hätte, steht auf einem anderen Blatt. Es hätte angesichts der engen Terminsituation ohnehin nur dann funktioniert, wenn ich sofort mit der Arbeit begonnen hätte. Und Urlaub genommen hätte, um genügend Zeit dafür zu haben. Was als Selbständiger natürlich vollkommen illusorisch war. Aber man wird ja noch träumen dürfen…“
Sascha denkt gern an die beiden Auftritte in Welkers zurück:
„Es gibt ja ein Video davon und ich finde, wir haben es wirklich gut hinbekommen. Und Ant hat’s auch gefallen. Einfach klasse, dass er sich die Zeit nahm und wirklich nach jeder Performance noch ein paar Worte dazu sagte. Das weiß man als Musiker, der wirklich Zeit und in meinem Falle auch Kilometer in die Sache gesteckt hat dann echt zu schätzen. Snapshot Tag 2: Ich reiße, nachdem ich den Windsound beim Intro auf Thomas‘ Synthi mache, beim Zurückgehen zu meinem Hocker die Flöte mit meiner offenen Jacke zu Boden. Aua, aua, sehr peinlich. Die Performance kam mir etwas….im Hessischen sagt man: ‚hingehuddelt‘ vor.“
Schon während des Events kommt bei den vier Musikern die Idee auf, das Stück „einmal richtig“ aufzunehmen – Toms Dachboden-Studio bietet sich dafür an. Ein Termin ist schnell gefunden, schon drei Wochen später trifft man sich wieder. Für das Arrangement sieht Thomas im Vorfeld drei Möglichkeiten:
„1. Genau so gespielt wie beim Gig.
2. Ein paar Details mehr ausarbeiten (zum Beispiel die dritte Gitarrenstimme am Anfang tatsächlich als dritte Stimme aufnehmen, die Akkorde da nicht weglassen; Querflöte auspielen, Keyboards von mir in der Mitte komplett spielen, das Flöte/Oboe-Duo kurz vorm Ende wirklich mit Querflöte und Blockflöte aufnehmen). Solche Dinge, die live nicht gingen.
3. Andere Sounds ausprobieren; z.B. Martins Sampler am Schluss einsetzen (würde dann realistischer nach Streichern klingen). Oder ich bring das Mello mit und wir doppeln ein paar Sachen. Mit Mellotron würde es umgekehrt mehr »retro« klingen, also wie aus der Zeit von ‚Geese & the Ghost‘. Kann interessant werden, vielleicht passt’s aber auch gar nicht so gut. Es wird auf jeden Fall ganz anders klingen als der Crumar Stringsynthesizer oder Martins JX 3P, wärmer, vintage, aber auch etwas mehr out-of-tune. Da muss halt schauen, ob es passt, oder ob zum Beispiel manche Akkorde einfach nicht gut klingen (die Violinen klingen im C#, also die Einzeltöne, irgendwie leicht schief, leider) ? oder ob man verschiedene Sounds mal ausprobiert. Ich hab Cello, 3 Violinen, Flöte (die ja schon mal ganz anders als eine echte klingt), Kirchenorgel und den gemischten Chor. Genau, den berühmten…;-)
Da könnte man ein paar lustige Dinge durchprobieren. Da Spurenzahl ja kein Problem darstellt, kann man ja alles aufnehmen und beim Mix entscheiden, was geht und was nicht. Oder was am interessantesten klingt. Da wir ja gut eingespielt sind sollte es, selbst man jetzt sehr genau sein will, nicht ewig dauern, die Spuren einzeln aufzunehmen. Ich bin mir da doch ziemlich sicher.“
Am Sonntag, 13. April 2014 findet dann die Studio-Session statt. Das Mellotron schafft es (in Einzelteilen) ohne Schrammen auf den Dachboden und ohne größere Pannen werden zunächst die Basic-Tracks von allen zusammen live eingespielt, danach macht man sich an zahllose Overdubs. Sascha spielt zwei Spuren mit Toms 12-saitiger Ovation ein und hat auch eine Hand frei für den flirrenden Synthie-Sound am Anfang, er und Thomas bedienen das Mellotron abwechselnd, Martin fügt ein Piano hinzu, Tom seinen bundlosen Fender Jazz-Bass und zum Schluss packt Thomas noch sein Glockenspiel aus. Dann ist der Tag auch schon vorbei, zurück bleiben fast 30 aufgenommene Spuren im Pro Tools, die „irgendwann“ einmal abgemischt werden sollen. Tom will jedoch zuerst sein Studio komplett umbauen und für 5.1 Surround tauglich machen. In den Wochen danach geht es aber zunächst darum, den Stereo-Mitschnitt der Live-Aufführung zu bearbeiten; dafür kann Tom einige Synthie-Spuren von der Studio-Aufnahme verwenden, die im Mitschnitt leider untergegangen waren. Thomas schneidet die von drei Kameras gefilmten Videos meisterlich zusammen und veröffentlicht das Ergebnis im Dezember 2014 auf YouTube.
Damit scheint das Projekt zunächst einmal beendet. Man begegnet sich gelegentlich bei Konzerten oder anderen Fanclub-Events, aber die Abmischung der Studioaufnahme hat keine große Priorität.
Dass sie nun, fast vier Jahre später, doch noch fertig geworden ist, ist allein dem traurigen Umstand zu verdanken, dass Thomas Waltner vor einem Jahr überraschend gestorben ist, nur ein paar Tage nach seinem 52. Geburtstag. Wieder ist Martin hier der Initiator – er regt Anfang des Jahres an, die Aufnahme zusammen mit den kurzen Videos, die Sascha und Thomas selbst während der Studio-Session gedreht haben, pünktlich zu Thomas‘ erstem Todestag am 13.2.2018 zu veröffentlichen.
Sascha gebührt das Schlusswort:
„Man könnte jetzt natürlich sagen, wie schön es war, Thomas kennenzulernen und dass einem keiner die Erinnerungen an diese Zeit nehmen kann und dass es natürlich ein Schock war. Ist auch so und stimmt auch so, aber ich empfand es hauptsächlich als eine ganz große Ungerechtigkeit und ein Armutszeugnis für… keine Ahnung, ob man es ‚Schicksal‘, ‚Bestimmung‘ oder ‚den lieben Gott‘ nennt, dass Thomas schon in diesem Alter gehen musste. Ein großer Fehler von dem, der das große Sagen hat. Ironie des Schicksals – Thomas mochte ‚Fehler‘. Er sagte mir, dass er immer den ‚fehlerhaften‘ Klang eines echten Mellotrons dem ‚perfekten‘ Klang eines digital erzeugten Mellotronsounds vorziehen würde. Die Fehler würden den Klang lebendig machen. Da ist was dran. Apropos Mellotron: Es war eine Ehre mit Martin, Tom und Thomas das fehlerhafte aber lebendige und gar nicht leichte Mellotron von Thomas die Treppen in Toms Haus hochzuschleppen. Wenn’s möglich wäre würde ich sagen: Jederzeit wieder!“