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Steve & John Hackett – Sketches Of Satie – Album Rezension
Im Jahr 2000 veröffentlichten Steve und John Hackett ein gemeinsames Album, auf dem sie sich der Musik von Eric Satie widmeten, einem französischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Bernd Vormwald hat seinerzeit das Album rezensiert.
(ursprünglich auf unserer Website veröffentlicht in 2000)
Steve Hackett schreibt im Booklet von Sketches Of Satie: „John und ich haben lange über ein Projekt mit Stücken von Satie geredet. Die Frage war: Ist ein Orchester erforderlich, oder nutzen wir die Möglichkeiten unserer Lieblingsinstrumente zur Erzeugung eines Klanggemäldes, das der Klavierkompositionen würdig ist? Beide Wege hätten eine Rückkehr zu unseren musikalischen Wurzeln bedeutet, als wir erstmals ‚atmosphärischer Musik‘ gewahr wurden. (…) In unserer Familie existierte immer eine Liebe zur Musik, aber nicht speziell für Klassik. Wir fanden unseren Weg zu dieser Musik selbst, ohne gedrängt worden zu sein. Für uns war Satie definitiv ein Mann, der seiner Zeit voraus war. Es wimmelt von ‚unmöglichen‘ Modulationen (= Tonartwechseln), und die Minimal Music wurde genauso von ihm inspiriert wie die Jazz-Musik. (…) Die Umsetzung der Klavierstücke auf Gitarre und Flöte ist kein unproblematisches Unterfangen. Die Original-Tonarten sind hervorragend für die Flöte geeignet, liegen jedoch außerhalb des Gitarren-Tonumfangs … Ich stimmte meine Gitarre eine ganze Oktave tiefer als gewöhnlich, so dass sie den Klavier-Tonumfang erreichte. So war es möglich, den häufig komplizierten Harmonien die nötige Klangfülle zu geben. Besonderer Dank: Dieses Projekt wäre unmöglich gewesen ohne Sally Goodworths Aufzeichnungen über die Original-Tempoangaben, verbunden mit Roger Kings unglaublicher Geduld und Konzentration während der Aufnahmen. (…) Ich kann meine Freude kaum beschreiben, dass alles so gut lief und dass dieses längst überfällige Album nun fertig ist. Vielleicht lehne ich mich ja zu weit aus dem Fenster, aber ich glaube, John hat noch nie besser geklungen. Er ist offensichtlich geboren, um Satie zu spielen – ich bin mir sicher, Ihr seid alle meiner Meinung! Ich hoffe, Ihr seid ähnlich wie wir gefangen in diesen frühen Jahren und in der Schönheit der Stücke von einem der originellsten Komponisten Frankreichs.“
Steve Hackett und Erik Satie? Das passt zusammen! Beide, Satie wie Hackett, sind im wahrsten Sinne des Wortes progressive (= fortschrittliche, sich entwickelnde, innovative, experimentelle, gegen traditionelle Formen rebellierende) Musiker. Satie beglückte seine geneigten Hörer mit Stücken, die man mit Begriffen wie eigenwillig, ungewöhnlich, bizarr, revolutionär usw., eben progressiv umschreiben kann. Wer Steve Hacketts Schaffen von den 70ern bis heute verfolgt, findet genügend Beispiele, für die dies ebenfalls zutrifft: Die Stücke Slogans, Myopiaoder Omega Metallicus, denen ob ihrer Eigentümlichkeit weder großer kommerzieller Erfolg noch große Bekanntheit zuteil wurde (was jedoch herzlich wenig über die Musik aussagt!), seien einmal stellvertretend genannt. Von Saties Werken erreichte lediglich die Gymnopédie No.1 einen gewissen Bekanntheitsgrad, mit dem Rest seines üppigen Schaffens beschäftigen sich nur Insider. Dieses Schicksal wird wohl auch dem Album Sketches Of Satie zuteil, das Steve mit seinem Bruder John anno 1999 einspielte und Anfang Mai 2000 veröffentlichte: Die Klassik-Fans werden’s kaum erfahren, die Hackett-Fans interessieren sich womöglich mehr für Alben wie Darktown. Wie auch immer – Sketches Of Satie ist mit seinen gelungenen Gitarre/Flöte-Adaptionen ursprünglicher Satie-Klavierstücke ein großartiges und außergewöhnliches Album von mitunter spröder Schönheit, das es verdient hat ein größeres Publikum zu erreichen. Wer diese auch klanglich herausragende CD nicht (nach durchaus anstrengendem erstmaligen Hören) im Regal verstauben lässt, wird nach und nach eine wunderbare Welt entdecken. Dem Vergleich mit anderen Satie-Einspielungen aus dem Klassik-Bereich halten die virtuosen Gebrüder Hackett allemal stand. Sketches Of Satie lässt sich im hackettschen Musikkosmos bei Alben wie Bay Of Kings, Momentum oder A Midsummer Night’s Dream eingliedern (nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch Steves Auftritt als Solist im Rahmen einer Aufführung von Vivaldis Gitarrenkonzert im Londoner South Bank Centre mit dem London Chamber Orchestra im Jahre 1997).
Kritisch zu sehen ist im Grunde lediglich die mitunter logisch nicht nachvollziehbare Reihenfolge der Stücke (Willow Farm kommt ja schließlich auch nicht vor Lover’s Leap …), aber die Erbauer unserer CD-Abspielgeräte haben dieselben zum Glück mit Programmierungsvorrichtungen versehen, so dass dieses einzige Manko von Sketches Of Satie schnell behoben ist. Die (bis auf Gnossiennes No. 5 und No. 6), chronologische Programmier-Reihenfolge für die folgende Besprechung lautet: 6, 5, 4, 3, 2, 1, 13, 14, 15, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 16, 17, 18, 19, 20.
Trois Gymnopédies (1888)
No. 1: Lent et douloureux
No. 2: Lent et triste
No. 3: Lent et grave
Im Beiheft zu Sketches Of Satie erzählt Steve Hackett zu Gymnopédie No. 1: „Ich habe rund zehn Jahre gebraucht, um herauszufinden, wer diese Melodie geschrieben hat, die mir nicht mehr aus dem Sinn ging. Ich summte sie unentwegt jedem auch nur annähernd musikalischen Menschen vor, und als ich es letztendlich herausfand, konnte mir niemand, nicht einmal die Franzosen, erklären, was ‚Gymnopédie‘ bedeutet. Mit der Zeit habe ich herausgefunden, dass sich dies auf eine mit Tänzern verzierte griechische Urne bezieht … Möglicherweise ist dies Akademikern wohlbekannt, aber es für sich selbst zu entdecken, war eine viel größere Erfahrung.“ Ähnlichkeiten zu Steve Hacketts (im doppelten Wortsinne) Klassiker Kim lassen sich im Falle aller drei Gymnopédies nicht von der Hand weisen. Wenn man so will, hat Hackett mit Kim den drei Gymnopédies quasi eine vierte hinzugefügt!
Die französische Bezeichnung „lent“ wird in unserem musikalischen Sprachgebrauch zu „lento“ und bedeutet soviel wie „langsam und gedehnt“. Die Zusätze „douloureux“, „triste“ und „grave“ sind wohl eher der satirischen Ader Saties zuzuschreiben, da im Grunde alle drei Bezeichnungen mehr oder weniger das Gleiche bedeuten und den Pianisten (oder hier Gitarristen und Flötisten) entsprechend auf die gleiche Interpretationsfährte locken – wer vermag klanglich „schmerzhaft“ von „traurig“ oder „schwer“ zu unterscheiden? Alle drei zärtlich-zerbrechlichen, verträumten und warmherzigen Gymnopédies lassen spüren, dass sich hinter der oft zickigen Schale Saties ein gefühlvoller und harmoniebetonter Mensch versteckte, ein ganz anderer als der, den man ob seiner oft spitzen Kommentare vordergründig vermuten konnte. Saties „Hit“ GymnopédieNo. 1 ist aus Funk und Fernsehen allseits bekannt, da die Württembergische Versicherung ihre Dienste mit der Untermalung durch dieses Stück anpreist. Und sooo arg traurig, wie uns der Titelzusatz „triste“ suggerieren will, ist Gymnopédie No. 2 eigentlich gar nicht, im Gegensatz zu Gymnopédie No. 3.
Die Herren Keith Anderson und Tilo Kittel schreiben im Beiheft zur CD The Best Of Erik Satie (Naxos 8.556688): „Der merkwürdige Titel Gymnopédies nimmt auf feierliche Kulttänze nackter Knaben im alten Griechenland Bezug (gymnos = nackt, paidos = Knabe). Der gleichförmige Rhythmus nach Art eines langsamen Walzers erfüllt die drei Stücke mit nostalgischer Sehnsucht und schlichter Feierlichkeit.“ – Wohl gesprochen, werter Klassikfreund, dem ist wenig hinzuzufügen, außer dass von den Gymnopédiesauch Orchesterfassungen aus der Feder von Claude Debussy und einem gewissen Monsieur Roland-Manuel existieren, die von Woody Allen in dessen ’88er Film Another Woman (Eine andere Frau) eingesetzt wurden.
Gnossiennes (1890 – 1897)
No. 1: Lent (1890)
No. 2: Avec Étonnement (1890)
No. 3: Lent (1890)
No. 4: Lent (1891)
No. 5: Modéré (1889)
No. 6: Avec Conviction Et Une Tristesse Rigoureuse (1897)
Erneut seien Anderson/Kittel leicht erweitert zitiert: „Die Klärung des Titels Gnossiennes bleibt mehrdeutig: ‚Gnosus‘ ist der antike Name Kretas, ‚gnosis‘ bedeutet aber auch ‚Erkenntnis‘ oder ‚Urteil‘. Die Gnossiennes lassen Erinnerungen wach werden an die sagenumwobene, mysteriöse Welt der von der minoischen (nach König Minos) Kultur geprägten griechischen Insel Kreta mit ihrem am Orte Knossos (Schauplatz der Sage von Theseus und Ariadne) um 1900 v. Chr. erbauten bedeutenden und geschichtsträchtigen Palast und dem Labyrinth von Daidalos.“ Da die sechs Stücke, die unterschiedliche Stimmungen von bedrückt und traurig über melancholisch bis hin zu heiter und beschwingt verbreiten, bis auf No. 4 von einem leichten Sirtaki-Hauch umgeben sind, ist die auf dem Wort „Gnosus“ aufbauende Erklärung zu favorisieren. Kittel: „Die musikalische Nähe der Gnossiennes 1-3 zu den Gymnopédies ist deutlich spürbar. DieGnossiennes 4-6 unterscheiden sich durch ihre komplexere Harmonik und schwierigere Spieltechnik. Die Dur-Moll-Tonalität ist durch eine griechisch-orientalische, modale Harmonik ersetzt. Auffällig an diesen Stücken ist das Baukastenprinzip: Die kleinen Phrasen, aus denen die Kompositionen bestehen, scheinen beliebig wiederholbar und austauschbar zu sein.“ In den Gnossiennes-Notationen fehlen jegliche Taktstriche und es tauchen wieder Saties skurrile Spielanweisungen auf:
Gnossienne No.1: „du bout de la pensée“ = „den Kopf benutzen“ / „postulez en vous-même“ = „mit sich sorgfältig zu Rate gehen“ / „sur la langue“ = „auf der Zunge liegend“
Gnossienne No. 2: am Beginn „avec étonnement“ = „mit Erstaunen“ / am Ende „sans orgueil“ = „ohne Stolz“
Gnossienne No. 3: „conseillez-vous soigneusement“ = „lassen Sie sich sorgfältig beraten“ / „ouvrez la tête“ = „öffne die Gedanken“
Gnossiennes No. 4-6: Keine Instruktionen
Diesen Hinweisen außer vielleicht einem von Stirnrunzeln begleiteten Grinsen irgendeine Bedeutung beizumessen hätte wohl nichts weiter als ein Feixen der sterblichen Überreste von Erik Satie im Grabe zur Folge …
Pieces Froides (1893)
Airs À Faire Fuir I
Airs À Faire Fuir II
Danses De Travers II
Das tänzerisch-verspielte Airs À Faire Fuir I ist geprägt von seiner schwer definierbaren tragikomischen Atmosphäre, Airs À Faire Fuir II erklingt getragen und positiver als Airs À Faire Fuir I. Bizarre Dur/Moll-Wechselspiele sind das Hauptmerkmal von Danses De Travers II, das von Steve Hackett alleine gespielt wird.
Avant-Dernières Pensées (1915)
1. Idylle À Debussy
2. Aubade À Paul Dukas
3. Meditation À Albert Roussel
Diese drei „vorletzten Gedanken“ wurden erneut ohne Taktstriche notiert und von Satie mit seinen eigentümlichen Kommentaren versehen:
1. Idylle à Debussy
„Que vois-je? Le Ruisseau est tout mouillé et les bois sont inflammables et secs comme des triques mais mon coeur est tout petit.“ = „Was sehe ich? Der Bach ist ganz nass, und der Wald ist brandgefährdet und trocken wie Brennholz, aber mein Herz ist ganz klein.“
2. Aubade À Paul Dukas
„Ne dormes pas, Belle Endormie, ecoutez la voix de votre bien-aimé, il pince un rigaudon.“ = „Schlafe nicht, Dornröschen, höre die Stimme deines Geliebten, er spielt einen Rigaudon“ (Rigaudon = Tanz)
3. Meditation À Albert Roussel
„Le poète est enfermé dans sa vieille tour, voici le vent, le poète médite, sans en avoir l’air, tout a coup, il a la chair de poule, pourqoui?“ = „Der Dichter ist in seinem alten Turm eingeschlossen, der Wind weht, der Dichter meditiert, ohne dies mitzubekommen, plötzlich bekommt er Gänsehaut, warum?“ – Das Stück endet damit, dass der Poet „von den schlechten Versen und den bitteren Desillusionen Magenverstimmung bekommen hat.“ … „mauvais vers blancs et déillusions amères.“ (Äääh, wie meinen?!)
Ein gigantischer verbaler Wind der da über die drei kleinen aber feinen und eigentümlich-interessanten Stückchen fegt, bei denen sich Steve Hackett ohne die flötistische Unterstützung seines Bruders selbst begleitet – live bräuchte er dafür einen zweiten Gitarristen.
Nocturnes (1919)
No. 1 (Dedicated to Marcelle Meyer)
No. 2
No. 3 (Dedicated to Valentine Gross)
No. 4
No. 5
Kittel: „Diese Stücke gehören der späten Schaffensperiode Saties an, in der er versuchte, eine Situationsmusik zu schaffen, die der bürgerlichen Ausdrucksmusik völlig entgegengesetzt ist. Satie nannte sie musique d’ameublement, was soviel bedeutet wie, dass der Zuhörer der Musik nicht mehr Bedeutung zumessen soll als dem Mobiliar. Bevor seine Musik erklang, ließ er die Hörer bitten, sich so zu verhalten, als ob keine Musik gespielt würde – zu Saties Zeiten eine Revolution.“
In der Tat war Satie ein Revoluzzer, ein Vordenker, der seinen eigenen Weg fernab irgendwelcher Karawanen ging, die Heinz Rudolf Kunze in seinem Lied Meine eigenen Wege besingt. Um Saties Haltung und seine Verhaltensweisen wirklich nachvollziehen zu können, muss man sich eingehender mit seinem Leben und der Zeit befassen, in der er dieses Leben verbrachte.
Frédéric Castello schreibt über die Nocturnes: „Inzwischen hat Satie einen kompositorischen Stil entwickelt, den er dépouillement nennt: Abhäutung. Alles (seines Erachtens) Überflüssige ist weggelassen, und doch bleibt der Charakter des ‚Nachtstücks‘ erhalten – ein Beweis für die Behauptung, dass es nicht unbedingt nötig ist, große Effekte mit riesigen Arsenalen zu erzeugen.“
Die Schönheit und der Zauber der anspruchsvoll-bizarren und überaus interessanten Nocturnes, von denen Satie ursprünglich sechs geplant hatte, erschließen sich dem Zuhörer erst ganz allmählich. Ist die Vertrautheit erst einmal da, mag man sich von den Nocturnes gar nicht mehr trennen.
Die Zeichnung auf der Vorderseite des Covers, die uns Satie zeigt, stammt nicht von Kim Poor (die allerdings auf der Rückseite Steve und John skizzierte), sondern von einem unbekannten Künstler. Die Rückseite des Booklets lässt wehmütige Cover-Reminiszenzen an Duke-Zeiten aufkommen. Times were good … Auf dem Booklet-Privatphoto vom 24. April 1956 sind die Hackett-Brüder zu sehen – kaum verändert …
Und noch ein Fan-Wunsch …
Hallo Steve! Hallo John! Wagt Euch mit Eurem Schiff irgendwann mal wieder zweisam und mutig auf diese musikalischen Wasser, ob mit Cover-Versionen oder eigenen Stücken – völlig egal: Diese Art von Alben wird vielleicht nur ein kleine Zuhörerschar ansprechen, aber für diese sind sie wunderbare und bereichernde Begleiter auf dem Lebensweg als Musik-Genießer.
Tracklist:
1. Gnossienne No. 3 (2:24)
2. Gnossienne No. 2 (1:55)
3. Gnossienne No. 1(3:17)
4. Gymnopédie No. 3 (2:36)
5. Gymnopédie No. 2(2:52)
6. Gymnopédie No. 1 (3:54)
7. Pièces Froides No. 1 – Airs à faire fuir I (2:46)
8. Pièces Froides No. 1 – Airs à faire fuir II (1:36)
9. Pièces Froides No. 2 – Danse de travers(2:05)
10. Avant Dernières Pensées – Idylle à Debussy (0:56)
11. Avant Dernières Pensées – Aubade à Paul Dukas (1:10)
12. Avant Dernières Pensées – Méditation à Albert Roussel (0:54)
13. Gnossienne No. 4 (2:41)
14. Gnossienne No. 5 (3:19)
15. Gnossienne No. 6 (1:41)
16. Nocturnes No. 1 (3:30)
17. Nocturnes No. 2 (2:14)
18. Nocturnes No. 3 (3:36)
19. Nocturnes No. 4 (2:49)
20. Nocturnes No. 5 (2:26)
Gesamtspielzeit: 49:02
Sketches Of Satie erschien 2000 und ist bei amazon und JPC sowie iTunes erhältlich.
Erik Satie wurde am 17.5.1866 in Honfleur, Calvados in der Normandie geboren. Sein Vater war ein Bootshändler (und gründete später einen eigenen Verlag), von seiner Mutter ist nur ihre schottische Herkunft bekannt. Familie Satie zog nach Paris, doch nach dem Tod seiner Mutter 1872 ging Erik für sechs Jahre bis 1878 wieder zurück (zu den Großeltern) nach Honfleur. Von ca. 1879 an studierte er Musik am Pariser Conservatoire, bis er wegen mangelnden Fleißes 1886 von dort verwiesen wurde. 1888 entstanden, ermutigt von seinem Vater, die berühmten Gymnopédies. In den Folgejahren verdiente sich Satie seinen Lebensunterhalt, indem er in Cafés spielte und Kabarett-Musik schrieb. Er war Stammgast in der Künstler- und Intellektuellen-Kneipe Le Chat Noir, wo er unter anderem Claude Debussy kennenlernte und zum Freund gewann. 1898 zog Satie in die Pariser Vorstadt nach Arcueill, wo er bis an sein Lebensende wohnte. Von 1905 bis 1908 studierte er erneut, diesmal an der Schola Cantorum, und schaffte in diesem zweiten Anlauf auch sein Diplom. Ab 1911 wurde Erik Satie mehr Anerkennung zuteil, auch dank der Unterstützung von Musikern wie genanntem Claude Debussy und Maurice Ravel (bekannt durch seinen Bolero). Ab ca. 1918 scharte sich um Satie eine Gruppe gleichgesinnter Künstler, die neuen musikalischen Schönheitsidealen frönte und ab 1920 Les Six oder auch Les Nouveaux Jeunes genannt wurde. Ab 1923 ging es mit Erik gesundheitlich auch „dank“ zu tiefer Blicke ins Glas gesundheitlich abwärts, und 1925 raffte ihn schließlich eine Leberzirrhose dahin.
Das Neue Große Musiklexikon schreibt: Das auflehnende Verhalten gegen konventionelle Schemata des musikalischen Akademismus, das ihm in seiner Jugend die Verweisung vom Konservatorium bescherte, ist in gewissem Sinne das vereinheitlichende Moment in Saties musikalischem Schaffen:
a) Die extreme Freiheit in der Schreibart als hervorstechender Charakterzug in seinen Werken
b) Sonderbare, kuriose Titel und Stücke mit bizarren „Vexations“ (Vortragsanweisungen), z. B. „Leicht wie ein Ei“ oder „Hier kommt die Laterne“. Auf Debussys Aufforderung „Achte auf die Form deiner Kompositionen!“ reagierte Satie mit Trois Morceaux En Forme D’Une Poire ( = „In Form einer Birne“)
c) Neuartige Notation (in bemerkenswerter graphischer Klarheit und handwerklicher Perfektion) mit roter Tinte und ohne Taktstriche
Des weiteren schreibt das Neue Große Musiklexikon, dass Saties Wirken als musikalischer Vorläufer, was sich in übereinandergeschichteten Quartakkorden und nicht aufgelösten Septimen und Nonen zeige, die Kollegen Debussy, Ravel und andere beeinflusst habe.
Interessantes lässt sich auch dem Lexikon Die Musik entnehmen: Satie, der in ziemlicher Armut lebte, galt als Exzentriker, skurriler Einzelgänger und musikalischer Humorist. Sein eigenwilliger Humor zeigte sich z.B. in der Gründung der Église métropolitaine d’Art de Jesus conducteur – eine Art Kirche mit einer unglaublich üppigen Anhängerzahl, das einzige Mitglied war Satie selbst …
Welch schräger Vogel Satie war, zeigt sich auch im Stück Vexations („Belästigungen“), das aus 180 Noten besteht. Dies allein ist wenig spektakulär, im Gegensatz zur Anweisung, dass dieses Stück 840 mal zu wiederholen sei. Im Jahre 1963 wurde dies übrigens von zehn Pianisten in New York für bare Münze genommen: 18 Stunden dauerte das Ganze …
Als die seine Werke begleitenden Kommentare mehr Aufmerksamkeit erlangten als die Musik selbst, verlor Satie merkwürdigerweise seinen Humor und verbot die Rezitation dieser Anweisungen während der Aufführung.
Autor: Bernd Vormwald
Hauptquellen: Neues Großes Musiklexikon (Weltbild Verlag 1990), Die Musik (Christian Verlag 1979)