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Steve Hackett – To Watch The Storms – Rezension

Es gibt viele Vorurteile gegenüber (Ex-)Stars und Musiker jenseits der 50: Faul wären sie geworden, null Kreativität, Karikaturen ihrer Selbst undsoweiterundsofort. Und bei genauerer Betrachtung jener Altersgruppe muss man feststellen, dass diese verbalen Gemeinheiten mehr als oft der Wahrheit entsprechen…

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Es gibt viele Vorurteile gegenüber (Ex-)Stars und Musiker jenseits der 50: Faul wären sie geworden, null Kreativität, Karikaturen ihrer Selbst undsoweiterundsofort. Und bei genauerer Betrachtung jener Altersgruppe muss man feststellen, dass diese verbalen Gemeinheiten mehr als oft der Wahrheit entsprechen. Um so mehr macht es Freude, dass gerade einige Mitglieder der Genesis-Familienbande hier eine Ausnahme zur Regel bilden. Steve Hackett, seines Zeichens Genesis-Gitarrist von 1971 bis ’77, ist einer davon und beglückt seine alten und neuen Fans seit nunmehr 10 Jahren durch seinen wiedergewonnenen Hunger am Musikmachen, nachdem er nach einigen brillianten, musikalischen Ergüssen Ende der 70er in den 80ern in ein kreatives Loch plumpste. Nach einigen sehr unterschiedlichen Alben von Blues bis Klassik und vier Jahre nach seinem letzten „regulären“ Studio-Longplayer Darktown veröffentlicht er im Mai 2003 To Watch The Storms – sein 17tes Werk, lässt man diverse Live-Veröffentlichungen und Compilations außer Acht. Was kann man nun von einem Steve Hackett nach fast 35 Jahren musikalischen Wirkens erwarten? Innovation und Überraschungen? Eine vertraute „Back to the Roots“-Platte? Beim Hören wird einem klar, dass beide Erwartungen erfüllt werden…

Mit Hacketts mittlerweile eingespielter Tourbesetzung und einigen Gästen wurden 17 Songs eingespielt, von denen es 13 auf die reguläre CD-Veröffentlichung schafften (die vier restlichen sind auf der „special edition“ das Albums erhältlich). Anders als bei Darktown, dessen Songs allesamt die zu vermutende Stimmung widerspiegeln, wirbelt er mit dem neuen Album in puncto Vielfalt mehr Staub auf…

Strutton Ground (3:04)

Kann es einen untypischeren Album-Opener geben? Vermutlich kaum. Ganz unspektakulär und romantisch knüpft diese Nummer an längst vergangene Tage an. Akustische Gitarrenklänge und der eindringliche Chorgesang erinnern an frühe Genesis-Werke wie For Absent Friends oder Harlequin. Durch sehr dezent eingesetzte Keyboard- und Elektronik-Klänge umgibt den Song etwas vom Flair des Lamb Lies Down On Broadway-Albums. Klassiker-verdächtig!

Circus Of Becoming (3:48)

Hier könnte man fast meinen, Steve Hackett hätte sich mal wieder seine alten Alben der späten 70er durchgehört und sich inspirieren lassen. Nach den dramatischen Orgelklängen des Intros treffen Hackett-Fans auf ein altbekanntes Instrument namens Optigan (Infos unter www.optigan.com), einer Frühform heutiger Sampling-Technik, welches u. a. Klänge wie eine Begleitband der 20er oder 30er Jahre produziert. Die fast schon nostalgische Stimmung währen dieser Strophenteile wird immer wieder von der bombastisch einsetzenden „richtigen“ Band gekippt, und Steve lässt seine E-Gitarre „singen“.

The Devil Is An Englishman (4:27)

„All Change“! Ein komplett andere Baustelle betritt Hackett mit diesem Song! Ein stampfender LoFi-Beat einer Drummachine der 80er, ergänzt durch einen groovenden Synthiebass und unberechenbare Keyboard-Attacken bilden die Grundlange für Steve’s narrative Gesangsperformance, die man so von ihm bisher noch nicht zu hören bekam. Wie vom Teufel geritten steigert er sich mit verfremdeter Stimme immer mehr in seine „Devil“-Story hinein. Einen Ausgleich hierfür gibt uns die weibliche Stimme im Background. Auf häufige Harmonie- und Rhythmuswechsel wartet man hier vergebens, wären auch wohl fehl am Platze, wenn sich Steve in Trance schreit.

Frozen Statues (2:58)

Dieser ruhige und doch schwer zugängliche Song schafft es, in die Rolle des besungenen Objekts schlüpfen zu können. Spätestens bei dem jazzlastigen Trompetensolo spürt man die Einsamkeit und den kühlen Nebel, der einen umgibt.

Mechanical Bride(6:40)

Bereits live erprobt und auf CD und DVD konserviert präsentiert uns die Band einen zukünftigen Klassiker des Hackett-Repertoires. Wuchtig und mit virtuosem Drumming rockt uns durch die Boxen ein musikalisches Thema entgegen, welches wie zu Zeiten von King Crimsons 21st Century Schizoid Man einfach die Gehörgänge belagert und nicht wieder verlässt. Unterbrochen wird das Thema durch einen zurückhaltenden und bluesigen Gesangsteil, hinterlegt mit dramatischen Streicherpizzicatos, bevor das mit Saxophon unterstützte Riff wieder losdonnert. Ein Übergang (übrigens bekannt vom Live-Schlusspart des Klassikers Please Don’t Touch) leitet zum abwechslungsreichen Instrumental- und Solo-Teil über, dass von Jazzimprovisation über komplexe ausgearbeitete Melodiefolgen bis hin zu diversen Soundintermezzos den Bogen spannt, bis sich schlussendlich mit den Anfangsteilen der Kreis wieder schließt.

Wind, Sand And Stars (5:08)

Zeit für eine luftige Nummer! Dieses Instrumental beginnt lediglich mit anspruchsvoll gespielter klassischer Gitarre, lediglich mit einigen sphärischen Sounds unterlegt. Später kommen Streicher und Piano hinzu, welches so gespielt wurde, als hätte sich Genesis-Tastenmann Tony gemeinsam mit Steve an Trick Of The Tail-Zeiten erinnert.

Brand New (4:41)

Die Zeiten für Hitsingles für Altstars sind leider vorbei! Etwas gefälliger geremixt wäre dieses Song prädestiniert, um im Radio gespielt zu werden (einen offiziellen „radio edit“ kann man sich unter www.mp3.com/hackett anhören). Die Momente, in denen bei Hackett-Songs die eher üblichen melancholischen Töne einer fröhlichen Grundstimmung weichen, sind ohnehin rar gesät. Der Refrain mit fettem, eingängigem Chorgesang ist zumindest der Ohrwurm schlechthin. Das ungewohnt rhythmische, akustische Gitarrenpicking in der Strophe bietet einen angenehmen Soundkontrast. Und auch sonst hat Steve Hackett diesen Song mit allerhand Überaschungsmomenten gespickt. Kurzweilig!

This World (5:19)

Entspannter geht es bei der Ballade This World zu. Mit meist akustischer Instrumentierung und langsamen Beat spielt man sich hin zum majestätisch anmutenden Refrain mit eingängiger Chorlinie. Ein Solo mit E-Gitarre rundet den durchaus auch für Radioeinsätze geeigneten Song ab.

Rebecca (4:20)

Beginnend mit keltisch angehauchtem Gitarrenspiel bekommt der Song spätestens mit dem Einsatz eines Gesangsvocoders ein ungewohnt seltsames Flair. Und auch wenn alles auf eine pure Ballade hindeutet, wird man über den instrumentalen Mittelteil etwas erstaunt sein: eine recht mechanischer und tanzbarer Drumloop bietet hier die Basis für Improvisation auf elektrischer und akustischer Gitarre.


The Silk Road
(5:25)

Bis auf seine Experimente mit lateinamerikaischen Percussionisten auf dem Till We Have Faces-Album hielten sich Hacketts Worldmusic-Einflüsse in Grenzen. Hier stehen nun fern- & nahöstliche Percussions im Vordergrund. Der treibende Rhythmusteppich wird hier nur spärlich mit verfremdetem Gesang, Soundeffekten oder Gitarreneinsätzen ergänzt. Eine willkommene Abwechslung.

Come Away (3:13)

Ready to „schunkel“? Man kann es nur hoffen, denn bei einem Dreivierteltakt in diesem Tempo ist das wohl der einzig vernünftige Bewegungsablauf im Sitzen. Aber keine Angst: das hier ist keine billige Volksmusik, sondern vielmehr eine für Steve Hackett sehr untypische Folknummer mit voller, aber ungewohnter Instrumentierung. Akkordeon, Ukulele, Holz- und Blechblasinstrumente kommen bei diesem herzerfrischenden Song voll zur Geltung. Und ist die Melodie im Zwischenteil eine „singende Säge“? Gut möglich…


The Moon Under Water
(2:14)

Hier nun eine typische Hackettnummer auf klassischer Gitarre, die ohne weiteres auch auf einem seiner akustischen Alben zu finden hätte sein können.

Serpentine Song (6:56)

Bereits als Live-Version auf dem DVD/CD-Package erschienen, ist lässt dieser romantische Song die musikalische Reise auf diesem Album auf angenehme Art und Weise zu Ende gehen. Wieder ein Song, der stark an die ruhigeren Stücke der frühen King Crimson erinnert. Sanfter Mellotronteppich, Flötenklänge, langsamer Groove und mehrstimmiger Gesang in dieser Kombination strahlen eine unheimliche Wärme aus.

Fazit

Wow! Nach einer knappen Stunde neuer Musik des immer noch etwas unterschätzten Ex-Genesis-Gitarristen muss man wirklich erstaunt feststellen, dass es sich nach wie vor lohnen kann, sich den neueren Werken älterer Herrschaften zu widmen. Das Vorurteil, die „alten Sachen“ seien eh besser, kann man getrost über Bord werfen. Dieses Album hält ohne weiteres Vergleichen mit der Musik junger, als kreativ angepriesener Bands und Musikern stand. Und dieses Album kann, wenn es denn gehört werden sollte, bei Hackett-Fans, aber auch bei den Anhängern der anderen (Ex-)Mitgliedern von Genesis einen der oberen Plätze der Alltime-Favourites einnehmen. Zwar wurde hier fast gänzlich auf die sonst so typischen Instrumentals verzichtet, aber durch die Vielseitigkeit des Albums und Hacketts augenblicklicher Begleitband, die wirklich einen exzellenten Job macht, fällt dies überhaupt nicht ins Gewicht. Jenen unter Euch, die sich bislang mit Steve’s Solo-Karriere noch nicht befasst haben sollten, kann To Watch The Storms ein perfekter Einstieg in den musikalischen Kosmos Hacketts sein.

Autor: Steffen Gerlach