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Steve Hackett – Till We Have Faces – Album-Rezension
Steve Hacketts 1984er Soloalbum Till We Have Faces findet in der Fanwelt eher weniger Beachtung. Grund genug für Thomas Jesse, dies zu ändern und das Album genauer zu betrachten.
Hintergrund
Nachdem Steve Hackett Charisma, die von ihm mehr Verkaufszahlen erwarteten und er sich dadurch in seinen künstlerischen Freiheiten eingeengt fühlte, verlassen hatte, war mit „Lamborghini“ ein neues Label gefunden worden. Kein Major-Label, aber ein finanziell gut dastehendes Independent-Unternehmen. Für Steve bedeutet dies die Chance, kurz hintereinander zwei Alben zu veröffentlichen, die weit weg von seinem bisherigen Oeuvre und damit den Erwartungen seiner Fans lagen: Im November 1983 erschien das akustische Gitarrenalbum Bay of Kings und im Juli 1984 das von Weltmusikeinflüssen geprägte Till We Have Faces…. Kann man bei Bay of Kings noch viele Elemente seiner bisherigen Arbeit, nur eben unplugged umgesetzt, finden, wird es bei dem Nachfolger schwierig. So gilt Bay of Kings bei vielen Anhängern als sein schwächstes Werk, noch hinter Cured.
Der Titel wurde der letzten Novelle gleichen Namens von C.S. Lewis [1] entlehnt. War da nicht schon einmal etwas? Richtig! Steve huldigte auf Please Don’t Touch diesem Autor mit dem Song Narnia. Den Inhalt der Novelle bildet die Neuerzählung des griechischen Mythos um die Liebe zwischen Psyche und Cupido (Amor)[2] aus der Perspektive von Psyches Schwester Orual. Kim Poors Covergemälde lässt allerdings eher Assoziationen an die Überfahrt der Seelen der Verstorbenen über den Styx ins Totenreich, den Hades, aufkommen. Tatsächlich liegt ihm der Genesis-Song Silent Sorrow In Empty Boats [3] zu Grunde. Derart eingestimmt erwartet der Hörer ein Progressive-Rock Konzeptalbum ähnlich des Erstlings und wird überrascht.
Steve Hacketts damalige Frau Kim Poor [4] ist Brasilianerin. So verbrachte er viel Zeit in Kims Heimatland, lernte Geschichte und Kultur kennen. Er war fasziniert vom Rhythmus der Musik und fasste die Idee, für ein künftiges Album Songs mit brasilianischer Percussion-Untermalung aufzunehmen. Da es zu teuer war, brasilianische Percussionisten nach England zu holen, begab er sich 1983 vor Ort, um dort Teile seines Albums zu produzieren. Er stand jedoch von Beginn an vor einem Berg von Problemen: Es dauert Wochen ehe er das nötige Equipment beieinander hatte; ebenso schwierig war die Suche nach einem passenden Studio, das mit dem Som Livre in Rio gefunden wurde; die brasilianischen Musiker kamen nicht vor Mitternacht in Fahrt und hielten sich nicht unbedingt an die Songvorgaben. Anstrengende Nachtsessions folgten. Steve musste also viel improvisieren. Ruhe im Sturm war sein langjähriger Mitstreiter – Keyboarder Nick Magnus. Die zweite Hälfte des Albums wurde in London aufgenommen, wo auch das finale Mixing stattfand. Hieran arbeitete ein weitere Weggefährte, Produzent John Acock. Neben Nick Magnus wirkten viele brasilianische Musiker am Album mit. Erwähnenswert ist Ian Mosley am Schlagzeug, der schließlich bei Marillion seine musikalische Heimat finden sollte und an den Londoner Sessions beteiligt war.
Ausgaben (Auswahl):
LP Lamborghini – LMGLP 4000 (1984)
CD Lamborghini Records ?- CDLMG 4000 (1984)
CD Start Records ?- SCD 11 (1987)
CD Herald ?- HER 010-2 (1994, US) 2 Bonus Tracks / andere Songfolge
CD Camino Records ?- CAMCD09 (2002) 2 Bonus Tracks / CD-ROM Section w/ addit. MP3 tracks
CD Inside Out Music ?- IOMCD367 (2013) 2 bonus tracks and CD-ROM Section w/ addit. MP3
Teil des Boxset Broken Skies Outspread Wings (2018)
Single:
A Doll That Made In Japan 7′ (B-Seite: Dollinstrumental) und 12″ (B-Seite: Just The Bones).
Erwähnenswert ist, dass die Erstveröffentlichung auf Vinyl/CD eine andere Songfolge als die der späteren CD-Ausgaben ab 1994 aufweist:
Side One
01 Duel (4:50)
02 Matilda Smith-Williams Home For The Aged (8:04)
03 Let Me Count The Ways (6:06)
04 A Doll That’s Made In Japan (3:57)
Side Two
01 Myopia (2:56)
02 What’s My Name (7:05)
03 The Rio Connection (3:24)
04a Taking The Easy Way Out (3:49)
04b When You Wish Upon A Star (0:51)
Total time: 41:02
CD-Ausgaben ab 1994:
01 What’s My Name (7:04)
02 The Rio Connection (3:19)
03 Matilda Smith-Williams Home For The Aged (8:04)
04 Let Me Count The Ways (6:05)
05 A Doll That’s Made In Japan (3:56)
06 Duel (4:48)
07 Myopia (2:54)
08 Taking The Easy Way Out (3:48)
09 The Gulf (6:30)
10 Stadiums Of The Damned (4:37)
11 When You Wish Upon A Star (0:48)
Total Time: 52:00
Man versprach sich davon wohl mehr Dramatik und Geschlossenheit für den Gesamteindruck. Interessant, dass Taking the Easy Way Out und When You Wish Upon A Star, die bei der Erstveröffentlichung noch eine Einheit bildeten, bei den Neuausgaben durch zwei Bonus-Tracks getrennt wurden.
Die Songs (in der neuen Reihenfolge):
What’s My Name
Inspiriert fühlte sich Steve durch die Lektüre von „Six Records of a Floating Life“ von Shen Fu [5].
Er wollte in diesem Lied musikalisch das klassische China mit den Stilen der amerikanischen Ureinwohner verschmelzen. So beginnt der Song mit einer zunächst säuselnden Percussionlinie, die sich von Minute zu Minute mehr in den Vordergrund schiebt. Der Hörer fühlt sich wie hypnotisiert in die Geräuschkulisse des Amazonas gezogen, bis bei Minute 2:20 Steve’s quälender, gepresster, hoher Gesang mit den Versen „ Stone mirror mountain rise from a low stream / The scent of flowers like an ocean of weels…“ beginnt. Was für ein schönes poetisches Bild! Endlich wird das percussive Musikspiel von dräuenden Keyboardakkorden untermalt, Tupfer von Gitarre und Bass füllen den Wall of Sound, bis Steve endlich wie ein exotisches Dschungeltier den Songtitel aus tiefster Seele heraus – schreit. Doch die Erlösung ist es nicht, der langsame Percussionwirbel, in dem der Hörer gefangen ist, bleibt. Schließlich bringt in der Mitte des Stücks eine Koto [6] zarte, feminine Tupfern in das Bild. Eine Ruhe, die trügerisch ist. Müssen doch maskuline und feminine Hälfte des Ichs eine Einheit finden – Yin und Yang – die Zweiteilung sich vereinen, um die Frage nach meinem Namen zu beantworten. Dies geschieht musikalisch durch den typischen Hackett – Bombast in den letzten ca. 1.30 Minuten des Stücks. Leider endet der Zauber (zu) plötzlich nach 7 Minuten. What’s My Name ist sicherlich das Highlight des Albums und ein wunderbarer Opener. Verständlich, dass es diese Ehre bei den CD – Neuausgaben bekam. Auf der LP ist es mit der 2. Position auf der B-Seite etwas untergegangen.
The Rio Connection
Das erste Instrumental des Albums, live und spontan im Studio aufgenommen. Die Grundlage für die Aufnahme bildet ein Drumduell . Kennen wir doch irgendwoher? Das (viel) zu kurze Instrumental wird mit einem Basspart, begleitet von einer telefonischen Zeitansage, um den sich herum dann die anderen Instrumente aufbauen, eröffnet. Locker und leicht wird gejamt, Jazz und Blues werden zitiert. Steve spielt nicht nur unnachahmig seine „singende Gitarre“, sondern auch Mundharmonika. Wir hören Flötenklänge. Erinnert an Brand X und Weather Report. Leider beginnt das Fadeout zu früh. War wohl zu spät geworden im Studio….
Matilda Smith Home For The Aged
Zitat Steve: “When a samba rhythm meet’s an englishman’s lyric based on a Caribbean old folk’s home it sounds like this.” [7] Aha! Nun, der Song beginnt mit einem bekannten Thema und klassischem Progressive Rock. Ups, Hackett kopiert sich selbst: Hackett to Pieces [8] von Highly Strung mit Gesang! Das Bild des Altenheims für Rocklegenden, die sich über einen eingeschmuggel -ten Gin freuen, geht nach einem Drittel des Stücks in den Karneval von Rio über: Samba wird von gefühlt 1000 Perkussionisten gespielt! Herrlich wie Hackett darüber ein Gitarrensolo legt und die Keyboards den Samba in luftige Höhen schrauben. Was hat das nun mit einem „Home For the Aged“ zu tun? Vielleicht ein ironisches Augenzwickern des Künstlers, der ahnt wie diese Latin – Rock-Nummer seine Genesis-Proggies, die im Alten verhaften bleiben wollen, erschreckt?
Let Me Count The Ways (For Uncle Charlie)
Die Blues-Nummer des Albums. Steve spielt eine wundervolle schwebende Gitarre, die von getragenden Drums, Bass und Keys begleitet wird. Oh ja, weit ist er dem Proggressive – Rock davon geschwebt. Kein Grund, den Blues zu bekommen. Okay, mit einem „richtigen“ Bluessänger wäre das Stück ein Kracher geworden, so ist es eine coole Nummer, oder? Oh diese Gitarre….Hallo B.B. King, Gary Moore?
A Doll That’s Made In Japan
Die Single – Auskoppelung zeigt uns einen poppigen Steve Hackett, der wie in What’s My Name Asien und Südamerika musikalisch zusammenbringen möchte. Das Stück wurde komplett nach den Brasilien-Sessions in England aufgenommen. Eine Koto eröffnet, Percussion ist zu hören, dann setzt der Gesang ein. Er wird begleitet von Gitarrengimmiks und dem typische Pop – Schema Vers, Refrain usw. Bei Minute 2.30 gibt es ein klassisches Hackett-Gitarrensolo, begleitet von Kim Poors Sprechgesang in Japanisch. Die 12″-Version weist an dieser Stelle einen ca. zwei minütigen interessanten Instrumentaleinschub aus, der es für mich zu einem heimlichen Hackett-Favoriten macht. In dem Text finden wir eine Anreihung von Bildern, die einem Westeuropäer beim Besuch des Landes durch den Kopf gehen könnten. Sie zeigen ein geheimnisvolles, altes Japan, das durch den auch dort kopierten „american way of life“ hindurchschimmert.
Duel
Steven Spielbergs Filmproduktion von 1971 [9] bildet Pate für diesen „Straight shuffle“ (Steve Hackett). Das Geräusch eines startenden LKWs zu Beginn wird von Nick Magnus gespielt. Der Rhythmus des Songs, gepaart mit Steves „leiernder“ Gitarre spiegelt gut die Fahrt über einen US-Highway, gepaart mit Verfolgungsangst wieder. Steve singt hier tiefer. Somit hört er sich weniger angestrengt an. Die brasilianischen Percussionisten sind nicht involviert. Vielleicht auch ein Grund, den Song bei den Neuveröffentlichungen nicht mehr als Opener fungieren zu lassen. Erinnert an Walking Through Walls von Highly Strung.
Myopia
Steve Hackett goes Rock / AOR? Der instrumentale Teil wird noch heute live bei Zugaben genutzt. Gesanglich und kompositorisch sicher einer der unterdurchschnittlichsten Leistungen Steves.
Witzig ist das Zitieren eines der Brandenburger Konzerte von Bach bei Minute 1.50. Ein nicht ganz ernst zunehmendes Stück über nicht nur organisch bedingte Kurzsichtigkeit. Leider presst Steve zu oft den Titel gesanglich schrill aus sich heraus.
Taking The Easy Way Out
Hier haben wir ein melancholisches Abendlied, sehr “laid back”, geprägt von sanft schmeichelnden Keyboards und einer wundervolle Melodie auf der akustischen Gitarre, die leider etwas im Soundozean unterzugehen droht. Der säuselnde Gesang Steve’s ist sehr schön in die Wellen der Musik eingebettet. Passend als Ausklang mit When You Wish Upon A Star an das Ende der Erstveröffentlichung gesetzt.
The Gulf
Bonus-Track aus den Sessions für das als Nachfolger in seiner geplanten Version nie veröffentlichte Feedback. Die Drum – Tracks wurden aus übriggebliebenen Schnipseln vom Till We have Faces…- Album gewonnen. Eine schöne Melodie auf der akustischen Gitarre leitet einen Song mit Orient – Touch ein. Dazu trägt eine Djembe, zu Beginn das einzige Percussion – Instrument, bei. Nach 1.50 Minuten ruhigem musikalischen und gesanglichem Auftakt setzt eine „wilde“ E – Gitarre der Langsamkeit ein Ende. Steve hebt seine Stimme und ein krachender, bassartiger Keyboardakkord treibt das Stück bis zu einer melodischen Unterbrechung durch Oboe und akustischer Gitarre bei Minute 3.50 an. Diese wirkt jedoch nur kurz. Steve führt den Konflikt zwischen unterschiedlichen Interpretation von Gottes Worten am Beispiel der Situation am Golf in klassischem progressiven Musikbombast fort. Dieses Stück in seinem 94er Mix greift schon sehr weit in die musikalische Zukunft Steve Hacketts mit Alben wie The Night Siren. Ein Vergleich mit der Version auf Feedback 86 lohnt.
Stadium Of The Damned
Wieder ein Bonustrack aus den Beständen der Feedback-Sessions. Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ bildet den Hintergrund für die Songlyrics. Düstere Streicherakkorde gehen in eine fast fröhliche Gesangslinie über. Ja, man kann sich schon in die widersprüchliche russische Seele versetzt fühlen. Nach zweieinhalb Minuten finden wir dann Anklänge karnevalesker Songakrobatik. Nein, nein, kein „Dead Can Dance“-Stück! Zuviel Gimmiks mit klassischen Einsprengseln, die den Hörer normaler Popmusik abschrecken würden, aber „Hackettiers“ ein Schmunzeln ins Gesicht treibt.
When You Wish Upon A Star
Ein kurzer Ausklang des Albums aus schwebenden Keyboards. Erinnert mit der hohen Fanfare ein wenig an den ruhigen Teil von Genesis Unquiet Slumber For The Sleepers. Es endet aber mit Triangelklängen und der Vorhang schließt sich. Steves Cover des Pinocchio-Songs aus dem Disney-Film von Ned Washington und Leigh Harline [10].
Schlussbemerkung
Ja, der geneigte Hörer wird überrascht von diesem Steve Hackett Album. Wie schon bei Cured und Highly Strung entfernt sich der Künstler von seinen progressiven Wurzeln, vielleicht um sie neu zu definieren? Ganz im Sinne des Wortes „progressiv“ achtet er diese Wurzeln und verbindet sie mit Elementen aus anderen Musikstilen um Neues zu kreieren. Wir hören Sambaklänge, Blues und Jazz, klassische Zitate und Pop. Ein überquellendes Füllhorn von Ideen, die uns die Hackett’sche Musikauffassung zeigt: Zu neuen musikalischen Ufern aufbrechen und sie mit den heimatlichen Klängen verschmelzen.
Durch die Produktionsbedingungen und technischen Grenzen der 80er Jahren klingt das bei Till We Have Faces leider gelegentlich heterogen. Man denkt z. B., dass die brasilianischen Perkussionisten nicht mit, sondern neben der Band spielen. Manch musikalische Abwechslung in einem Stück wirkt wie unsauber zusammengeklebt. Ein Kritikpunkt an Produktion und Mix. Die noch unausgereifte Stimme Hacketts, die er zu oft in beinahe kreischende Höhen zwingt, kann beim Zuhörer zu Ermüdungserscheinungen führen.
Steve bekundet, viel Spaß bei den Aufnahmen in Brasilien gehabt zu haben. Seinen brasilianischen Mitstreitern soll es auch so gegangen sein, wollten sie doch sogar auf ihre Gage verzichten [11].
Wer also seine Scheuklappen ablegt und sich über musikalische Grenzen hinwegbewegt, wird seine Freude an diesem Album haben. Betrachten wir es als ersten im positiven Sinn naiven Gehversuch auf der Spielwiese der Weltmusik. Wer hat schon eine Verschmelzung von Prog – Rock im Stil von Genesis mit diesem Genre versucht?
Autor: Thomas Jesse
Anmerkungen
(1) siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Till_We_Have_Faces
(2) siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Amor_und_Psyche
(3) vergleiche: Genesis Lyrics Illustrated by Kim Poor Paperback, London 10 Mai 1979, S. 88
(4) siehe: https://kimpoor.com/
(5) siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/Six_Records_of_a_Floating_Life
(6) siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Koto
(7) siehe: Linernotes Booklet CD – Neusausgabe
(8) vergleiche: https://www.youtube.com/watch?v=C7bm65xBxUE
(9) siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Duell_(Film)
(10) siehe: https://www.youtube.com/watch?v=pguMUFyJ3_U
https://www.youtube.com/watch?v=gyntl24zkZs (Keith Jarrett-Interpretation)
(11) siehe: Linernotes Booklet CD – Neuausgabe