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Steve Hackett – There Are Many Sides To The Night – Rezension

Steves erstes Akustik-Livealbum entstand während der Italien-Tour 1994 und liegt nun auf CD vor.

Wahrlich, die Nacht hat viele Gesichter. Das gilt auch für Konzerte, die in der Regel ja zur „dunklen Tageszeit“ stattfinden. Ebenso vielseitig ist auch Steve Hackett, der in seiner 25jährigen Karriere schon einige Musikrichtungen und Stilwandel durchlebt hat, vom progressiven Rock über Pop und Rock bis hin zu Kontakten mit Weltmusik. Blues gehört ebenfalls zum breiten Spektrum, vor allem aber auch akustische Musik, und diese natürlich auf seinem Instrument, der Gitarre.

Mit Bay Of Kings (1983) und Momentum (1988) schuf Steve zwei unvergleichliche Alben dieser Stilrichtung, die 1994, klanglich überarbeitet und mit einigen Bonusstücken angereichert, wiederveröffentlicht wurden. Ebenfalls im vergangenen Jahr gab Steve auch einige auf akustische Präsentation ausgelegte Konzerte. Dabei wurde er bei einem Großteil des Programms von Julian Colbeck an den Keyboards begleitet, während er selbst Akustikgitarren in „kleine Orchester“ verwandelte und sporadisch seine Sangeskunst und sein Können an der Mundharmonika bewies. Im Sommer und Herbst fanden nur wenige Gigs, vor allem bei Festivals, statt. Die sieben Konzerte in Italien im November und Dezember 1994 hingegen waren schon eine kleinere Tournee.

Aufgrund der Wünsche vieler Fans nach Livematerial entschied man sich kurzfristig vor der Italien-Tour, die Konzerte aufzunehmen, den ,,Bootleggern“ zuvorzukommen und selbst ein Album herauszubringen. Es sollte, ganz im Stil eines Bootlegs, mit möglichst einer kompletten Show mit Ansagen und ohne Leerzeiten zwischen den Songs aufgebaut sein, allerdings in einer wesentlich besseren Klangqualität als die oft mittelmäßigen Publikumsaufnahmen der illegalen Tonträger. Steves Manager, Billy Budis, sieht das Album auch eher als eine Art Fanclub-Edition denn als eine offizielle Veröffentlichung, da die CD hauptsächlich über die verschiedenen Genesis-Fanclubs und direkt von Kudos Music vertrieben werden soll. Die CD wird Anfang Juni bei Kudos Music (Katalognummer: Kudos CD 2) in England erscheinen, trägt den Titel There Are Many Sides To The Night und ist das zweite Livealbum in Steves Solokarriere.

Vorab erhielten wir eine Aufnahme des Albums auf Band und können deshalb schon in dieser Ausgabe darüber berichten. Die Aufnahme entstand während Steves Konzertes am 1. Dezember 1994 in Palermo, Italien. Von dem kompletten Konzert wurden alle Songs auch für das Album verwendet, mit Ausnahme von Jazz On A Summers Night und dem einzigen Stück, bei dem Steve sang, There Are Many Sides To The Night (im Zusammenhang mit dem Albumtitel etwas ironisch!). Das Fehlen dieser Songs erklärt sich im Fall von There Are Many Sides … in technischen Problemen bei der Aufnahme dieses Stückes bzw. natürlich auch in dem begrenzten Fassungsvermögen einer CD. Nach der Bearbeitung der Aufnahmen, Entfernung von unnötigem Applaus, Kürzung von Steves Ansagen und der Aneinanderkettung aller Stücke ist eine Gesamtspielzeit der CD von 77 Minuten entstanden. Die Tonqualität ist sehr gut, und das Album an sich spiegelt die allgemeine Stimmung der Auftritte gut wider.

Die CD beginnt mit einigen Sekunden erwartungsvoller Stille, die sogleich von dem Hackett-Uralt-Akustikklassiker von 1972, Horizons, beendet wird. Die dargebotene Liveversion entspricht eher der Studiofassung des Foxtrot– als der des Bay Of Kings-Albums von 1983. Es folgen aber noch weitere Genesis-,,Anspielungen“. Zwei ca. zehnsekündige Sequenzen von Cockoo Cocoon und Blood On The Rooftops münden in eine Kurzversion von Steves Solo-Stück Black Light. Skye Boot Song und Time Lapse At Milton Keynes, im letzten Jahr im Rahmen der Bonustracks auf Steves Akustikalben erstmals (bzw. erstmals auf CD) veröffentlicht, folgen sodann. Ein neues Stück mit Namen Beja Flor sagt Steve mit der Erklärung des Titels an. ,,Beja Flor“ ist der portugiesische Name für den Kolibri, der in Brasilien lebt und „die Blumen küßt“.
Bislang war Steve alleine an der Gitarre zu hören, doch nun gesellt sich Julian Colbeck hinzu, und der erste gemeinsam gespielte Song ist Steves offensichtliches „Liebeslied“ an seine Frau: Kim. Im Unterschied zur Studiofassung wird der Part der Flöte von Steve auf der Gitarre gespielt und der ursprüngliche Gitarrenpart von Julian am „Piano“ übernommen. Das folgende Second Chance kommt ebenfalls uminstrumentiert daher. Anstelle der Flöte wird von Julian ein xylophonähnlicher Keyboard sound benutzt. Dadurch klingt das Stück nun irgendwie kälter. Es ist auch doppelt so lang, da ein neuer, etwas improvisierter Mittelteil dem Song hinzugefügt wurde.

Steve reagiert witzig auf Zurufe aus dem Publikum, die nach alten Genesis-Stücken verlangen. Fünf Sekunden aus Dancing With The Moonlit Knight befriedigen wenigstens die Frage, ob er diesen Riff noch beherrscht. Das nächste Stück ist wieder ein Beispiel für die Verwandlung, die ein Song bei einem Akustikkonzert erfährt. Oh, How I Love You wurde einst mit voller Band und Chris Thompson als Sänger für das ,,Feedback-Album“ aufgenommen, ist aber bisher nicht in dieser Fassung veröffentlicht worden. Die instrumentale Liveversion lehnt sich daran natürlich an, ist aber etwas länger. Den Gesangspart ersetzt Steve mit seinem Gitarrenspiel. Im Vergleich beider Versionen schneidet keine besser oder schlechter ab – sie sind einfach grundverschieden. Mit The Journey reiht sich daraufhin ein weiteres Stück des Bay Of Kings Albums in das Konzert ein, gefolgt von etwas, was Steve als „Joke“ zwischen Julian und ihm bezeichnet. Es handelt sich um ein Stück, das bereits vor einigen Jahren mit dem Arbeitstitel Baroque aufgenommen wurde und so auch bei den Konzerten angesagt wurde. Es ist, wie der Titel schon andeutet, eine sehr schnelle, teilweise barock klingende Piano- und Gitarrennummer mit einem langen improvisierten/ gejammten Mittelteil. Für diese CD erhielt der Song nun den endgültigen Titel Bacchus.

Abermals reagiert Steve auf Zurufe, diesmal wohl nach frühen Solostücken verlangend, indem er ein paar Noten von Two Vamps As Guests und Everyday spielt. Walking Away From Rainbows vom Guitor Noir-Album schließt sich an, gefolgt vom einzigen Abstecher dieses Konzertes zur Momentum-LP, Cavalcanti. Das Stück mündet direkt in Andante in C ein, besser bekannt unter dem Namen Tales Of The Riverbank, das 1981 auf der Single-B-Seite von Hope I Don’t Wake erstmals erschien und im letzten Jahr als Bonus-Track von Bay Of Kings wiederveröffentlicht wurde.

Mit dem Concerto in D (Largo) von Antonio Vivaldi folgt nun ein Ausflug in die barocke Musik, die in diesem Fall jedoch nicht sehr anders klingt als Steves eigene akustische Werke. Der einzige „aktuelle“ Song des Abends ist A Blue Part Of Town von Steves 1994 erschienenem Bluesalbum Blues With A Feeling. Es ist auch das einzige Stück, bei dem Steve die Gitarre mit einer Mundharmonika tauscht.

Den letzten Song des regulären Sets bildet eine akustische Fassung von Ace Of Wands, das auf Steves erstem Soloalbum Voyage Of The Acolyte von 1975 enthalten ist. Wie schon bei Oh, How I Love You, sind auch hier Live- und Studioversion schlecht zu vergleichen. Die Studioaufnahme ist zwar auch instrumental, allerdings eingespielt mit kompletter Band (inkl. E-Gitarre, Baß und Drums). Die „Magerversion“ überzeugt dennoch hundertprozentig. Julian, der den Original-Gitarrenpart am „Piano“ spielt, und Steve strotzen vor Spielfreude, die in einem finalen Aufbrausen der Instrumente endet.

Nach langem Applaus kehren die beiden auf die Bühne zurück. Wieder „spielt“ Steve mit ein paar Genesis-Schnipselchen herum. Unquiet Slumbers For The Sleepers … , Cockoo Cocoon und Blood On The Rooftops werden gerade so lange angespielt, dass man erkennt, welchem Song das Fragment entstammt. Aus dem Film Cinema Porodiso entstammt das folgende Stück, geschrieben von Ennio Morricone. Ein „Streicher-Teppich“, reproduziert von Julian am Keyboard, unterlegt Steves ruhige Gitarrenklänge. Abermals folgt eine lange Applaus-Sequenz, bevor Steve (wie zu Beginn der Show ohne Begleitung von Julian) das Konzert und damit auch die CD beendet. End Of Day heißt dieses sehr ruhige, bislang unveröffentlichte Gitarrenstück, das einen sehr guten Abschluss dieses überaus gelungenen Konzertes und der daraus entstandenen wunderschönen CD darstellt.

Autor: Helmut Janisch
zuerst veröffentlicht im it-Magazin #15, Juni 1995