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Steve Hackett – The Tokyo Tapes: Live In Japan – Rezension

Nach seine überraschenden Album Genesis Revisited spielte Steve Hackett mit seiner Band vier Konzerte in Japan. Daraus entstand das Live-Doppelalbum The Tokyo Tapes

Mit der neuen Steve Hackett Doppel-CD können wir uns an einer weiteren Live-CD aus dem Genesis-Umfeld erfreuen. Man kann nicht gerade sagen, dass und Genesis und deren (Ex-)Mitglieder mit Live-Material unterversorgen. Aber allzu oft hatte man das Gefühl, dass mehr auf Masse statt auf Klasse gesetzt wurde (Serious Hits Live / The Way We Walk 1). Also geht man mit eher zwiespältigen Erwartungen an diese 2CD heran.

Den ersten Pluspunkt gewinnt The Tokyo Tapes durch die parallele Veröffentlichung als Video. Außerdem handelt es sich um ein komplettes Konzert – könnte man meinen. Tatsächlich ist es aber ein Zusammenschnitt der Tokyo-Konzerte vom 16. und 17. Dezember 1996, die im Rahmen der kurzen Genesis Revisited-Tour durch Japan gegeben wurden. Das Booklet enthält einige Fotos des Konzerts, ist insgesamt aber eher schlicht gehalten. Die Tracklist von CD und Video ist identisch. Auf der CD sind außerdem noch zwei Studiotracks enthalten, in Japan zusätzlich die Studio-Version von Los Endos, die dort nicht auf Genesis Revisited erschien.

Die 2CD selbst befindet sich in einem schönen Pappschuber. Das Video hat in etwa das gleiche Artwork. Im Video erkennt man natürlich etliche Details, die dem CD-Hörer verborgen bleiben. Wie die Lightshow (ein paar Varilites) ist auch die Kameraführung ziemlich schlicht. Allerdings merkt man schnell, dass bei diesem Konzert das technische Brimborium auch völlig überflüssig ist. Mit einfachsten Mitteln werden dem jeweiligen Song passende Atmosphären geschaffen (wie zum Beispiel Nebel oder monotone Lichtstrahlen), ansonsten spricht nur die Musik. Wie schon auf Genesis Revisited scheute sich Steve nicht, seine namhaften Begleitmusiker gleich dick auf das Cover zu schreiben. Das Starensemble war zwar für The Tokyo Tapeset was geschrumpft, aber ist für ein solches Konzert doch eine mittelschwere Sensation.

Da wäre Chester Thompson, der für viele immer noch sehr schwer von Genesis wegzudenken ist. Lange hatte er bei den Live-Konzerten von Genesis gespielt und auch bei Phil war er bis 1990 immer dabei, bis er schließlich auf eigenen Wunsch aus der Collins-Band aussteigen wollte und sich dann mit Collins‘ Ausstieg bei Genesis nach seinen Äußerungen „beides erledigt hatte“. Und dann spielt dieser Weltklassedrummer, der jahrelang vor bis zu 140.000 Zuschauern auftrat, mit Steve Hackett in kleineren Hallen in Japan. Ein Beweis dafür, dass es ihm um die Musik und nichts anderes geht. Bekannt wurde Chester durch seine Gastspiele bei Frank Zappa und Joe Zawinuls Jazz-Band Weather Report.

Außerdem mit von der Partie ist John Wetton, der in etlichen erfolgreichen Bands spielte, wie zum Beispiel Uriah Heep, Roxy Music oder Asia, die mit Heat of the Moment in den 80ern einen Welthit verbuchen konnten. Auch solo war John Wetton durchaus erfolgreich. Mittlerweile ereilte ihn allerdings das gleiche Schicksal wie Paul Carrack: Seine Stimme ist weltbekannt, bloß seine Platten will keiner kaufen. Ein weiterer Begleitmusiker von Steve ist lanMcDonald, der Ende der 60er mit der Band King Crimson früheste Art-Rock-Geschichte schrieb.

Welcher angehende Großvater erinnert sich nicht an den 60er Ohrwurm In the Court of the Crimson King? Und auch der jüngeren Generation ist diese Melodie meist nicht fremd. lan spielte auch weiterhin in verschiedenen Bands (zum Beispiel Foreigner), aber er trat seit etlichen Jahren nicht mehr live auf. Steve und lan sind seit 30 Jahren sozusagen alte Bekannte, und es dürfte Steve nicht schwergefallen sein, lan zu einer kurzen Tour zu überreden.

Julian Colbeck ist der vierte Gastmusiker. Julian ist der Langzeit-Konzertbegleiter von Steve. Selbst auf der letzten Akustik-Tour war er dabei. Ewähnenswert ist noch sein Mitwirken an der Fast-Reunion-Tour von Yes, die wegen namensrechtlichen Streitigkeiten allerdings Anderson, Bruford, Wakeman, Howe hieß. Julian tourte mit ihnen 1990. Denkt man noch einmal über diese großen Namen nach, so kann man den Eindruck gewinnen, dass Steve der Leadgitarrist von John Wetton ist. Wir haben es hier mit so einer Art All-Star-Band im Stile von Ringo Starr zu tun, auch wenn musikalisch dazwischen Welten liegen. Was also kann uns dieses Weltklasseensemble bieten?

CD und Video beginnen mit Watcher Of The Skies. Alles andere wäre aber auch ein Angriff auf den Genesis-Kult gewesen. Die Live-Version unterscheidet sich nur unwesentlich von Steves Studioversion, ist aber immer wieder ein wahrer Ohrenschmaus. Zum Ende des Intros werden wieder Drums gespielt und keine „gepiepsten“ Morsezeichen wie auf der Studio-CD. ‚Es folgt eine sehr kraftvolle Version von Riding The Colossus, das nur auf der japanischen Genesis Revisitederschien, aber den Fans schon unter dem Namen Depth Charge des letzten Live-Albums Time Lapse bekannt ist. Dieses Stück Musik hätte sich gut als Instrumentalteil eines 70’s-Epos von Genesis gemacht.

Riding the Colossus gewinnt live ganz klar an Format. Mit Firth of Fifth folgt ein Song, bei dem der Mittelteil im Vergleich zum Genesis-Original stark verändert bzw. teilweise völlig neu arrangiert wurde. Auch diese Live-Version ist im Vergleich zur Revisited-Version wieder etwas umarrangiert. Das Pianointro fehlt leider wieder einmal. Steves Akustikgitarrenpart wurde gegen einen elektrischen ausgetauscht, und sein wohl legendärstes Gitarrensolo hat wieder die volle Länge. Zwischen der zweiten Strophe und Steves Solo spielt die Band (anstelle des Akustikparts der Revisited-CD) so eine Art hektische Improvisation, die den sonst gleichmäßig und melodisch klingenden Song etwas aufwirbelt. Manche werden diesen Part als Bereicherung empfinden, andere vielleicht als Denkmalschändung. Die Stimme ist natürlich wie bei allen anderen Songs von Genesis gewöhnungsbedürftig und nicht jedermanns Sache, aber John Wetton müht sich redlich.

Mit Battlelines folgt ein John Wetton-Ohrwurm seines vorletzten Soloalbums. Der Song hat eine schöne Melodie und wirkt für das Konzert nach einem geballten, für den Genesis-Fan höchst erfreulichen Art-Rock-Anfang etwas auflockernd. Danach folgt ein Song aus einem der erfolgreichsten Hackett-Alben, Highly Strung. Camino Royale wurde im Vergleich zur Studiofassung teilweise stark verändert, sowohl was die Gitarrenparts als auch lan MacDonalds Saxophonspiel angeht. Teilweise spielen Steve und lan im Duett, was besonders auf dem Video hervoragend nachzuvollziehen ist.

Als nächstes kündigt Steve einen Titel an, den ,,I think lan wrote 27 years ago“. Tosender Beifall, und einer seiner größten Hits, In The Court Of The Crimson King, wird gespielt. Schon aufgrund der technischen Möglichkeiten der 90er Jahre ist diese Version um Längen besser als das Original von 1969. Die Live-Version hält sich sehr an das Original, bis auf den Gitarrenpart, der von akustisch auf elektrisch umarrangiert wurde. Der Song ist eines der absoluten Highlights, auch wenn er nicht von Genesis oder Steve stammt.

Nun folgt ein kleiner Akustikteil, bei dem Steve alleine das ’72er Horizons und zusammen mit Julian Colbeck ein brillantes Walking Away From Rainbows von seinem letzten klassischen Rock-Album Guitar Noir spielt. Danach folgte eine kleine Überraschung: Eine Akustikversion von Asias größtem Hit Heat Of The Moment. Diese „entpoppte“ Version beweist einmal mehr, dass weniger durchaus mehr sein kann. Auch das ist ein weiteres Highlight der CD bzw. des Videos. Endlich folgt wieder ein Genesis-Song…. In That Quiet Earth wird im Video von Steve angekündigt, auf der CD (es ist der erste Song der zweiten CD) fehlt die Ansage. Steve hatte den Song auf seinen früheren Tourneen immer wieder gespielt, jedoch nur den ersten Teil. Leider erschien er nicht in einer neuen Version auf dem Revisited-Album. Besonders hörenswert ist das Saxophonsolo von lan.

Es folgte eine originalbezogene Darbietung von Vampyre With A Healthy Appetite, die allerdings live wesentlich lebendiger klingt. Schade, dass Steve an diesem Tag nicht das Megaphon benutzte, von dem Hisao Chida in it #22 schrieb. Ein weiterer Song von King Crimson folgte: I Talk To The Wind. Er ist relativ unspektakulär und vielleicht nur für Die-hard-King Crimson-Fans interessant. Als Genesis-Fan fängt man an, mehr von Genesis zu fordern. Trotzdem ist die Darbietung (hervorzuheben ein Duett von lan und John) in Ordnung.

Jetzt kommen die Hackett- und Genesis-Fans voll auf ihre Kosten: Es erklingen die ersten Töne des Schlussteils von Shadow Of The Hierophant von Steves erstem Album Voyage Of The Acolyte. Direkt danach und ohne Unterbrechung gibt’s ein erstklassiges Schlagzeugsolo von Chester, den man live bisher immer nur im Duett mit Phil Collins gehört hatte. Ein wenig hat man das Gefühl, dass Chester seine ganze Spielfreude des Abends in dieses Solo legte. Chester betonte ja unlängst in einem Interview, dass ihm die Musik von Steve, die mit Sicherheit ungradliniger ist als vieles von Genesis und das meiste von Phil, sehr gefällt.

Das Video gibt hier natürlich wieder mehr her. Fließend ist dann der Übergang zu Los Endos. Man kann diesen Part als absoluten Höhepunkt des Konzerts bezeichnen. Gerade Los Endos mit seinen vielen kleinen und großen Überraschungen ist ein einzigartiger Hörgenuss wie aus einem Guss. Hier und da wurden Kleinigkeiten im Vergleich zur Revisited-Version verändert, und man fühlt sich wie auf einer Reise durch die Genesis-Musik der 70er Jahre.

Auch Teile von Dancing With The Moonlit Knight sind enthalten. Los Endos war gleichzeitig das Ende des regulären Sets. Die erste Zugabe ist Black Light von Steves erstem Akustikalbum Bay Of Kings. Wer genau hinhört, der kann u. a. den Anfang von Cuckoo Cocoon erkennen (zwischen 0:31 und 0:45). Black Light ist zweifelsfrei eines seiner besten Akustikstücke und besonders auf dem Video ein Augen- und Ohrenschmaus.

Mit The Steppes folgt ein weiteres Stück aus Steves erfolgreichster Phase als Solomusiker. Die Live-Version ist ziemlich originalgetreu mit unwesentlichen kleinen Unterschieden. I Know What I Like beendete das Konzert und somit auch den Live-Mitschnitt. Hervorzuheben ist das neue jazzig-funkige Intro. Mit stürmischem Beifall werden die Musiker verabscheidet. Auf der CD befinden sich noch zwei weitere Songs: Firewall ist wie auch The Dealer ein Instrumentalstück. Bei beiden Stücken spielt neben Steve (Gitarre & Percussion) nur noch Aron Friedman (Keyboards & Programming) mit. Friedman hatte bereits auf früheren Albenmit Steve zusammengearbeitet. Die Songs wurden von Steve alleine geschrieben. Beide sind leider im Vergleich zu früheren Werken (Spectral Mornings, Sierra Quemada) eher Mittelmaß, passen aber vom metallischen Sound her gut auf das Live-Album.

Wird The Tokyo Tapes also den Ansprüchen der Genesis- und Hackett-Fans gerecht? Hier werden sich die Geister sicherlich scheiden. Für viele wird es eines der besten Live-Alben aus dem Genesis-Umfeld überhaupt sein, aber die meisten werden wohl den Set kritisieren: Zu wenig von Genesis und Steve und zuviel von den anderen. Aber erinnern wir uns: Auf dem Cover stehen dick alle teilnehmenden Musiker. Dass das kein Steve-Solokonzert in herkömmlichen Sinne sein kann, sollte jedem klar sein. Die Auswahl der nicht-Hackett-bezogenen Songs ist Geschmacksache, aber es sind z.B. mit In The Court Of The Crimson King und Heat Of The Moment doch einige Kracher dabei. Trotzdem hätte man gerne auch Songs wie Fountain of Salmacis oder die Ausgrabung Deja Vu gehört.

Fazit

Eigentlich hatte man mit mehr Genesis gerechnet, da die Tour auf das Revisited-Album folgte. Andererseits: Wann hat Steve bei einem Solo-Konzert schon mal so viel von Genesis gespielt? Einige werden mit Sicherheit die Länge des Konzerts bemängeln. Da sind wir von Genesis oder auch Phil Collins ganz andere Kaliber gewöhnt. Man sollte nicht vergessen, dass Steve weder Videoleinwände wie Genesis hatte noch wie Collins einen großen Sack voll Welthits, den er nur eben ausschütten muss, und schon tobt der Saal. Steves Konzert waren 100 Minuten auf musikalisch allerhöchstem Niveau. Das muss man anerkennen. Dass es sich letzten Endes nicht um ein reines Steve Hackett-Konzert handelt, zeigt schon das Staraufgebot.

Aber die Doppel-CD und auch das Video sind ein herrvoragender Beleg dafür, was für großartige Musiker Steve und seine Band sind. Und seit das Time LapseVideo hoffnungslos vergriffen ist, haben wir endlich wieder die Chance, Steve auf Video in einem Konzert zu sehen. Auch ohne große Technik sind diese 100 Minuten alles andere als langweilig. Viele von uns haben Steve noch nie live gesehen, und so ist das Video eine Gelegenheit, seine Fingerfertigkeit zu bewundern. The Tokyo Tapes ist ein anspruchsvolles Live-Album mit einer großen Bandbreite. Bleibt zu hoffen, dass derartige Konzerte keine Einzelfälle bleiben. He knows what we like!

Autor: Christian Gerhardts
zuerst veröffentlicht in it Nr.25 (Herbst 1998)
The Tokyo Tapes ist als 2CD/DVD-Set bei JPC verfügbar.

Der Konzertbericht der Shows vom 16. und 17. Dezember 1996 ist nun auch online und unter diesem Link zu finden.