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Steve Hackett – Spectral Mornings – Rezension (2CD/DVD)

Steve Hackett veröffentlichte 1979 sein drittes Soloalbum, erstmals eingespielt durch seine Live-Band. Zum 40jährigen Albumjubiläum nähert sich Eric Engler dem Werk in der Retrospektive und nimmt auch Bezug auf die Deluxe Edition, inklusive des 5.1 Surround Mix von Steve Wilson.

1979 erschien Steve Hacketts drittes Solowerk Spectral Mornings. Für viele Fans zählt das Album zu den besten und bedeutendsten seines Schaffens; und auch der Meister selbst nennt in Interviews auf die Frage nach seinen persönlichen Favoriten seit vielen Jahren regelmäßig diesen Longplayer. Zum 40jährigen Jubiläum bringt Steve 2019 Spectral Mornings wieder live auf die Bühne – Zeit für eine Retrospektive.

Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts stand Steve Hackett vor dem (Luxus-)Problem, dass sich seine ersten beiden Solowerke Voyage of the Acolyte und Please Don’t Touch überraschend gut verkauften und somit auch ein großes Interesse daran bestand, das Material live zu präsentieren. Nur verfügte das ehemalige Genesis-Mitglied nicht über die dafür erforderliche Live-Band; schließlich waren an den ersten beiden Alben viele unterschiedliche Musiker beteiligt (darunter Steves nun ehemalige Bandkollegen und diverse nicht ganz unbekannte Sängerinnen und Sänger), die Steve leider nicht dauerhaft zur Verfügung standen. Also musste zunächst eine feste Band aufgestellt werden, mit der er sein Material live performen, auf Tour gehen und bei der Gelegenheit gleich sein neues Album aufnehmen konnte.

Die Besetzung

Im Gegensatz zum direkten Vorgängerwerk Please Don’t Touch verzichtete Steve diesmal auf bekannte Stars und setzte stattdessen auf ein kompaktes Lineup. Er ging einfach mit exakt den Leuten ins Studio, mit denen er seine erste kurze Tour bestritt, ohne weitere Gastmusiker. Zudem war es Steve dieses Mal sehr wichtig, eine Platte aufzunehmen, die auch ein Live-Feeling vermittelt. Mit Ausnahme seines Bruders John, der auch auf Voyage of the Acolyte und Please Don’t Touch mitgewirkt hat, handelt es sich bei den Bandmitgliedern um gänzlich neue Gesichter:

Steve Hackett: Gitarren, Roland Guitar Synthesizer, Kantonesische koto, Mundharmonika, Gesang
John Hackett: Flöten, Konzertflöten und Chinesische Bambus Flöten, Basspedalen
Pete Hicks: – Leadgesang und Harmoniegesang

Der Musiker, der seit seiner Schulzeit in zahlreichen Rock und Progressive Rock Bands gespielt hatte und auch als Solokünstler mit Akustischer Musik, Folk und Jazz unterwegs war, machte gerade Pause vom Musikerleben und ging einem geregelten 9-5 Bürojob nach, als er zu Steve Hackett stieß. Für die Tourproben musste er noch ständig nach Feierabend nach London pendeln. Erst mit Tourbeginn wurde er wieder zum Vollzeitmusiker.

Dick Cadbury: Bass, Basspedalen, Violine, Gesang

Der Multiinstrumentalist mit klassischer Violinen- und Gesangsausbildung war von 1973 bis 1976 Mitglied der britischen Folk- und Progressive Rockband Decameron, bei der er sang, Bass und Geige spielte und später auch Gitarrist wurde.

Nick Magnus: Keyboards, Vox String Thing, Novotron, Cembalo, Clavinet, RMI, Fender Rhodes, Mini Moog, Roland String Synth & SH 2000

Seine professionelle Musikerkarriere begann der Keyboarder bei der Progressive Rock Band The Enid, für die er aber nur kurze Zeit spielte. Danach war er zwei Jahre bei der Progressive Rock Band Autumn, bevor er zu Steve Hackett stieß.

John Shearer: Schlagzeug, Percussion

Bevor er Mitglied der Steve Hackett Band wurde, spielte er Schlagzeug bei Quiver. Später trommelte er noch u. a. für Peter Green und David Byron. In der Schlagzeugschule, die er später betrieb, unterrichtete er unter anderem Craig Blundell, der nun 40 Jahre später seinen Platz hinter der Schießbude einnimmt.

Mit dieser Besetzung, der ersten Steve Hackett Band, bestritt Steve seine erste Tour, nahm die beiden Longplayer Spectral Mornings und Defector auf und ging ausgiebig mit diesem Material auf Tour. Mit Keyboarder Nick Magnus und Bassist Dik Cadbury hat Steve auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten noch häufiger zusammengearbeitet.

Recording

Die Aufnahmen fanden in Hilversum, Niederlande, in den Phonogram Studios im tiefsten Winter bei Eis und Schnee statt und nahmen über einen Monat in Anspruch. Wie schon die beiden Vorgänger wurde auch Spectral Mornings von John Acock und Steve Hackett gemeinschaftlich produziert. Steve und die Band beschreiben diese Zeit als sehr intensiv mit wenig Schlaf, langen Aufnahmesessions und reichlich Party. Anders als bei den ersten beiden Soloalben, bei denen die Musiker im Wesentlichen einfach den Auftrag erledigten, den Steve ihnen aufgetragen hatte, waren diesmal die Bandmitglieder deutlich stärker in die Entwicklung und Arrangements der Songs involviert und konnten ihre eigenen Ideen beisteuern. In den Songwriting Credits wird allerdings bei allen Tracks nur Steve Hackett genannt.


Cover
Artwork

Für das Cover wurde erneut ein Gemälde von Kim Poor, Steves damaliger Ehefrau, verwendet. Es zeigt Steves Gesicht im Porträt mit geschlossenen Augen – gemalt in dem für Kim Poor typischen transluzenten und konturenfreien Stil. Auf der Rückseite ist ein Foto von Steve am Mikro und mit Gitarre (bei einem Liveauftritt aufgenommen) abgebildet, über dem Tracklist, Credits und Songtexte abgedruckt sind. Die CD-Version sowie die 2005er Remasterd Version und auch die Neuauflage mit den Steven Wilson Remixen enthalten noch zusätzliche Liner Notes und weitere Fotos.

Die Tracks im Einzelnen

1. Every Day [6:15]

Bereits der Opener ist ein echtes Brett; vom ersten Takt an spürt man, dass diese elektrische Uptemponummer wohl zu großen Teilen im Proberaum entstanden sein muss. Das Stück besteht aus zwei Teilen: der erste Part ist ein Anti-Drogen-Song, in dem Steve die Beziehung zu seiner ersten Freundin verarbeitet, die heroinabhängig war. Die Musik dazu ist sehr energiegeladen und startet mit einem kraftvollen Keyboard-/Gitarrenriff, das mit knackigem Schlagzeug und druckvollem Bass unterlegt ist. Auch wenn im Strophenteil, der die selbstzerstörerischen Kräfte der Drogensucht beschreibt („Clepatra’s Needle“), die Instrumentierung etwas zurückhaltender wird, um dem Satzgesang von Steve, Pete und Nick den erforderlichen Raum zu geben, fragt man sich spätestens bei dem euphorischen Refrain, ob Text und Musik hier wirklich zusammenpassen. Für dieses Thema wirken die Harmonien und die Performance doch allzu beschwingt und fröhlich; die Band liefert hier einen sehr mitreißenden Rocksong, der danach schreit, vor Livepublikum abgefeiert zu werden. Doch dabei ist das noch nicht einmal der Höhepunkt des ersten Tracks. Denn der kommt erst im zweiten, rein instrumentalen Part. Einen wirklichen Übergang zwischen Part 1 und Part 2 gibt es nicht; allenfalls das Riff, das den Songteil am Anfang und am Ende flankiert und über das Steve am Ende beeindruckend schnelle Arpeggio-Läufe spielt, fungiert als eine Art Bridge. Der Wechsel ist dann aber doch abrupt. Der markante Bassgroove von Dik Cadbury, der auch einem Mike Rutherford zur Ehre gereicht hätte, bildet das Fundament, worüber Nick Magnus seine Mellotron-Chöre ausbreitet und John Shearer an den Drums zeigen darf, was er kann. Unangefochtener Star dieses Instrumentals ist aber ganz eindeutig Steves Gitarre, die zwar mehr oder weniger nur das immer gleiche Thema variiert, aber eben auch genau die Art von elegischer Gitarrenhymne darbietet, auf die seine Fans seit dem Firth of Fifth Gitarrensolo sehnsüchtig gewartet haben. So wird hier auch kein hastiges Gefrickel präsentiert, Steve lässt seine Gibson Les Paul herrlich singen und reizt die langen Noten immer wieder gut aus, bis das Fade-Out der Coda ein Ende setzt.

Every Dayist der Steve Hackett Live-Klassiker schlechthin. Kein anderes seiner Solostücke hat er live so häufig gespielt wie diesen Song. Es gab auch eine Single-Auskopplung mit einer stark gekürzten Fassung, die nur den Songpart enthält. Die B-Seite bildete Lost Time in Cordoba.

2. The Virgin and the Gypsy [4:29]

Beim zweiten Titel geht es dann deutlich ruhiger zu. The Virgin and the Gypsy, inspiriert von der gleichnamigen Novelle von D.H. Lawrence (die Steve tatsächlich erst las, nachdem er den Song geschrieben hatte; der Songtext selbst ist eher eine Aufzählung verschiedener Blumennamen, die Steve lyrisch verbindet), ist eine folkige, überwiegend akustische Ballade mit einer kristallklaren 12saitigen Gitarre, die mit dem Cembalo zu verschmelzen scheint, und – erneut – viel mehrstimmigem Gesang. Im Gegensatz zu Every Day ist hier jedoch Pete Hicks‘ Stimme solo zu hören; der aufwendig arrangierte Harmoniegesang von Hackett und Cadbury ertönt in den Strophen im Wechsel zur Leadstimme. Obwohl Bass und Synth in den Strophen noch fehlen, wird so schon ein recht dichter Klang erzeugt. Nach dem zweiten Refrain beginnt ein Instrumentalteil. Hier hat John Hackett seinen großen Auftritt und belegt gleich zwei Spuren mit seiner Flöte – ein Duett mit sich selbst, wunderbar flirrend und einander umspielend über dem aus 12saitigen Gitarren (insgesamt 12 Spuren!) und Keyboardflächen gewobenen Klangteppich, der durch den Einsatz eines Gitarrensynthesizers an einigen Stellen besonders dicht wirkt. Danach kommt noch einmal der Refrain, bevor die Flöten erneut den Lead übernehmen und dem Hörer das Fade-Out versüßen. Das Stück kommt ohne Schlagzeug aus; als Percussion ist lediglich ein Shaker dezent zu hören, was die verträumt romantische Atmosphäre des Songs noch unterstreicht. Mit den Flöten, den glockenartigen Gitarren und vor allem mit dem hervorstechenden, von Dik Cadbury entworfenen Harmoniegesang wirkt der Song recht süßlich. Doch selbst die Hörer, für die hier die Grenze zum Kitsch schon deutlich überschritten ist, werden eingestehen müssen, dass dieser Song mit großer Hingabe und viel Liebe zum Detail arrangiert und handwerklich überzeugend ausgearbeitet wurde.

3. The Red Flower of Tachai Blooms Everywhere [2:05]

Der nächste Titel, ein reines Instrumentalstück, gehört wohl zu den kuriosesten Aufnahmen aus dem Genesis-Universum überhaupt. Was wie eine traditionelle fernöstliche Volksweise klingt, hat tatsächlich ein Brite aufgenommen, dem man von Pop bis Klassik alles Mögliche an Stilen zugetraut hätte – aber nicht unbedingt etwas derart Fremdartiges. Steve spielt sogar eine echte kantonesische Koto, die er seit einiger Zeit besaß und mittlerweile passabel beherrschte. Mit sorgsam ausgewählten Keyboardsounds und der Verwendung eines Gongs ist die Illusion nahezu perfekt. Noch bevor ein anderes ehemaliges Genesis-Mitglied mit dem Einsatz von World Music große Aufmerksamkeit auf sich zog, war es tatsächlich Steve Hackett, der als erster Musik aus exotischen Kulturkreisen aufnahm und veröffentlichte.

4. Clocks – The Angel of Mons [4:17]


clocks
Das Ticken einer Uhr als Stilmittel in der Musik – das kennen wir spätestens seit Pink Floyds Time. Selten aber ist es so deutlich als dominierendes Rhythmuselement eingesetzt worden wie bei Clocks – The Angel of Mons, einem weiteren Instrumentalstück, bei dem Schlagzeug und passagenweise auch Gitarre den TicToc-Beat aufgreifen (wobei wohl schon das originäre Ticken teilweise mit einer Gitarre erzeugt wurde). Der Track erinnert deutlich an das Titelstück des Vorgängeralbum Please Don’t Touch. Wieder breitet Steve ein düsteres Thema aus, das auch als Score für einen Horrorfilm Verwendung finden könnte. Die von John Hackett gespielten Basspedalen dröhnen bedrohlich, dann der Moment der Spannung, in dem nur noch das Ticken zu hören ist, bevor die Zeitbombe endlich explodiert und Steves elektrische Gitarre von ihren Alpträumen singt (oder kreischt?) und John Shearer sich wieder kräftig an den Drums austoben darf, der am Ende des Stücks noch einen großen Auftritt mit einem Schlagzeugsolo hat. Steve nennt dieses Solo nur „Elefants“, wahrhaft eine sehr wuchtige Kraftdemonstration, die bei entsprechender Lautstärke tatsächlich nach einer Elefanten-Stampede klingt, die einen zu überrennen droht. Shearer spielt das Solo ohne Overdubs und konnte bei den zahlreichen Livedarbietungen immer wieder das Publikum sowie seine Bandkollegen beeindrucken. Noch heute zählt Clocks zu den ganz großen Liveklassikern in Hacketts Repertoire. Der Begleittitel The Angel of Mons spielt auf eine alte Legende aus dem Ersten Weltkrieg an, bei der Mitglieder der Britischen Streitkräfte in der Schlacht bei Mons im August 1914 durch angebliche übernatürliche Kräfte / das Eingreifen von Engeln gerettet wurden. Clocks wurde in einer gekürzten Fassung auch als Single veröffentlicht – mit einem Live Acoustic Medley als B-Seite, das aus Etude in A Minor, dem Intro von Blood on the Rooftops, Horizons sowie Kim besteht. Eine 12 Inch Single Version enthielt darüber hinaus auch noch eine Livefassung von Tigermoth.

„It’s one o’clock …?“ – Nein! Wer genau hinhört, stellt fest, dass es 4 Uhr ist! Ob aber 4 a.m. oder 4 p.m. weiß wohl nur Steve Hackett.


5. The Ballad of the Decomposing Man (featuring ‚The Office Party‘) [3:49]

Nach diesen instrumentalen Abenteuern in fernöstliche Länder und alptraumhafte Weltkriegslegenden folgt nun wieder ein Song – den allerdings nicht Pete Hicks, sondern Steve Hackett selbst singt. Bereits auf den beiden Vorgängeralben sang Steve jeweils einen Song: The Hermit und Carry on up the Vicarage. Dass er nicht gerade zu den begnadetsten Sängern zählt, ist allgemein bekannt, dass er diese Tatsache gerne mit sehr viel Hall oder stimmverfremdenden Effekten kaschiert, allerdings auch. Bei The Ballad of the Decomposing Man hört man eine Stimme ausnahmsweise aber mal klar und unverfälscht. Nun steht dieser Song auch ganz in der Tradition von Stücken wie Harrold The Barrel, Willow Farm oder eben auch Carry on up the Vicarageund sollte daher auch eher als musikalischer Scherz bzw. als augenzwinkernde so genannte Silly Symphony verstanden werden. Da kommt es also auch nicht so sehr auf besonders schönen Gesang an. Die ‚Ballade vom verwesenden Mann‘ wurde von vielen als politischer Protestsong über die Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung aufgefasst und damit wohl etwas zu ernst genommen. Laut Steves eigener Aussage sollte der Song lediglich den britischen Schauspieler und Komiker George Formby parodieren und darüber hinaus keine tiefere Bedeutung transportieren. Das Stück beginnt als Westernnummer mit Mundharmonika (das erste Mal, das Steve dieses Instrument für einen seiner Songs verwendet), Waschbrett und Honkytonk-artigem Clavinet. Wäre das nicht bereits kurios genug, wandelt sich der Song nach einer kurzen Sequenz, die an The Voice of Necam erinnert, in eine Calypso-Nummer – stilecht mit Steeldrum und hawaiianischen Sounds, die vermutlich Nick Magnus mit einem seiner zahlreichen Tasteninstrumente simuliert. Dik Cadbury steuert noch etwas Violine bei. Das ganze nimmt schon recht absurde Züge an, hat aber durchaus eine ganze Menge Charme. Die Aufnahmen hierzu müssen den Beteiligten sehr viel Spaß gemacht haben – The Office Party und Studio-Party gingen hier wahrscheinlich nahtlos ineinander über.

6. Lost Time in Cordoba [4:04]

Weiter im Text geht es mal wieder ohne Text – also mit dem nächsten Instrumentalstück. Lost Time in Cordoba ist das typische akustische Kleinod mit Nylongitarre und Flöte, das einfach auf keiner Hackett-Platte der frühen Jahre fehlen darf. Wie schon bei Kim von Please Don’t Toucherinnert auch dieses Stück stark an die Werke des französischen Komponisten Erik Satie, besonders im ersten, romantischen Teil mit Flöte. Danach wird es verspielter und Steve variiert verschiedene verträumte Phantasien, über die dann der Synthesizer (somit ist es nicht mehr rein akustisch) sehr ruhig mit lang gehaltenen Tönen soliert. Obwohl dieses Stück insbesondere sehr gut zu Repertoire des Acoustic Trio gepasst hätte, wurde es (mit Ausnahme sehr kurzer Excerpts innerhalb von Acoustic Medleys) nie live gespielt.

7. Tigermoth [7:35]

Der nächste Track ist wieder zweigeteilt in einen Songteil und einen Instrumentalpart. Anders als Every Day beginnt Tigermoth aber instrumental. Nun, nicht ganz, zuvor wird noch „one – two – three – four“ eingezählt, allerdings so stark verzerrt, dass man die Worte eher erahnt als erkennt. Nach sehr schnellem Gitarrengefrickel setzt das von der Gitarre beherrschte, staccatoartige Hauptthema ein, das sich über Nick Magnus‘ wabernden Keyboardteppichen ausbreitet und wohl Gewehrfeuer darstellen soll. Die Drums zeichnen das Gitarrenriff knallend nach und verleihen dem Stück einen marschähnlichen, martialischen Anstrich. In den ruhigeren Passagen zwischendurch erzeugt Steve mit der Gitarre echolotartige Geräusche. Mit dem Einsatz von Basspedalen und der brachialen, bedrohlich wirkenden E-Gitarre erinnert dieser Teil sehr stark an Clocks. Auch thematisch sind wir wieder im Weltkrieg, allerdings wohl eher im Zweiten, da die Tiger Moth, ein Flugzeug der Royal Air Force erst in den 1930ern gebaut wurde. Am Ende des Instrumentalparts hören wir sie abstürzen (Steve imitiert das Geräusch mit der Gitarre). Der Songteil ist dann wieder sehr skurril gestaltet. Im schunkeligen ¾ Takt singt Pete Hicks über eine Geistergeschichte, in der verschiedene Kriegsgefallene einander begegnen (darunter der Junge, der niemals hätte fliegen sollen und beim Absturz mit der Tiger Moth in Stücke gerissen wurde). Musikalisch bedient Hackett hier wieder sein Faible für Jahrmarktmusik; die Orgel klingt bewusst nach Leierkasten. Die darüber flirrende Flöte verleiht der Szenerie eine fast schon transzendente Atmosphäre und unterstreicht so die übernatürliche Geschichte. Im Refrain hören wir wieder den Satzgesang von Hicks, Hackett und Cadbury, als sich die übrigen Geister dazugesellen. Die Leadstimme wurde wie auf einer alten Schellackplatte aus den 40ern, sehr low-fi um alle Höhen beraubt, damit der Hörer auch gleich weiß, in welche Zeit er die Geschichte einordnen soll. Überaus hübsch ist der Schluss des Songs, wieder ganz instrumental mit 12saitiger Gitarre und Glocken, fast eine Art Lullaby. Live wurde Tigermoth häufig gespielt, dann allerdings ohne den Songpart.

8. Spectral Mornings [6:33]

Das Titelstück und Finale von Spectral Mornings ist ein weiterer instrumentaler Leckerbissen. Was für den zweiten Teil von Every Day gilt, nämlich dass Steve Hackett seinen Fans genau das liefert, was sie sich von ihm am meisten wünschen, das gilt für Spectral Mornings erst recht! Wenn jemals ein Stück die Bezeichnung „Gitarrenhymne“ verdient hat, dann sicher dieses. Deutlich ruhiger, getragener und elegischer erinnert es noch wesentlich stärker an das berühmte Solo aus Firth of Fifth. Auch der Gitarrenklang, Steves „Favorite ‚Golden‘ Tune“, den er mit seiner Gibson Les Paul spielt und der sich wie ein roter Faden durch viele Tracks des Albums zieht, ist letztlich eine Weiterentwicklung des FoF-Sounds, der hier aber noch kraftvoller klingt. Alles was sonst noch musikalisch im Titeltrack geschieht – Nick Magnus‘ weit ausgebreitete Keyboard- und Pfeifenorgelflächen, John Shearers Triolengewitter, die begleitend gezupfte E-Gitarre – dient nur dazu, die Gitarre noch majestätischer strahlen zu lassen. Dabei hatte Steve Spectral Mornings ursprünglich eigentlich als Song erdacht mit der von der Gitarrenmelodie als Gesangslinie. Als er diese der Band aber auf der Gitarre vorspielte, war es Pete Hicks, der meinte, dass dieses Stück als Gitarreninstrumental wohl besser zur Geltung kommen würde. Womöglich hat er damit Recht behalten. Wie es aber mit Gesang hätte klingen können, konnte man erst 2015 erfahren, als Hackett eine Version mit Gesang von David Longdon (Big Big Train) und Christina Booth (Magenta) aufnahm [iTunes Link]. Auch wenn diese Umsetzung recht gut gelungen ist, bleibt sie doch weit hinter der Klasse und Einzigartigkeit des Originals zurück. Ein mehr als würdiger Abschluss für dieses Album!

Bonustracks / neue Mixe

2005 wurde eine remasterte Version des Albums auf CD veröffentlicht, die zusätzlich zur ursprünglichen Tracklist auch eine Reihe von Bonustracks enthält:

Every Day– Alternate Mix [7:09]

Die Abweichung zum Originalmix besteht im Wesentlichen in der längeren Spieldauer (fast eine Minute mehr). In dieser Zeit passiert sogar noch etwas neues: Die Geschwindigkeit wird runtergefahren und das Keyboard übernimmt den Lead mit einem neuen Thema. Leider ist auch dieser Schluss nicht vollständig auskomponiert bzw. wird vom Fade-Out vorzeitig beendet.

The Virgin and the Gypsy– Alternate Mix [4:27]

In direkten Vergleich fällt sofort auf, dass die Gitarren gänzlich anders abgemischt worden sind (womöglich wurden auch andere Spuren verwendet). Während des Refrains ist eine zusätzliche Spur mit Mundharmonika zu hören.

Tigermoth – Alternate Mix [3:20]

Diese Fassung kommt ohne den Instrumentalpart aus und startet direkt mit dem Song, bei dem teilweise andere Gesangsspuren verwendet wurden.

The Ballad of the Decomposing Man – Alternate Mix [4:24]

Auch hier liegt der Hauptunterschied darin, dass das Fade-Out deutlich später einsetzt und man die Office Party einfach viel besser genießen kann.

Clocks – The Angel of Mons – Single Version [3:38]

Live Acoustic Section [5:40]

Das akustische Medley von der Clocks B-Seite.

Tigermoth – Live [3:59]

The Caretaker[1:41]

Bei diesem Hidden Track (der wohl auf der allerersten CD Fassung noch enthalten war und jetzt erneut im Titelverzeichnis der Remasterd Version fehlt) handelt es sich nicht um ein musikalisches Werk, sondern eher um ein kleines Hörspiel. Der Hausmeister (gespielt von Pete Hicks), hustet sich seine Raucherlunge aus dem Hals und flucht wie ein Rohrspatz über die Musiker („Bloody Musicians“), denen er im Studio hinterherräumen muss.

Poster10 Jahre nach Veröffentlichung der remasterten Version fertigte Steves Freund Steven Wilson neue Abmischungen der Alben Please Don’t Touch und Spectral Mornings an; sowohl als 5.1 Surroundmix als auch als Stereomix. Zusätzlich legte er Hand an Voyage of the Acolyte und Defector; in Ermangelung der vollständigen Originalbänder war für diese beiden Alben jedoch nur ein Pseudo 5.1 Surround Upmix möglich. Die neuen Mixe erschienen zunächst im Premonitions Boxset und später dann auch für jedes Album einzeln (bis auf Voyage Of The Acolyte) als Deluxe Edition im 2CD/DVD Set. Auf den CDs sind die neuen Stereomixe sowie die remasterte Fassung von 2005 enthalten. Die DVD beinhaltet den hochauflösenden Stereomix (96/24 LPCM) sowie den 5.1 Surroundmix in DTS 96/24 und Dolby Digital AC3. Sehr schade ist, dass die neue Super Deluxe Edition und auch die PremonitionsBox nicht mehr sämtliche Bonustracks, sondern nur noch die Singleversionen von Every Dayund Clocks sowie The Caretaker enthalten, so dass man nach wie vor die 2005 Remastered Fassung benötigt, wenn man auf Vollständigkeit Wert legt.

Wie man es von Steven Wilson durch seine bisherigen Neuabmischungen zahlreicher 70er Jahre Progklassiker gewohnt war, ging er auch diesmal sehr behutsam mit dem Material um und legte großen Wert darauf, den Charakter der Originalabmischungen zu erhalten. In den Stereomixen fallen die Unterschiede daher allenfalls im direkten Vergleich auf. Die prägnanteste Abweichung besteht darin, dass bei einigen Stücken das Fade-Out (bei Clocks das Fade-In) um ein paar Sekunden später einsetzt und die Songs so etwas länger werden. Bei Every Day sind das immerhin 10 Sekunden, so dass man schon etwas vom Schlussteil hört, den man sonst nur vom Alternate Mix kannte.

Der Surround-Mix ist da natürlich ergiebiger und offenbart so manches kleine Detail, das in den Stereoabmischungen nicht oder nur schwer herauszuhören war. Der Surroundmix ist geschmackvoll gehalten und kommt ohne große Mätzchen und Effekthascherei aus. Die 5 Kanäle werden jedoch gut ausgenutzt und die Instrumente so verteilt, dass man sehr schön differenzieren kann, ohne dass der Mix dadurch zerfasert. Der Center-Kanal ist meistens reserviert für Leadstimme oder Leadinstrument (wobei die darauf liegenden Effekte eher auf den anderen Kanälen liegen). Sehr viel Freude bereitet der Surroundklang besonders beim Harmoniegesang oder auch den Flöten.

Fazit

Spectral Mornings erreichte Platz 22 der UK Albumcharts und war damit das bis dato erfolgreichste Soloalbum des Engländers. Mit mittlerweile drei recht erfolgreichen Alben und jetzt auch einer festen Band, mit der er ausgiebig auf Tour gehen konnte, war Steve Hackett jetzt ein etablierter Künstler, der eindrucksvoll bewiesen hatte, dass er mehr als nur eine Eintagsfliege ist.

Stilistisch baut das Album auf seinen Vorgängern auf, zeigt aber insgesamt eine größere atmosphärische Einheitlichkeit, obwohl auch hier wieder eine breite Palette von Musikrichtungen von Klassik über Folk und Prog bis hin zu New Age ihren Platz findet; die Band drückt hier eben doch einen markanteren Stempel auf, was mit einer hohen Anzahl an Gastsängern und Gastmusikern so nicht möglich gewesen wäre. Sehr prägend war vor allem der Einsatz von Harmoniegesang, für den im Wesentlichen Dik Cadbury verantwortlich war. Noch heute orientiert sich Steve beim Arrangieren von Gesangslinien deutlich hörbar an diesem Stil. An der Gitarre hatte Steve nun seinen Signature Sound gefunden, den er bei Every Day, Clocks, Tigermoth und dem Titelstück einsetzt und auf den er auch auf späteren Werken immer wieder zurückgegriffen hat. Für manchen Hörer und Kritiker hatte es Steve mit den elegischen Elementen aber auch übertrieben und manches Mal zu zuckrige Sounds verwendet, wodurch er zuweilen in den Kitsch abzudriften droht. Diese Vorwürfe (die auch bei den Alben der letzten Jahre insbesondere aufgrund des starken Einsatzes von Halleffekten immer wieder aufkamen) beziehen sich hauptsächlich auf den Satzgesang in The Virgin and the Gypsy sowie auf den sehr hymnenartigen Titeltrack, in dessen Kontext auch Steves „Favorite Golden Tune“ recht süßlich erstrahlt. Letztlich ist das natürlich immer eine Geschmacksfrage. Viele seiner Fans lieben die Musik von Steve Hackett gerade aufgrund solcher Elemente.

Im Vergleich zum sehr songorientierten Please Don’t Touch liegt der Schwerpunkt nun wieder sehr viel stärker auf instrumentaler Musik. Mit gerade einmal 4 Songs, von denen einer von Steve Hackett selbst gesungen wird und die dann wie Every Day und Tigermoth zu großen Teilen auch noch instrumental sind, geht Pete Hicks als Leadsänger etwas unter, zumal die Leadstimme meist auch noch starke Unterstützung durch den Backgroundgesang erhält. So ist er eben auch hauptsächlich dafür engagiert worden, weil irgendjemand ja die bereits bestehenden Songs der alten Alben live singen musste. Auch bei den Liveshows standen insbesondere die instrumentalen Prognummern im Vordergrund. Man merkt dem Album auch an, dass die klare Intention war, die Stücke so aufzunehmen, dass sie ein echtes Livefeeling versprühen. Vermutlich deshalb wurde die Musik dieses Albums so häufig live performt wie von keinem anderen. Every Day, Spectral Morningsund Clocks sind laut setlist.fm die mit Abstand am häufigsten live gespielten Solostücke von Hackett (die 2019er Tour, die unter anderem dem Jubiläum dieses Albums gewidmet ist, wird diesen Status noch weiter zementieren). Nicht wenige Fans wünschen sich eine Rückbesinnung auf diese Philosophie bei zukünftigen Studioaufnahmen: Die Musik wieder mit der gesamten Band so einzuspielen, wie sie später auch live performt wird – mit echten statt programmierten Drums und dem Verzicht auf alles, was später auf der Bühne nur vom Band reproduziert werden kann.

Autor: Eric Engler
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