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Steve Hackett – Please Don’t Touch – Rezension
Nach seinem Ausstieg bei Genesis veröffentlichte Steve Hackett sein zweites Soloalbum, Please Don’t Touch, das nicht nur aus heutiger Sicht mit einer beeindruckenden Gastmusikerliste wuchern kann.
Im April 1978 veröffentlichte Steve Hackett mit Please Don’t Touch sein zweites Soloalbum – und das erste nach seinem Ausstieg bei Genesis. Wie auch Peter Gabriel bei seinem Debut wollte Steve so viele musikalische Stile wie möglich unterbringen und dabei auch ein Crossover aus weißer und Black Music erschaffen. So wurde das Album auch zur Hälfte in Großbritannien und zur anderen Hälfte in den USA aufgenommen.
Das Wasserfarbengemälde, das Steves damalige Ehefrau Kim Poor als Frontcover beisteuerte, zählt zu den detailverliebtesten und schönsten ihrer Werke, die sie für Steves Alben gefertigt hat. Ähnlich wie bei den Genesis Covern von Paul Whitehead kann der geneigte Fan nach kleinen Details forschen und rätseln, was diese wohl bedeuten mögen und welchen Bezug sie zur Musik haben könnten.
Das Bild zeigt einen älteren Mann und eine ältere Frau, beide rundlich und in altertümlich viktorianischer Kleidung, die in einer Art Lagerraum oder Ausstellungsraum von kleinen aufziehbaren Puppen, Robotern und Spielsachen angegriffen werden. Das Bild wird umrandet von einer Art Holzrahmen, der von weiteren Puppen, Schaukelpferden und Ornamenten geschmückt ist, und wirkt so wie ein Diorama. Am oberen Ende des Rahmens prangt in großen Lettern der Name Steve Hackett. Unten am Rahmen sowie an einem Schrankhaken im Bild hängt jeweils ein Schild mit der Aufschrift Please Don’t Touch.
Die Idee für das Gemälde kam Kim Poor durch einen Laden in der Portobello Road in London, der alte viktorianische Automaten und Spielsachen verkaufte. Angeblich hat dieses Albumcover sogar Ridley Scott zu einer Szene in seinem berühmten Film Bladerunner inspiriert, in der Spielsachen zum Leben erwachen und den von Harrison Ford dargestellten Charakter angreifen.
Was die Covergestaltung und der Name des Albums genau bedeuten sollen, lässt sich nicht genau bestimmen. Please Don’t Touch ist kein Konzeptalbum wie der der Vorgänger Voyage Of The Acolyte, auch die Songtexte scheinen nichts mit dem Cover zu tun zu haben. Meiner Vermutung nach soll der Titel Please Don’t Touch Steves künstlerische Freiheit als Solokünstler beschreiben. Zu seiner Zeit bei Genesis war er oft frustriert, wenn seine Songideen nicht wie von ihm gedacht übernommen wurden, sondern von der Band umgebaut, auseinander gerissen, mit anderen Elementen verknüpft und stark verändert wurden. ‚Genesis haben meine Songs geschlachtet!‘ lautete sogar mal die Überschrift in einer Musikzeitschrift kurz nach Steves Ausstieg bei Genesis, wo er sich genau zu diesem Thema äußerte. Jetzt, vollständig auf eigenen Füßen, war diese Zeit vorbei. Seine Ideen werden von niemandem – außer von ihm selbst – mehr angerührt. „Please Don’t Touch!“ Und wenn doch jemand nicht die Finger davon lassen kann, wer weiß, was dann passiert. Womöglich hat auch irgendjemand an den aufziehbaren Puppen und Robotern vom Plattencover zuviel rumgefummelt, bis diese dann auf einmal zurückschlugen und angriffen.
Die Rückseite des LP-Covers zeigt ein Schwarzweißfoto von Steve in Ledermantel am Wasser stehend.
Weiterhin liegt der LP auch noch ein sehr liebevoll gestaltetes Blatt mit den Songtexten und Credits bei, auf dessen Rückseite noch Farbfotos von Armando Gallo von der Band und den Aufnahmesessions abgebildet sind. Bei der ersten CD-Version waren leider viele dieser schönen Details weggelassen worden. Die 2005 Remaster Version hat zum Glück sämtliche Elemente des Artworks wieder aufgegriffen. Gerade dieses Artwork entfaltet seine Wirkung aber eindeutig am Besten in der Vinylausgabe.
Die Besetzung
Wie schon beim Vorgänger Voyage Of The Acolyte konnte Steve auch für Please Don’t Touch ein beeindruckendes Line-up aus namhaften Musikern gewinnen. Besonders mit den drei Gastsängern Steve Walsh, Richie Havens und Randy Crawford ist das Album recht prominent besetzt.
Steve Hackett – Elektrische und akustische Gitarren, Roland GR-500 Guitar Synthesizer, Gesang, Keyboards, Percussion, Spieluhr, Mellotron, Psaltery, Maraccas und alles andere, was Steve zu dieser Zeit in die Finger kriegen konnte (eine vollständige Equpmentliste ist in der LP-Ausgabe und im Booklet der 2005 Remaster Version enthalten).
John Hackett – Flöte, Piccolo, Basspedalen, Keyboards
John Acock – Keyboards, Toningenieur
Maria Bonvino – Gastsopran bei Hoping Love Will Last
James Bradley – Percussion
Randy Crawford – Gesang bei Hoping Love Will Last
Phil Ehart – Schlagzeug, Percussion
Feydor – Gesang bei The Voice of Necam
Tom Fowler – Bass
Richie Havens– Gesang, Percussion
Dave Lebolt– Keyboards
Hugh Malloy – Cello
Dale Newman – Hintergrundgesang bei Icarus Ascending
Dan Owen – Hintergrundgesang bei Icarus Ascending
Graham Smith – Violine
Chester Thompson – Schlagzeug, Percussion
Steve Walsh – Gesang bei Narnia and Racing in A
Die Songs und Instrumentals im Einzelnen
1. Narnia (4:05)
Das Album beginnt mit einem glockenklaren, sehr fröhlichen akustischen Gitarrenriff, das sich durch den gesamten Song zieht und sich dem Hörer schnell als Ohrwurm in die Gehörgänge frisst. Später kommen noch eine weitere akustische Gitarre und eine hacketttypische elektrische Leadgitarre hinzu. So entpuppt sich der Opener von Please Don’t Touch auch schnell als gitarrenlastiger, aber sehr eingängiger und radiotauglicher Poprocksong.
Tatsächlich war für Narnia auch eine Singleauskopplung geplant. Der Song hatte auch reichlich Airplay auf amerikanischen Radiostationen. Doch leider sperrte sich die Plattenfirma von Kansas, deren Sänger Steve Walsh und Drummer Phil Ehart die Lead Vocals bzw. Drums übernahmen, gegen eine Veröffentlichung als Single. Es wurde dann eine Alternativversion mit John Perry als Sänger aufgenommen und diese Version wurde in einigen Ländern auch veröffentlicht, darunter Großbritannien, die Niederlande und Deutschland. Später wurde diese Version auch als Bonustrack auf der 2005 Remasterversion auf CD veröffentlicht.
Musikalisch inspiriert zu dem Song wurde Hackett durch den Saxophonisten Ian McDonald, als dieser ihm kurz nach seinem Ausscheiden bei King Crimson Anfang der 70er ein Instrumental vorspielte und meinte, dass dieses wohl ein gutes Intro für einen Song ergeben würde. Jahre später dachte dann auch Steve, dass das eine gute Idee sei.
Der Text basiert auf dem Roman The Lion, The Witch and The Wardrobe, dem ersten Teil der Narnia-Reihe von C. S. Lewis.
Der Song wurde insbesondere auf der Spectral Mornings-Tour viel live gespielt, konnte sich jedoch nicht dauerhaft als Liveklassiker etablieren.
2. Carry On Up The Vicarage (3:10)
Auf dem zweiten Song des Albums zeigt Hackett seinen Humor. Mit einem bunten Reigen aus Instrumenten und Sounds wird der Hörer in die Welt von Agatha Christie (der Song ist als Tribut an die britische Schriftstellerin gedacht) entführt und erfährt dort von allen möglichen und unmöglichen Methoden, wie man so um die Ecke gebracht werden kann.
Los geht es mit den Klängen einer alten Spieluhr, eine Frauenstimme spricht etwas Unverständliches, dann ist ein verzerrter Chor zu hören, der anscheinend einen Christmas Carol singt. Schließlich geht der Song richtig los mit Glockenspiel- und Gitarrenarpeggios, einer laut dröhnenden Kirchenorgel (die Robert Morton-Pfeifenorgel wurde noch vor Veröffentlichung des Albums durch ein Feuer im Record Plant Studio in L.A. zerstört), Drums und Bass zu einem schnellen Beat. Dann gesellen sich noch Piano und elektrische Gitarren hinzu. Am Schluss ist sogar kurz eine quietschige Drehorgel zu hören.
Gesungen wird das -Mini-Musical- von Steve Hackett, der auf dem Album sonst nur Backing Vocals übernimmt. Damals hatte Steve wohl noch kein so großes Selbstvertrauen in seine Sängerqualitäten, weshalb er seine Stimme mit einem ‚Laughing-Gnome-Effekt‘ verzerrt (die Stimme wird gleichzeitig nach oben und nach unten gepitcht). Nur am Schluss des Songs singt Steves mit unverzerrter Stimme (wenn auch mit viel Hall). Durch diesen Stimmeffekt erhält der ohnehin schon sehr skurril wirkende Track eine noch komischere Note und erinnert in seinem Charme ein wenig an alte humorige Genesissongs wie Harold The Barrel oder Willow Farm.
Der Song wurde auf der Spectral Mornings-Tour auch live performt, was vielleicht eher der Erheiterung als der musikalischen Erbauung des Publikums diente.
Insgesamt kommt Carry On Up The Vicarage so fröhlich und lustig daher, dass man fast meinen könnte, Mord und Totschlag seien doch recht vergnügliche Methoden des Zeitvertreibs.
3. Racing In A(5:06)
Mit Racing In A folgt die schnellste und wohl auch rockigste Nummer des Albums. Der treibende, von Phil Ehart getrommelte Beat wechselt mehrfach den Takt; der Song bleibt dennoch rockig und eingängig und entwickelt richtig Drive (Vorsicht! Der Autor dieser Zeilen ist jüngst beim Autofahren geblitzt worden, als gerade dieser Song lief). Wie schon bei Narnia steuert auch hier Steve Walsh die Leadvocals bei, der sich richtig in den Song reinsteigert.
Der Song kommt mit relativ wenig Keyboards aus (hauptsächlich Chöre und Streicher), ansonsten beherrschen elektrische Gitarren das Klangbild. Derart straighten Rock (wenn auch schon wieder zu komplex fürs Radio) mit vielen schnellen verzerrten Gitarrenriffs, der den Hörer fast zum Tanzen auffordert, hat Hackett nur selten abgeliefert.
Nach ca. 3:50 Minuten ist der Rockpart auf einmal zu Ende und die akustische Nylongitarre spielt solo einen eher klassisch geprägten Schluss. Ein merkwürdiges Ende für einen Rocksong, aber wir sprechen hier ja schließlich über Steve Hackett, bei dem man eigentlich nie genau weiß, welches Stilmittel er als nächstes in einen Song einbaut. Trotz des überdeutlichen Kontrasts zwischen den beiden Songparts schafft es Steve dennoch irgendwie, dass alles gut zusammenpasst (was ihm bei anderen Stilcollagen schließlich nicht immer perfekt gelingt).
Der Songtext handelt davon, dem Stress des Alltags zu entfliehen, mit dem Auto und Freunden aufs Land zu düsen und dort Entspannung zu suchen. Das passt richtig gut zu dieser Gute-Laune-Nummer.
Auf der Spectral Mornings-Tour wurde Racing In A vom Publikum frenetisch gefeiert; der Song wurde teilweise auf über 10 Minuten ausgedehnt (als Medley mit Teilen von Ace Of Wands), wobei die Coda mit der akustischen Gitarre erst nach einem Zwischenapplaus gespielt wurde.
4. Kim (2:12)
Nach so viel Uptempo wird es mit Kim auf einmal sehr ruhig und der Hörer wird zum Zurücklehnen und Träumen eingeladen. Dieses kurze akustische Instrumentalstück – nur Steve an der Nylongitarre und sein Bruder John an der Flöte – hatte Steve seiner damaligen Frau Kim Poor gewidmet.
Hier zeigt sich – wie schon auf Hands Of The Priestess vom Vorgängeralbum – sehr deutlich die Liebe der Hackettbrüder zur klassischen Musik. Insbesondere der Einfluss von Erik Satie (mit dessen Werk sich Steve und John in späteren Jahren noch stärker befasst haben) ist klar erkennbar. Man könnte fast meinen, bei dem ruhigen, getragenen Kim handelte es sich um eine seiner berühmten Gymnopédies.
Das Stück wird sehr diszipliniert mit ganz exakt gesetzten Tönen und frei von überflüssigen Schnörkeln vorgetragen und verbreitet so eine Ruhe, die den Hörer wohlig gefangen nimmt.
Dieses akustische Kleinod war über Jahrzehnte bis zur Trennung von Kim Poor ein Klassiker bei Steves Akustikkonzerten. Interessant ist besonders die Version von der There Are Many Sides To The Night, bei der Kim mit -vertauschten Rollen- gespielt wird. Während Steve auf der Gitarre die Melodie der Flöte übernimmt, spielt Julian Colbeck am Piano die Gitarrenparts.
5. How Can I?(4:38)
Mit How Can I? wird erneut ein weiterer Musikstil präsentiert. Hackett zeigt, dass er auch Folkballaden beherrscht. Der Song wird von der akustischen Gitarre, auf der Steve hauptsächlich nur Akkorde schrammelt, sowie der unverkennbaren tiefen Stimme von Woodstock-Legende Richie Havens getragen.
Hackett und Havens hatten sich 1977 auf dem Genesis-Earls Court-Gig kennen gelernt, wo Havens im Vorprogramm auftrat. Steve wollte unbedingt mit ihm zusammenarbeiten und lud ihm zum Abendessen ein. Zu seinem Glück war Havens ebenfalls stark an einer Kooperation interessiert und brachte von sich aus das Gespräch auf dieses Thema. Herausgekommen sind dabei dann die Songs How Can I? und Icarus Ascending.
How Can I? wurde auch als Single ausgekoppelt (mit Kim als B-Seite), sogar ein Videoclip wurde gedreht, bei dem sich Steve und Richie gegenübersitzen, während Steve klampft und Richie singt.
Der Song wurde oftmals als Pendant zu Peter Gabriels Solsbury Hill bezeichnet, ist aber viel getragener und ruhiger und versprüht eher eine angenehme Lagerfeueratmosphäre, als dass er zum Mittanzen auffordert. Durch Havens- prägnante soulige Stimme und durch die Folkelemente wirkt der Song sehr amerikanisch und bildet so einen starken Kontrast zu den vorherigen, sehr britisch und europäisch klingenden Stücken.
6. Hoping Love Will Last (4:22)
War How Can I? schon deutlich amerikanisch angehaucht, so beschreitet Hackett mit Hoping Love Will Lastnoch tiefer die musikalischen Pfade aus der Neuen Welt und legt eine lupenreine Pianobluesballade vor.
Für eine solche Nummer war eine soulige schwarze Stimme erforderlich. Diese fand Steve in einer Bar in Chicago, als er einen Auftritt der damals noch eher unbekannten Randy Crawford (die kurze Zeit später mit den Crusaders ihren großen Durchbruch feierte) miterlebte und sich sofort in ihre kraftvolle Soulstimme mit dem schnellen Vibrato verliebte. Der Song wurde teils in Los Angeles und teils in London aufgenommen und verhalf Randy zu ihrer ersten Veröffentlichung in Großbritannien.
Der Song beginnt mit dem noch vertrauten Klang von Steves elektrischer Gitarre – gespielt mit Volumenpedal, so dass kein Anschlag zu hören ist und man zunächst an ein Keyboard denkt – gepaart mit etwas akustischer Nylongitarre. Dann setzen Piano, mit Schlagzeugbesen gerührte Drums und Randys samtweiche Stimme ein. Die Gitarren werden in den Hintergrund gedrängt und setzen subtile Akzente und Farbtupfer. Nach einem kurzen Intermezzo aus elektrischer Gitarre und Mellotronstreichern entfaltet Randy dann ihre gesamte Stimmgewalt und schmettert den Rest des Songs voller Inbrunst und Leidenschaft. Was für eine tolle Stimme! So muss eine Soulballade klingen! Jetzt werden auch die Drums kraftvoller, Steves Gitarre singt ebenfalls eindringlicher, lässt Frau Crawford aber stets im Vordergrund.
Über den Song sagte Steve selbst: ‚I felt it was the kind of song that I wanted to do that could become a standard, that even Frank Sinatra could sing.‘ [Ich hatte das Gefühl, dass dieser eine Song von mir einer dieser großen Standards werden könnte, den selbst Frank Sinatra singen könnte/würde.] Der Hörer mag selbst entscheiden, ob Hackett etwas Derartiges gelungen ist. Auf jeden Fall nimmt der Song ganz klar eine Ausnahmestellung in seinem Schaffen ein. Wenn man es nicht wüsste (und der verräterische Klang der elektrischen Gitarre nicht wäre), würde wohl kein Mensch beim Hören von Hoping Love Will Last auch nur ansatzweise erahnen, dass dieser Song aus der Feder eines (ehemaligen) Genesismitglieds stammt.
In Chapter & Verse hat sich Tony Banks lobend zu dem Song geäußert, der meinte, dass dieser wohl gut auf A Trick Of The Tail gepasst hätte . Aber ob Phil Collins als Sänger dieser Ballade die gleiche Klasse verliehen hätte, wie Randy Crawford es eindrucksvoll vorgemacht hat, mag man zumindest bezweifeln. Steve war jedenfalls der Ansicht, dass Genesis diesen Song nicht spielen könnten.
7. Land Of Thousand Autumns (1:37)
Die nächsten drei Stücke Land Of Thousand Autums/Please Don’t Touch/The Voice Of Necam bilden eigentlich eine musikalische Einheit, sollen hier aber dennoch einzeln besprochen werden.
Der singende Gitarrensound am Ende von Hoping Love Will Last geht nahtlos in Land Of Thousand Autums über. Das Keyboard deutet bereits bedrohlich das Thema von Please Don’t Touch an, begleitet durch ein paar atmosphärische Sounds und etwas akustische Gitarre. Das Stück ist nicht wirklich eigenständig, sondern lediglich das Vorspiel zum Titeltrack.
Auf der Original-CD-Veröffentlichung gab es noch eine zweisekündige Pause zwischen den beiden Instrumentalstücken. Dieser Fehler wurde auf der Remasterversion von 2005 glücklicherweise behoben.
8. Please Don’t Touch (3:38)
‚For maximum effect this track should be listened to as loudly as possible with as much treble and bass as your system can muster, not to be played to people with heart conditions or those in severely hallucinogenic states of mind.‘ [Zur maximalen Wirkung sollte dieser Track so laut wie nur möglich mit soviel Höhen und Bass, wie deine Anlage nur hergibt, gehört werden! – Für Leute mit Herzproblemen oder solchen unter ernsthaften halluzinierenden Geisteszuständen nicht geeignet!]
Diese Höranleitung/Warnung spricht Steve auf der LP-Rückseite zu Please Don’t Touch aus. Wer auch künftig noch ohne Anwälte mit seinen Nachbarn kommunizieren will, sollte von dieser Empfehlung allerdings nicht allzu oft Gebrauch machen. Auch Risse in den Wänden könnten eine unerwünschte Nebenwirkung sein. Wenn die Nachbarn aber gerade mal nicht da sein sollten und die Gebäudestatiker keine ernsthaften Einwände haben, muss man es aber doch mal ausprobieren, es macht einfach Spaß!
Für Freunde des hackettschen Schönklangs à la Spectral Mornings ist das Titelstück wahrlich zumindest eine Herausforderung, wenn nicht gar beiweilen eine Zumutung. Nein, Please Don’t Touch will nicht schön klingen. Das unbändige Monster will seine Zähne und Klauen zeigen, sein Gift versprühen, den Hörer bedrohlich anfauchen und nachts schlecht schlafen lassen!
Das Stück wird getrieben von einem alles niederwalzenden Basspedal, das John Hackett nicht etwa mit den Füßen bedient, sondern auf dem er mit den Fäusten rumhämmert. Darüber lässt Steve seine langgezogenen Gitarrensounds aufheulen. Im Hintergrund ist noch eine zweite, gezupfte Gitarre zu hören. Zusammen mit dem treibenden Drumbeat von Chester Thompson und den hypnotischen Keyboardflächen wird so eine alptraumhafte Atmosphäre wie aus einem Horror- oder Science-Fiction-Film erschaffen.
Zum ersten Mal auf diesem Album zeigt Hackett wirklich seine proggige Seite und man kann hier wieder mal deutlich erkennen, dass er ein großer Fan der frühen King Crimson ist.
Dann wechseln Rhythmus und Thema des Stücks. Nach einem gemein ekligen Gitarrenriff wird die Bestie auf einmal freundlich (sie will doch nur spielen!) und Steve und John spielen im Duett aus Flöte und elektrischer Gitarre ein fröhliches Thema (von der Stimmung her dem von Jacuzzi nicht unähnlich), das im deutlichen Kontrast zum übrigen Stück steht. Am Ende wird die Bestie dann aber doch wieder grimmig und kehrt zum Grundthema zurück.
Steve hatte Please Don’t Touch bereits mit Genesis auf Wind & Wuthering unterbringen wollen. Das Stück wurde auch von der Band geprobt, dann aber zum Frust von Steve von den anderen Bandmitgliedern abgelehnt. Nachdem Phil Collins, der ursprünglich meinte, er könnte mit dem Stück nichts anfangen , die fertige Albumversion gehört hatte, zeigte er sich von sehr beeindruckt. Diese Version wich wohl auch stark von derjenigen ab, die Genesis damals probten und die Phil mit einem von Wheather Report beeinflussten Rhythmus spielte.
Please Don’t Touch ist (oft im Zusammenhang mit den flankierenden Stücken Land Of Thousand Autumnsund The Voice Of Necam) neben Kim der einzige wirkliche Liveklassiker des Albums geworden und wird auch heute noch auf den elektrischen Bandshows gespielt.
9. The Voice Of Necam (3:10)
Der Titeltrack endet abrupt, das Thema wird dann aber noch von The Voice Of Necam weitergeführt – und zwar von einer Drehorgel. Dazu sind Schnarr- und Dampfgeräusche zu hören. Man hat den Eindruck, die viktorianischen Roboter und Puppen vom Albumcover würden sich in Bewegung setzen und diese Geräusche verursachen. Dann setzt auf einmal langsam immer lauter werdend die Stimme von Necam, dem Computer, ein – ein entrückt und synthetisch klingender Chor, der alle anderen Instrumente vollständig verdrängt, bis schließlich Steves akustische Nylongitarre ertönt und im Duett mit Necam ein ruhiges, klassisch anmutendes Thema vorträgt und so dem Hörer nach der elektrischen Tour de Force des Titelstücks ein wenig Ruhe und Entspannung verschafft.
10. Icarus Ascending (6:26)
Mit der Ruhe von The Voice Of Necam ist es dann aber schnell wieder vorbei. Der letzte Song des Albums reißt den Hörer wie mit Paukenschlägen aus dem wohligen Dämmerzustand. Icarus Ascendingstartet unvermittelt mit Powerchords aus Piano, verschiedenen Gitarren, Keyboards, Bass und einem wuchtigen Schlagzeug. Über diesem bereits sehr opulenten Klanggebilde schwebt dröhnend die kraftvolle Stimme von Richie Havens. Klang er auf How Can I? noch eher romantisch, so gibt er hier eine Kostprobe seiner eindrucksvollen Stimmgewalt, singt jedoch sehr gefühlvoll.
Der Song hat eine sehr schöne, eingängige und romantische Melodie und wäre – etwas gekürzt – absolut radiotauglich.
In der Songmitte löst sich das Arrangement plötzlich vollständig auf. Über einem langsamen Keyboardarpeggio solieren erst Bass und Piano, es klingt wieder etwas nach Jazzbar, dann kehrt das Songthema zurück, die Gitarre führt das Arpeggio fort und Richie singt die letzte Strophe. Das Ende des Songs wird lang ausgedehnt, Richie intoniert lange Zeit mit majestätischer Stimme seine Uuhh-Uuhs, begleitet von Chören, einem Flötensolo von John und einem insgesamt wirklich opulenten Instrumentarium, darunter auch ein Psaltery, ein altes englisches Instrument . Insbesondere der ausgedehnte Schluss des Songs wirkt sehr elegisch, nicht mehr ganz von dieser Welt und lädt zum Augenschließen und Träumen ein. Musikalisch ein ganz wunderbarer Abschluss eines fantastischen Albums.
Der Songtext behandelt den griechischen Mythos von Ikarus, der mit künstlichen Flügeln aus dem Labyrinth des Minotaurus entfloh, dann aus Übermut jedoch der Sonne zu nahe kam, die das Wachs der Flügel schmolz, so dass Ikarus in den Tod stürzte. Der Song endet jedoch optimistischer:
‚All that’s behind me, And I flew this time, Never falling, Since your eyes first touched mine‘
[All das ist hinter mir, und dieses Mal flog ich, bin nie gefallen, seit deine Augen das erste Mal die meinen erblickten.] Den Songtext habe ich immer als Parabel auf Steves Trennung von Genesis und seine vollständige Konzentration auf seine Solokarriere verstanden. Hatte er sich damit eventuell übernommen, würde er es tatsächlich allein schaffen ohne den sicheren Hafen der Band Genesis- Oder würde Steve Hackett scheitern mit seiner Solokarriere und wie Ikarus abstürzen- Steve hatte diese Frage anscheinend schon mit den letzten Zeilen des Songs für sich beantwortet. Die Zeit hat ihr übriges getan. Mehr als 30 Jahre nach seinem Austritt bei Genesis ist Steve immer noch nicht abgestürzt. Er fliegt noch immer.
Fazit
Please Don’t Touch bietet eine enorme Bandbreite an unterschiedlichen Musikstilen – von Pop, Rock, über Folk, Soul und Klassik bis hin zu Prog. Das alles in einem Album so zu vereinen, dass am Ende noch ein geschlossenes Werk und nicht nur eine willkürliche Ansammlung verschiedener Musikstücke herauskommt, ist schon ein wahres Kunststück. Die Kombination verschiedener musikalischer Stilrichtungen auf einem Album ist zu einem Markenzeichen von Steve Hackett geworden (besonders auf den beiden letzten Rockalben To Watch The Storms und Wild Orchids). So gut wie bei Please Don’t Touch ist ihm eine harmonische Vereinigung der unterschiedlichen Musikrichtungen meiner Ansicht nach nie wieder gelungen. Trotz der wirklich enormen Kontraste (welcher Nicht-Hackett-Kenner würde auch nur erahnen, dass hinter Kim, Hoping Love Will Last und Narnia der selbe Komponist und Musiker verbirgt-) kann man das Album sehr gut im Ganzen hören. Die Stilbrüche wirken bei den ersten Hördurchgängen sicherlich verwunderlich, sie stören aber auch nicht wirklich. Dafür sorgen zum einen verbindende Elemente wie wiederkehrende Sounds, die sich durch das gesamte Album ziehen (z.B. Steves singende Gitarre, die Nylongitarre oder auch der Necam-Chor), und fließende Übergänge zwischen den Stücken (wie zwischen Hoping Last Will Last und Land Of Thousand Autumns).
Zum anderen ist die Qualität der Songs und Instrumentalstücke durchgehend gut bis exzellent; da ist einfach kein Ausfall dabei. Durch die für Hackett verhältnismäßig hohe Anzahl von Songs (sechs Stück an der Zahl bei zehn Tracks), von denen alle recht eingängig, teilweise sogar sehr radiotauglich sind (Narnia hätte ein Hit werden können!), wird der Hörer trotz der großen musikalischen Bandbreite des Albums auch nicht zu stark überfordert. Immerhin erreichte die LP mit dem Platz 38 sogar die Top 40 der britischen Charts.
Auch die Produktion des Albums durch John Acock und Steve Hackett kann überzeugen. Der Sound ist an den richtigen Stellen klar und brillant und hat bei den rockigeren Stücken genug Biss und Kraft. Besonders erfreulich ist, dass die Gitarren, die bei Genesis allzu oft unter den Bankschen Keyboardteppichen zugekleistert wurden, auf Please Don’t Touch endlich klar und akzentuiert zu hören sind, auch ohne dass sie sich ständig in den Vordergrund drängen müssen. Viele Genesis-Fans hätten sich einen solchen Sound besonders auf der Wind & Wuthering gewünscht.
Sehr weise war auch die Entscheidung, bei den Songs hauptsächlich auf Gastsänger zu setzen. Mit Steve Walsh, Randy Crawford und Richie Havens hat Steve drei wirklich erstklassige Stimmen rekrutieren können, die seinen Songs eine ganz besondere Qualität verleihen. Wenn Hacketts Songs von wirklich guten Stimmen gesungen werden, kann man oft erst das enorme Songwritingpotenzial erkennen, das in dem englischen Gitarristen steckt. So sympathisch ich Steves Gesangeskünste auch finde und so sehr ich viele der von ihm selbst gesungenen Songs schätze, nein, ich möchte mir nicht vorstellen, wie Icarus Ascending oder Narnia mit Steves Stimme geklungen hätte. Dafür sind die Songs, so wie sie jetzt mit den Gastsängern sind, einfach zu gut!
Autor: Eric Engler