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Steve Hackett – Metamorpheus – Rezension
Nach dem künstlerischen und auch kommerziellen Erfolg seiner Vertonung des shakespeareschen Sommernachtstraumes als Gitarrenkonzert (1997) durfte man mit einem weiteren Projekt dieser Art rechnen. Dieses wurde auch bereits vor einigen Jahren angekündigt und erblickte endlich acht Jahre nach seinem Vorgänger das Licht der Oberwelt…
Nach dem künstlerischen und auch kommerziellen Erfolg seiner Vertonung des shakespeareschen Sommernachtstraumes als Gitarrenkonzert (1997) durfte man mit einem weiteren Projekt dieser Art rechnen. Dieses wurde auch bereits vor einigen Jahren angekündigt und erblickte endlich acht Jahre nach seinem Vorgänger das Licht der Oberwelt.
Wieder hat sich Steve eines Stoffes angenommen, der auch schon zahlreiche Komponisten vor ihm inspirierte: Die Sage von Orpheus aus der griechischen Mythologie war bereits Stoff mehrerer Opern, beispielsweise von
Orfeo(Claudio Monteverdi, gilt als die erste Oper überhaupt),
Orpheus und Eurydike (Christoph Willibald Gluck) oder
Orpheus in der Unterwelt (Jacques Offenbach). Nachlesen kann man die Geschichte in Gustav Schwabs
„Sagen des klassischen Altertums“ und vergleichbaren Veröffentlichungen oder auch in den
„Metamorphosen“, den Verwandlungsgeschichten des römischen Dichters Ovid. Aus der Verbindung von „Metamorphose“ (Verwandlung) und „Orpheus“ ergibt sich denn auch das Wortspiel „Metamorpheus“ (das vor Steve schon andere verwendet haben). (Es hat wohl nichts zu tun mit Morpheus, dem Gott der Träume, der in
Scenes From A Night’s Dream von Genesis vorkommt.)
Steve benutzt entweder andere Quellen als die oben genannten oder zusätzliche, möglicherweise auch seine eigene Fantasie. Die Geschichte, wie er sie erzählt, enthält zumindest einige Ausschmückungen und Änderungen gegenüber der klassischen Variante. Jeder der 15 Teile seines Concertos ist im Booklet mit ein paar erklärenden Zeilen versehen, und wir wollen die Geschichte im folgenden so erzählen, wie Steve es tut.
Die Erzählung beginnt mit einem dreifachen Glockenschlag (mit Gong-Nachhall) auf D. D-Dur ist die Grundtonart fast des gesamten Werkes, so auch des ersten, arpeggio gespielten, dissonanten Gitarrenakkordes mit kleiner Septim, kleiner None und übermäßiger Undezim, also enharmonisch verwechselt wie ein D7-Akkord mit einem As-Dur-Akkord darüber. Dieser wird sogleich gefolgt von einem der Hauptthemen des Werkes, vielleicht gedacht als „Orpheus‘ Thema“, das sich auf einer wegen der übermäßigen Sekunde orientalisch anmutenden Tonleiter bewegt. Gitarre und Streicher wechseln sich nun ab bzw. ergänzen sich und verwenden Material des Hauptthemas und des Undezimakkordes und repräsentieren so den Teich des Erinnerns und den Teich des Vergessens: In den ersteren blickt Orpheus, Sohn der Kalliope (Muse der Dichtkunst und somit auch der Sangeskunst) und des Königs von Thrakien (und von Apollon als geistigem Vater), um seine Naturverbundenheit zu erkennen; von dem anderen aber trinkt er, um seinen Lebensweg auf Erden anzutreten.
Nahtlos schließt sich die Geburt des Orpheus an: er kommt zur Erde wie Regen. Bei diesem fröhlichen Stück steht die Gitarre im Vordergrund, die Streicher betonen den wellenartigen Puls seines Hauptthemas.
Orpheus Naturverbundenheit und Gesangstalent offenbaren sich bald darin, dass er durch seinen Gesang Mensch und Tier und unbelebte Welt harmonisch vereint, was in dem choralartigen Lied an die Natur zum Ausdruck kommt. Dem von Streichern und Gitarre vorgetragenen Choral folgt ein freies Gitarrennachspiel als Überleitung zum attacca angeschlossenen nächsten Stück:
Orpheus findet Eurydike, die schönste der Najaden (Quell- und Bachnymphen), die Frau seiner Träume, die eine wahre Blume. Diesem inhaltlichen Aspekt widmet Steve das wohl virtuoseste Gitarrensolostück dieses Werkes in einem herrlichen Allegro – ach ja,
Metamorpheus ist im übrigen wieder einmal Steves Frau Kim Poor gewidmet.
Das Streichorchester allein mit ganz wenig Gitarre spielt den Walzer in A-Dur zum Tanz der Musen, die auf der Tanzwiese die Verbindung von Orpheus und Eurydike feiern. Hier zeigt sich, wie auch bei einigen Teilen des
Sommernachtstraums, dass Steve (und Roger King und Jerry Peal, die mit ihm gemeinsam die Orchesterarrangements vorgenommen haben) keine großen Orchestratoren sind, denn im Vergleich zu Walzern aus Tschaikowsky-Ballets etwa klingt der Tanz hier doch etwas hölzern. Der Tanz nimmt eine ungeahnte Wendung, als Eurydike plötzlich eine böse Vorahnung empfindet. Musikalisch wird dies durch drohende, sich beklemmend oft wiederholende Akkordeinwürfe, zunehmend dissonant, und einen Hornruf (aufsteigende Quinte) ausgedrückt. Das Stück klingt aus mit einem dissonanten Streicherakkord, und erstmals wurde hier eine Pause hinter ein Stück dieser CD gemischt.
Es folgt ein Stück, das schon aufgrund seiner Länge und Themenvielfalt als eines der Hauptstücke von
Metamorpheus betrachtet werden muss, wenn es auch für den Fortgang der Sagenerzählung nicht essentiell ist: In einer Umarmung des Liebespaares lässt man ein ganzes Leben, jenes gewaltige Leben, Revue passieren. Neben der Vorstellung vieler neuer Themen und dem Wechsel von Gitarre mit und ohne Orchester finden Modulationen von D-Dur nach a-Moll und C-Dur statt, und auch bereits bekannte Themen werden zitiert, nämlich ab 8:03 ein Stück aus dem Gitarrennachspiel des Liedes an die Natur (dort ab 2:50) und ab 10:59 ein Thema aus dem
Tanz auf der Tanzwiese (dort erstmals ab 0:42).
Eurydike geraubt durch den Tod – hier wird die Vorahnung der Najade Wirklichkeit: In Steves Version wird sie in ihrer Hochzeitsnacht von dem bekannten sagenhaften Jäger Aristaios gejagt, und fern von Orpheus wird sie von einer Schlange tödlich gebissen. Wir hören zunächst dissonante Akkorde, ähnlich denen aus dem Eröffnungsstück, gefolgt von auf- und absteigenden verminderten Dominantseptakkorden, alles auf der Gitarre solo, die zu einem neuen Thema hinführen (möglicherweise als Trauer-Thema gedacht), zu dem auch wieder leise Streicher einsetzen, gefolgt von einem Zitat des
Orpheus-Themas.
Es wird sofort in das nächste Stück,
Charons Ruf, übergegangen, und man fragt sich hier wie auch an manchen anderen Stellen der CD, warum die Trackmarken so unpräzise gesetzt wurden oder warum sie überhaupt gesetzt wurden. Orpheus macht sich auf den Weg, Eurydike in die Unterwelt, die Welt der Toten, zu folgen, und muss auf diesem Weg ein Gewässer überqueren, über das einen der Fährmann Charon (ein Bild von Charon sieht man auf dem Cover von Tony Banks‘
A Curious Feeling) bringt, der Orpheus hier in sein Boot bittet. Eine Solovioline fährt frei mit dem Thema fort, mit dem das vorige Stück endete, sowie mit dem Trauer-Thema. Eine Überleitung auf der orientalischen Skala bereitet auf den Einsatz des Orchesters wiederum mit dem Trauer-Thema vor, ehe das ganze mit Gitarren-Arpeggi ausklingt.
Wir nähern uns nicht nur der Unterwelt, sondern auch zwei besonders gelungenen Teilen dieses Opus:
Zunächst steht Orpheus dem Höllenhund Kerberos gegenüber, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. Doch unter dem besänftigenden Gesang des Orpheus bleibt der grässliche Kerberos friedlich. Die Musik drückt zunächst mit Bläserfanfaren, Snare-Drum und Glissandi die einnehmende Majestät des Unterwelt-Eingangs aus, deutet dann aber leise die latente Bedrohlichkeit an (am Ende durch Bassfiguren ausgedrückt, die an
Tigermothoder
Clockserinnern), die jedoch nicht zum Ausbruch kommt.
Unter der Welt – Orpheus schaut zurück, so ist das Kapitel überschrieben, in dem Orpheus in die Unterwelt eintritt, dem Königspaar der Unterwelt, Hades und Persephone, seine Liebe zu Eurydike beteuert und die gesamte Unterwelt und nicht zuletzt das königliche Paar dadurch so sehr rührt, dass man – was es noch nie zuvor gab – Eurydike mit ihm ziehen lässt. Nur eine Bedingung stellt man ihm: Auf dem Weg aus der Unterwelt nach oben muss Eurydike hinter Orpheus gehen, aber er darf sich nicht nach ihr umdrehen, bis sie die Unterwelt verlassen haben. Die Tragödie nimmt jedoch ihren Lauf, und kurz bevor sie am Ziel sind, ist es beklemmende Sorge, weil er ihre Schritte hinter sich nicht hört, andererseits aber auch große Sehnsucht nach ihr, die ihn sich doch vorzeitig umdrehen lässt. In diesem Moment wird Eurydike in den tiefen Schlund zurückgesogen, diesmal für immer. Musikalisch beginnt dieses Stück mit einem Rhythmus der Snare-Drum und des Basses, der etwas an den Bolero-Rhythmus erinnert, den Maurice Ravel so bekannt gemacht hat. Dazu spielen die Streicher ätherisch absteigende Akkorde, die stark an das Intro von
Can’t Let Go erinnern.
Nach einem Gongschlag folgt das Thema des
Orpheusin veränderter (nicht mehr orientalisch klingender) Fassung, gespielt von Streichern und Bläsern. Stellenweise immer noch stark an Ravels
Boleroerinnernd, wird die Musik zunehmend lauter, strebt quasi nach oben und ist insgesamt sehr heiter gestimmt, bis auf ein Mal spannungsreiche laute Akkorde Orpheus‘ Angst und das drohende Unheil wiedergeben – ein plötzliches absteigendes Glissando setzt schließlich sehr anschaulich Eurydikes Zurückgleiten in die Unterwelt um.
Orpheus, dem man nicht noch einmal Zutritt zur Unterwelt gewährt, hat ein gebrochenes Herz, seine magische Kunst schwindet ihm, und er verschmäht alle irdische Liebe. Sinnbildlich dafür steht die zerbrochene Leier, ein elegisches Stück für Sologitarre, bei dem erst gegen Ende auch die Streicher einsetzen.
Neues Unheil kündigt sich unter dem Titel
Trennungan: Eine Horde Bacchantinnen, also Frauen, die dem Dionysoskult frönen, sucht ihn auf und will ihn dafür bestrafen, dass er die Liebe aller Frauen zurückweist. Sie steinigen ihn schließlich zu Tode und zerreißen ihn. Seinen Kopf und seine Leier nimmt schließlich der Hebrosstrom auf. Das Orchester klingt hier zunächst tragisch und zitiert auch wieder das Trauer-Thema. Bassfiguren à la Spectral Mornings-Basspedal, wie schon beim Kerberos angedeutet, wirken äußerst bedrohlich, und schnelle Figuren in den höheren Lagen verkörpern die fliegenden Geschosse.
Die nun folgende Elegie wird von der Flöte eingeleitet und auch im weiteren Verlauf mitbestimmt. Sehr schade ist, dass das Motiv von 0:14 bis 0:20 nicht weiterverfolgt wird. Auch Glockenschläge sind wieder zu vernehmen. Orpheus Leib wird am Fuße des Olymp bestattet, und über dem Grab singen die Vögel schöner denn irgendwo.
Derweil werden der Kopf und die Leier auf Lesbos an Land gespült, und sein Geist wandert in die Unterwelt, von nun an auf immer mit Eurydike in Liebe vereint. Der reinkarnationsgläubige Steve nennt es die Rückkehr ins Reich der ewigen Erneuerung. Eingeleitet wird sie wieder von den dissonanten Arpeggi aus dem ersten Stück. Sinnigerweise erklingt ab 1:51 wieder das Thema, bei dem Orpheus Eurydike einst kennengelernt hat. Die Leier wird einem Apollontempel angeboten und schließlich am Himmel aufgehängt, wo es sich in das Sternbild der Leier verwandelt. Steve hat sich für dieses Finale ein besonders feierliches Schlussthema ausgedacht und zitiert einige bekannte Motive: ab 0:31 ein Stück aus
Fountain Of Salmacis in der
Genesis Revisited-Fassung, dann einige Themen aus der großen Umarmung (ab 1:40, eigentlich ein Thema von der
Tanzwiese, ab 1:58, ab 5:04 und ab 6:06) und eine versüßte Version des
Trauer-Themas (ab 5:49), das nun wohl für die überwundene Trauer steht.
Die Musik ist insgesamt bewusst recht einfach gehalten, obgleich man sich gerade von Steve etwas mehr Innovation und Spannung wünschte. Zumindest für die Orchestration wäre ein Profi wie etwa Simon Hale, den Tony Banks für Seven engagierte, sicher ein künstlerischer Gewinn gewesen, wiewohl die drei genannte Orchestratoren eine ganz passable Leistung gebracht haben. Insgesamt sollte die Produktion wohl auch nicht so aufwendig werden wie der
Sommernachtstraum: das Orchester ist viel kleiner (Streicher, Flöten, Trompete und Horn) und unbekannt, und man wollte sich vermutlich auch nicht noch einmal mit einem Label wie EMI einlassen.
Nichtsdestotrotz gibt es keinerlei Grund, sich als Hackett-Fan diese Scheibe entgehen zu lassen – man erhält viele der üblichen Vorzüge von Hackett-Veröffentlichungen wie großangelegte Melodiebögen, die vielschichtige Abmischung der Musik oder sein typisches Akustikgitarrenspiel, wenn auch der große Volltreffer wie Celebration bei dem Shakespeare-Projekt nicht dabei ist.
Das Booklet wird von einem diaphanistischen Werk Kim Poors geziert und enthält neben den inhaltlichen Anmerkungen zu den 15 Stücken, den Credits und einem schon bekannten Foto von Steve ein paar Zitate aus Rainer Maria Rilkes
Sonetten an Orpheus – natürlich auf Englisch.
Sollte noch ein weiteres Projekt dieser Art folgen, so wäre sicher mehr Kreativität und Erneuerung notwendig. Und – so ergreifend die Orpheus-Sage sein mag – es ist zu überlegen, ob man sie ohne Gesang (Orpheus Markenzeichen) vertonen sollte und ob man das Wort „Metamorphose“ in den Titel aufnehmen sollte, wenn diese musikalisch doch nur ansatzweise umgesetzt wird.
Autor: Andreas Lauer