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Steve Hackett – Live Magic At Trading Boundaries – Rezension
Im Januar 2025 erscheint das erste Live-Dokument der Trading Boundaries Akustik-Shows von Steve Hackett in kleiner Besetzung.
Vorbemerkung:
Es ist dunkel und trüb. Der Blues der endlosen grauen, kalten Tage nach Weihnachten und Silvester lässt die Menschen sich in ihre Häuser verkriechen, Musik hören, lesen, warme Getränke zu sich nehmen und von vergangenen Sommertagen träumen. Da geschieht es, dass sich eine bunte Truppe von Musikerinnen und Musikern zu einem Ort namens Trading Boundaries mitten im verschlafenen Sussex begeben, um die Magie von Stunden puren Musizierens zu genießen. Ihnen folgen einige Mutige, um dieser Musik bei gutem Essen zu lauschen.
Die Location:
Was ist das für ein Ort, der keine zwei Autostunden vom Großraum London entfernt liegt?
Das Gebäude wurde 1777 als Poststation gebaut. Aufgrund der verkehrsgünstigen Lage an der Hauptstraße nach Brighton war es beliebt als Rastplatz für Handelsreisende und Touristen. Es überlebte die Jahre als Hotel, Pub und Zentrum für die Öffentlichkeit. 1996 wurde das Haus von einem Paar aufgekauft und zu einem Treffpunkt für Kunst, Musik, Festivitäten mit Hotelzimmern, kleinen Geschäften, Streichelzoo und Manufakturen ausgebaut. Es ist ein Ort voller kultureller Lebendigkeit entstanden1 Dem Faible der Eigentümer für (progressive) Rockmusik ist es zu verdanken, dass Trading Boundaries ein Anlaufpunkt für Konzerte geworden ist. Aus dem Genesis-Dunstkreis traten Musiker wie Noel McCalla, Amanda Lehmann und der Rocking Horse Music Club auf. Sogar Bill Bruford wird sich mit zwei Kollegen im Frühjahr 2025 die Ehre geben2. Neben der Konzert-Venue existiert auch eine Galerie mit Kunstwerken des Cover-Artisten Roger Dean (Yes)3.
Das Konzert:
Steve Hackett spielt seit Jahren in der Vorweihnachtszeit, oder im dunklen Januar im Trading Boundaries akustische Konzerte an zwei aufeinanderfolgenden Tagen4. Wie alle Künstlerinnen und Künstler genießt er die warme, intime Atmosphäre der Räumlichkeiten mit ihrem indischen Flair. Es ist ja nicht nur so, dass der/die geneigte Hörerin mit vielleicht einem Getränk in der Hand der Musik lauscht, nein es wird dabei festlich diniert. Es gibt nur wenige Stehplatzkarten, den Schwerpunkt bildet das Angebot des Zwei-Gänge-Menüs mit Musik5.
Die Band:
Steve (Gitarre, Mundharmonika) wird bei seinen Auftritten in der Regel von seinem Bruder John Hackett (Flöte), Roger King (Keyboards), Rob Townsend (Flöte, Saxofon) und Amanda Lehmann, die spätestens seit Veröffentlichung ihres Solo-Albums das Vorprogramm, bzw. eine Show einen Tag vorher beisteuert (Gitarre, Gesang), begleitet. Auch schon dabei war Nick Magnus (Keyboards).6
Die Songs:
Improv, 2:10
Das Konzert beginnt mit einer Improvisation von Steve auf der akustischen Gitarre. Eine atemberaubende Fingerübung, die er auch oft in den akustischen Sets seiner Rockshows spielt.
Blood On the Rooftops (Excerpt), 1:16
Anschließend verwöhnt Steve uns mit der bekannten „Overtüre“ von Blood on the Rooftops. Als man das Erklingen der Keyboards und des Gesangs erwartet, endet das Spiel allerdings abrupt.
Barren Land, 1:46
Steve hält sich eng an die Studiovorlage vom Bay of Kings-Album. Der dortige Hall fehlt, so dass das Stück entschlackter, direkter in die Ohren dringt. Wunderschön gespielt ist der sanfte Ausklang.
Black Light, 1:20
Dem schließt sich ein weiteres Stück von Bay of Kings an. Fantastisch zupft Steve die Saiten seiner Akustischen, lässt die Klänge durch den Raum schweben. Ein Traum, der viel zu kurz ist und in
Horizons, 1:47
übergeht. Zu diesem „Überstück“ aus Steves Ouevre muss man keine Worte mehr verlieren. Es passt wunderbar in die viktorianische Atmosphäre des Hauses und lässt das alte England wieder aufleben.
Jacuzzi, 3:28
Nun wird es Zeit für die Band, die Bühne zu betreten. John und Rob intonieren den fantastischen Flötenpart des Songs von Defector, Steve schlägt ein und man musiziert mäandernd weiter. Ab Minute 2:06 übernimmt Steve die Führung, um dann gemeinsam mit seinen beiden Flötisten zum Finale Furioso zu gelangen. Roger hört man im Hintergrund die Räume füllen. Ein perfekt eingespieltes Team erfreut sein Publikum.
Supper’s Ready (Excerpt), 1:41
Das Flötensolo des ruhigen, bedrohlichen Teils am Ende von Willow Farm vor der Apocalypse, gespielt von John, zieht das Publikum in seinen Bann. Steve und Roger folgen. Leider endet der Auszug kurz vor dem „Donnerhall“, obwohl man die Guards of Magog schon zu hören meint. Die Verwirrung wird noch gesteigert, denn nun folgt nahtlos das klassizistische Schönspiel von
After the Ordeal, 2:10
welches Steve und Roger zunächst als Duo meistern, um dann von John und Rob unterstützt zu werden. Das herrliche Wechselspiel der vier entfaltet die wahre Pracht des Instrumentals von Selling England by the Pound.
Hairless Heart, 5:04
Ohne Unterbrechung schließt sich das Stück von The Lamb Lies Down On Broadway an und beendet die Genesis-Suite. Eines der schönsten Instrumentals von Genesis wird genial dargeboten. Schwebend, Träume webend, in Harmonie versinkend wird sich vom Original hinfort gespielt. Wie fantastisch soliert hier Roger, der schließlich von Steve begleitet das Stück ausklingen lässt. Das Highlight des Albums!
Jazz On a Summer’s Night, 3:57
Erstmals gehört haben wir das Stück auf dem Album Hungarian Horizons und der ihm zugrunde liegenden Konzerte.7 Eine Piccolo-Flöte läutet zwitschernd den Jazz ein. Die Melodie nimmt die Gitarre auf, eine Flöte gesellt sich dazu und das Keyboard macht dezent begleitend mit. Ist das aber nun Jazz? Vielleicht Folkjazz mit Barockfeeling? Nun, Bach hätte bestimmt seine Freude an der flotten Weise.
Gnossiene No. 1, 3:09
Das Paradestück für Johns Flötenkünste vom Sketches of Satie-Album. Sich langsam wiegend, die Zuhörende magisch in ihren Bann ziehend, treiben die Melodien der Flöte, begleitet von Gitarre und Streicherklängen des Keyboards durch den Raum und schaffen eine überirdische Stimmung.
Walking Away from Rainbows, 3:37
Das wunderschöne, verklärte Instrumental von Guitar Noir und damit eine der schönsten Kompositionen von Steve überhaupt nimmt die überirdische Stimmung auf. Es führt die Reise in unendlichen Harmonieräume fort. Steves Gitarre verfängt sich in dem Klanggewebe von Rogers Keyboards. Robs Alto-Saxofon übernimmt die Gitarrenmelodie und liefert sich ein Duell mit der Gitarre. Nein, es ist ein Tanz, den beide Instrumente aufführen.
Poulenc Organ Concerto (Excerpt), 3:46
Mächtige Orgelklänge überfluten den Saal. Roger ist in seinem Element. Das Klavier befreit schließlich die Zuhörenden vom orgelnden Krach, Gitarre und Flöten gesellen sich hinzu. Alle zusammen lassen Poulenc in einem jazzigen Gewand erstrahlen. Schließlich gehört der Orgel die letzte halbe Minute, um mit Wucht Adieu zu sagen. Eine gelungene Verbeugung vor dem großen Komponisten und Klaviervirtuosen des 20. Jahrhunderts.
The Red Flower of Tachai Blooms Everywhere, 2:18
Wenn nicht dieses, welches Stück, das von Spectral Mornings stammt, würde mit seinem fernöstlichen Flair besser auf die an einen buddhistischen Tempel erinnernde Bühne des Trading Boundaries passen? Die Flöten, insbesondere die Bambusflöte solieren vor Steves Gitarrenarpeggien und erzeugen diese Stimmung. Leise und getragen verwehen die Melodien im ewigen Rauschen des Pazifischen Ozeans…
Hands of Priestess, 5:50
Unzählige Mal gehört, doch immer wieder verzaubernd. Wie gerne möchte sich der Rezensent in die Hände der Priesterin fallen lassen um sanft in ihrer Musik gewiegt zu werden. Möge diese Musik nie enden. Unglaublich schön gespielt, insbesondere von Rob auf dem Saxofon und John auf der Flöte. Ein weiteres Highlight!
Memory Lane (Amanda Lehmann), 5:23
Nun wird die Bühne für Amanda bereitet. Begleitet von Steve und Roger singt sie herzzerreißend über die Demenzerkrankung ihrer Mutter. Wundervoll schmiegt sich das Saxofon von Rob um den Gesang. Die Lyrics des Songs sind auf dem Innencover abgebildet.
Only Happy When It Rains (Amanda Lehmann), 4:21
Mit einem bluesigen Solo auf der Mundharmonika eröffnet Steve für Amanda. Die lässt sich nicht zweimal bitten und beginnt mit kraftvollem, verrucht klingendem Gesang, ganz eine Diva der Zwanziger Jahre mimend, zu brillieren. Sie begleitet sich auf der Gitarre, Klavier und Flöte mischen mit.
Ace of Wands, 3:56
Anschließend bittet Steve John, Rob und Roger nochmals auf die Bühne, um ein fulminantes Ace of Wands von seinem ersten Solo-Album Voyage oft he Acolyte aufzuführen. Berauschend, schnell und traumwandlerisch miteinander musizierend lässt die Band das elektrische Original verblassen. Was sind das doch für exzellente Musiker, die da auf der Bühne stehen, bzw. sitzen. Ein toll dargebotener Klassiker!
The Journey, 3:51
Den Ausklang des Albums bildet die ruhige, schwebende Reise von Bay of Kings. Steve und Roger sind vereint in ihren Melodien. Wie passend ist es doch, in einer ehemaligen Poststation von einer Reise zu singen und die Zuhörerinnen und Zuhörer auf diese mitzunehmen. Hier und jetzt kommt sie zu einem beseelten Ende.
Fazit:
“I love the delicate dreamlike quality of this show with John and Rob interplaying beautifully on flute and sax, interspersed by surprising moments of power, such as the point when Roger’s keys become the sound of a full blown pipe organ! Amanda’s lovely vocals on her own spellbinding songs also provide a special contrast.”8
Diesen Worten von Steve ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen. Das Album fängt wunderbar die Qualität seiner Akustikshows, die immer rare, intime Augenblicke waren, auf. Es ist eine Freude den Musikerinnen zuzuhören, ihr perfektes Zusammenspiel zu bewundern und sich von der Musik in harmonische Welten davontragen zu lassen. Selbst die Stücke elektrischer Rockmusik verwandeln sich durch ihre Reduzierung auf das Spiel leiser, akustischer Instrumente in neu zu entdeckende abenteuerliche Landschaften. Endlich können wir wieder eine akustische Show Steves live auf Tonträger gebannt hören. Lange nach der Veröffentlichung der Live-Archive-Reihe.9 Leider nur hören, denn als gefilmtes Dokument wird die Show leider nicht erscheinen.10
Dennoch spricht der Rezensent eine dicke Empfehlung aus, sich von der Magie eines Steve-Hackett-Konzerts im Trading Boundaries verzaubern zu lassen. Die Setlist deckt sehr gut sein umfangreiches Soloschaffen ab und präsentiert uns ein paar Highlights aus dem Ouevre von Genesis. Amandas Songs fügen sich wunderbar ein. Sie bilden eine schöne Ergänzung zu Steves davonschwebenden Klangträumen. Sie erdet das Konzert und weckt Neugier auf ihr Schaffen.
Ein kleines, leises Juwel hat das Tageslicht der Welt erblickt. Nicht nur Trostpflaster für diejenigen, die sich den Weg ins winterliche Sussex nicht zumuten möchten, bzw. können, sondern herrliche Musik, die den Alltag verzaubert.
Autor: Thomas Jesse
Das Album erscheint als 2LP im FOC und CD im Digipak am 17.01.2025 und kann bei Amazon und JPC (vor)bestellt werden. An dem Tag spielt Amanda Lehmann ihre Show im Trading Boundaries. Steves Konzerte folgen an den darauf folgenden beiden Tagen.
Anmerkungen
*1 siehe hier
*2 siehe hier. Es gab auch schon Besuch vom Deutschen Genesis Fanclub it
*3 siehe hier
*4 z. B. hier und hier (Diese Shows bilden auch die Grundlage für das Album.)
*5 siehe hier
*6 2018
*7 siehe hier
*8 Linernotes des Albums.
*9 siehe hier
*10 siehe unten
Videoaufnahmen von Michaela Ix: