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Steve Hackett – Leipzig, 5. Mai 2019: Genesis Revisited und mehr – Konzertbericht

Im Frühjahr 2019 tourte Steve Hackett mit einem gewohnt zweigeteilten Programm wieder durch Europa. Er spielte neue Songs, aber auch eine Vielzahl an Tracks von Spectral Mornings sowie das Album Selling England komplett. Christian Gerhardts war dabei und erklärt, warum Steve Hackett in der Form seines Lebens ist.

Seit etlichen Jahren beglückt Steve Hackett seine Fans mit ausgedehnten Tourneen und wechselnden Showkonzepten, wobei das Dachkonzept Genesis Revisited nach wie vor Bestand hat. Seine schier unendliche Genesis Revisited Tourwurde 2019 neu gestaltet. Wieder gab es Tracks des jüngsten Albums (dieses Mal von At The Edge Of Light) und wieder konzentrierte er sich auf historisches Material. Zum einen stand sein Solo-Album-Klassiker Spectral Mornings, das dieser Tage 40. Geburtstag feiert, im Mittelpunkt des ersten Teils und zum anderen das Genesis-Album Selling England By The Pound, das in praktisch allen Beliebtheitslisten der Genesis-Alben in den Top 3 wiederzufinden ist, im zweiten Teil der Show. Das alles klingt nach einer Menge Material für einen Konzertabend – und so war es auch. Aber nicht nur die Musik war es, die diesen Abend magisch werden ließ, sondern auch die Band, deren stetige Weiterentwicklung auch infolge eines neuen Bandmitglieds neue Höhen erreicht hat.
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Als Steve mit seiner Band in Leipzig ankam, war die Tour noch jung. Ein paar Shows in Belgien, Deutschland, Österreich und Italien waren absolviert. Natürlich ist die große Mehrzahl der Fans dieser Tage bestens informiert, was bei früheren Shows gespielt wurde. Das nimmt einerseits ein paar Überraschungsmomente, steigert aber irgendwie auch die Vorfreude.

Das Haus Auensee etwas außerhalb der Innenstadt ist nun auch schon ein Traditionsvenue für Konzerte der Genesis-Familie geworden. The Musical Box waren hier, ebenso Mike + The Mechanics und auch Steve Hackett selbst hat hier vor einigen Jahren bereits gespielt. Mittlerweile erstrahlt das Innenleben der Halle in einem völlig neuen Glanz und auch die Balkonplätze wurden dieses Mal zum Verkauf angeboten. Am Ende war die Halle so gut wie ausverkauft.

Seine Band bestand aus den Dauerbrennern Roger King (Keyboards) und Rob Townsend(diverse Instrumente), sowie Bassist Jonas Reingold, Sänger Nad Sylvan und dem neuen Drummer, Craig Blundell. Letzterer trat in die Fußstapfen des Sympathieträgers Gary O’Toole, der im letzten Jahr auf eigenen Wunsch die Band verließ.


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Die Dramatrugie des Abends ist plausibel: Im ersten Teil wird ein Mix aus neuem Material von At The Edge Of Light sowie einige Tracks des Jubiläumsalbums Spectral Mornings gespielt. Dann gibt es eine Pause und dann Selling England By The Poundnon-stop.

Den Start machte Every Day. Dieses Stück war in den letzten Jahren oft Teil des Live-Sets und hier können sich die Instrumentalisten gleich mal ausgiebig austoben. Traditionell begrüßte Steve das Publikum dann mit dem Hinweis, dass seine Deutschkenntnisse schnell aufgebraucht sind und er deshalb Englisch spricht. Er komme gern nach Leipzig, will er auch noch berichten. Nun wurde zunächst ein kleiner Block mit drei Tracks des neuen Albums gespielt:

Under the Eye of the Sun
Fallen Walls and Pedestals
Beasts in Our Time
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Das erste Stück funktionierte live sehr gut, die anderen beiden wurden zusammen dargeboten und es fehlte ungeachtet der sehr flüssigen und leidenschaftlichen Darbietung möglicherweise noch etwas die Live-Tradition für diese beiden Stücke. Natürlich gibt es immer Fragen, warum nicht zum Beispiel so etwas wie Underground Railroad gewählt wurde – oder aber das Instumentalstück Descent. Das Album-Finale Peace wäre unter Umständen auch ein guter Abschluss für den ersten Teil des Sets gewesen. Weitere Tracks, wie Those Golden Wings oder Shadow And Flame, dürften schlicht in der Umsetzung zu kompliziert gewesen sein. Am Ende muss man natürlich eine Entscheidung treffen und es ist hier definitiv so, das es kein richtig oder falsch gibt, sondern nur ein entweder / oder. Und am Ende ist es dann individuelle Geschmackssache.

Nach Beats In Our Time ging es dann weiter mit Spectral Mornings-Klassikern:

Bei The Virgin and the Gypsy spielte Steve eine 12-String-Gitarre und Craig Blundell kam für einige kleine Percussion-Einlagen zum vorderen Teil der Bühne. Das Stück wurde sehr wohlwollend aufgenommen. Bei Tigermoth verzichtete Steve leider auf den Gesangsteil und spielte nur den instrumentalen Teil des Stücks. Dann folgt der Klassiker: Ohne Zweifel ist Spectral Mornings, also der Song, das eigentliche Highlight der Platte. Es dürfte zu den Signature-Solos auf Steves Soloalben gehören. Und auch hier war es einer dieser magischen Momente, wenn nach dem Intro Steves Gitarrensound einsetzt und die bekannte Melodie den Raum füllt.

100The Red Flower of Tachai Blooms Everywhere war doch eine Überraschung. Dass er für die Konzerte dieses recht ungewöhnliche Stück auspacken würde, war nicht unbedingt zu erwarten. Und man kann es auch als eine kleine Verschnaufpause werten, bevor mit Clocks – The Angel Of Mons das Finale des ersten Sets gefeiert wurde. Clocks war kraftvoll und verspielt und wirkte um einiges lebendiger als auf Platte. Dazu kam ein unfassbares Drumsolo von Craig Blundell, das vom Publikum auch entsprechend gefeiert wurde. Danach kündigte Steve nach lang anhaltendem Jubel eine 20minütige Verschnaufpause an.

Es folgte der erwartbare Begeisterungssturm, als Nad die ersten Zeilen von Dancing With The Moonlit Knight anstimmte. Plötzlich war sie wieder da – diese Genesis-Magie, die man nur sehr schwer erklären kann. Mit dem zweiten Song, I Know hat I Like, wagte sich die Band sehr weit aus dem Hemd und interpretierte das Stück sehr eigenwillig jazzig, teilweise funkig. Das Stück wurde noch mehr in die Länge gezogen, als Genesis dies selbst taten. Doch hier zeigte sich vor allem eins: Wie gut diese Band geworden ist. Ein absolutes Erlebnis.

41Vor wenigen Wochen waren die Mechanics in Dresden und Mike versuchte sich etwas hölzern an einem Auszug des Firth Of Fifth Solos. Mein Gedanke war – Schwamm drüber, das sehe ich bald „in echt“. Und es ist und bleibt Steves größter Moment an der Gitarre. Armando Gallo hatte es mal treffend erklärt. Es kommt bei Steve nie darauf an, dass schnell oder technisch anspruchsvoll spielt, sondern auf die Art und Weise, wie er jeden einzelnen Ton in Szene setzt. Firth Of Fifthist seine Königsklasse, die Messlatte, wenn man so will. Und er nahm uns wieder mit in eine andere Welt. Es ist einfach ein grandioser Song und ein grandioses Solo. Nicht umsonst steht das Stück in praktisch jeder Beliebtsheitsumfrage unter Fans in den Top Five. Auch das Intro spielte Rogr King sehr sauber.

Vor More Fool Me hatte ich als Zuschauer doch etwas Sorge. Der Gesang von Phil ist derart hoch, dass man davon ausgehen konnte, dass Nad sich etwas wird einfallen lassen müssen, um das auf der Bühne zu singen. Doch Nad sang das Stück derart nah am Original und völlig fehlerfrei (was Text UND das Treffen der hohen Töne angeht), dass ich ihm dafür sehr großen Repekt zolle. Das war wirklich exzellent.

52Der zweite Teil des Albums enthielt mit The Cinema Show einen weiteren Höhepunkt der Genesis-Geschichte. Hier fehlte mir bei Craigs ansonsten beeindruckenden Spiel im Instrumentalteil doch der ein oder andere Fill und Drumroll, die Phil Collins immer so kongenial und lässig aus dem Ärmel schüttelnd spielte. The Battle Of Epping Forest ist eines der ganz alten Stücke, mit dem ich nie richtig warm wurde. Alleine die unfassbare Menge Text macht es schwer, dem Stück so etwas wie eine Struktur oder Melodie anzuerkennen. Nad dagegen juckte das scheinbar nicht. Auch hier war er fehlerfrei.

Ein weiteres Highlight wurde natürlich Déja Vù, die „gelöschte Szene“ des Albums, wie Steve es nannte. Und tatsächlich war es eine Idee von Peter Gabriel, die Steve Hackett „über 30 Jahre später“ (naja, es waren etwas mehr als 20) für sein erstes Genesis Revisited Album mit Paul Carrack als Säger neu einspielte. Auch hier machte Nad einen guten Job und das Stück funktionierte insgesamt mit der Band sehr gut. Ob es ganz am Ende nach Aisle Of Plenty gut aufgeboben war oder ob man es besser früher gespielt hätte – das ist sicher Geschmackssache. Aus meiner Sicht hätte es nach More Fool Me einen guten Platz gehabt – und Aisle Of Plentywäre der klassische Schluss des Albums gewesen.

510Mit Dance On A Volvano schloss die Band zunächst das Konzert, ehe man für das traditionelle Los Endos-Medley (mit Myopia und Slogans) wieder zurück kam und ein letztes Feuerwerk abbrannte.

Und dann war sie plötzlich zu Ende, diese Show, nach zweieinhalb Stunden. Achtzig Konzerte dieser Art wird Steve bis Ende des Jahres absolviert haben – das ist eine enorme Leistung für jemanden, der doch recht stramm auf die 70 zugeht. Dabei kann er sich vor allem auf seine Band immer wieder verlassen.

Zwei Bandmitglieder müssen nach diesem Abend aber gesondert erwähnt werden:

Nad Sylvan
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Er hat den schwersten Job in der Band. Er singt Collins-Material, Gabriel-Material und teilweise auch Hackett-Songs. Für seine Art zu singen sind Genesis-Songs eine Herausforderung. Er hat sich entsprechend viel anhören müssen, wenn es einmal nicht optimal lief. Doch 2019 ist Sylvan in Top-Form. Er hat sich weiterentwickelt und strotzt vor Sebstbewusstsein. Und selbst die schwersten Passagen nahm er mit Bravour: More Fool Me, sicher alles andere als ein Spaziergang, war nicht nur fehlerfrei, sondern sehr nah am Original. Und bei The Battle Of Epping Forest singt er sich durch den absurd dichten Text, als hätte er nie etwas anderes gemacht.

Dazu ist Nad für seine Theatralik und Kostümierung bekannt. Auf dieser Tour ist er diesbezüglich eher zurückhaltend, aber er setzt gekonnt Akzente. Insgesamt war dies ein sehr starker Auftritt. Chapeau!

Craig Blundell

101Das Bedauern war groß, als Gary O’Toole seinen Abschied verkündete. Der genauso eigenwillige wie sympathsiche Schlagzeuger hatte der Hackett-Band sehr deutlich seinen Stempel aufgedrückt. Steves Wahl für dessen Nachfolge fiel auf Craig Blundell, der sich vor allem bei Steven Wilson einen Namen machte – und interessanterweise bei John Shearer „gelernt“ hat. John war seinerzeit Schlagzeuger zu Spectral Mornings Zeiten. Craig hatte nicht vorspielen müssen und entsprechend hoch lag für ihn die Messlatte. Dazu kommt, dass er Phil Collins als Schlagzeuger verehrt und nun die Klassiker seiner Helden selbst spielen soll. Aber Craig spielte das nicht einfach nur, er führt die Band und hebt das Niveau einmal mehr. Dies war ein absoluter Glücksgriff für Steve.

Kommen wir am Ende noch einmal zurück auf die Setlist des Abends:

Vergleichen wir das Konzert am 5. Mai 2019 nun mit dem Konzert in Leipzig vor zwei Jahren, dann stellen wir fest: Exakt vier (!) Songs wurden in beiden Shows gespielt. Vier! Nämlich Every Day, Dance On A Vocalno, Firth Of Fifth und Los Endos. Steve und seine Band spielen also eine enorme Bandbreite an Songs. Sowohl der Solo-Teil, als auch der Genesis-Teil werden nicht nur sporadisch angepasst, sondern von Mal zu Mal völlig neu konzipiert. Auch das macht wiederholte Besuche der Hackett-Shows so lohnenswert. Die Anpassungsfähigkeit, die Spielfreude und das Improvisationstalent der Band sind bemerkenswert. Es sind eben nicht nur die roten Blumen, sondern das nahezu komplette musikalische Farbspektrum, das Steve immer und immer wieder aufbietet.

Autor: Christian Gerhardts
Fotos: Michaela Ix (in Stuttgart aufgenommen)


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