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Steve Hackett – Genesis Revisited – Rezension
1996 kam es etwas überraschend zu einer ungewöhnlichen Steve Hackett Veröffentlichung. Steve nahm etliche Genesis-Klassiker neu auf und veröffentlichte, angereichert mit einem Orchester, Genesis Revisited zunächst nur in Japan, später auch in Europa. Das Album enthält außerdem eine beachtliche Gastmusikerliste.
Ende August wurde in Japan ein neues Album Steve Hacketts veröffentlicht, von dem man vorher fast nichts geahnt hat. Dabei liegt Genesis Revisited nach den im letzten Jahr erschienenen Genesis-Tributes und vor der Veröffentlichung der ersten Genesis-Box voll im Trend: Das Album enthält Remakes von acht Genesis-Stücken aus Steves Zeit bei der Band, die Vollendung eines 1973 von Peter Gabriel initiierten, bisher unveröffentlichten Songs und zwei Instrumentalstücke von Steve.
In einem den Leser etwas anstrengenden Vorwort erklärt Steve, dass er sich hier mit Freunden aus dem Genre der „permissive music“ (er zieht diesen Terminus dem Begriff „progressive music“ vor) und dem Royal Philharmonie Orchestra nochmals auf „jenen seltsamen, doch schönen Planeten, der einmal Genesis hieß“, begeben habe, wirft etwas Licht auf die Probleme, die das Schaffen der fünfköpfigen Formation seinerzeit begleiteten, und bedankt sich bei seinen Fans für die fortwährende Unterstützung. Dem zufolge, was Steve in einem Interview gesagt haben soll, war dieses Projekt für ihn ein heilsames Sich-seiner-Vergangenheit-Stellen; auslösendes Erlebnis seien die Zweifel eines Fans in Palermo gewesen, ob Steve die ihm vorgelegten Genesis-Platten unterzeichnen würde. Steve weiter: Er habe versucht, mit Hilfe seiner heutigen Erfahrung und moderner Technologie sowie einem weitaus größeren Team quasi die damaligen Skizzen durch Hinzufügen von Farben und Hervorheben von Details zuvollständigen Gemälden fortzuentwickeln, und zwar aus persönlicher statt wie einst der Band-Perspektive. Da Steve, wie er selbst sagt, die alten Kompositionen unter völlig veränderten Bedingungen bearbeitet, kann und darf dieses Album m. E. von vornherein nicht als „Abrechnung“ mit der Band, als besserwisserisches Produkt seiner Egozentrik oder dergleichen missverstanden werden. Im folgenden findet sich eine kleine Auswahl interessanter Einzelheiten zuden elf Stücken: Schon beim Opener – natürlich Watcher Of The Skies – fällt die saubere Klangqualität im Vergleich zum Original auf. „Tonys bedeutungsschwere Einleitung“ (so Steve) wird von Streichern dominiert und bleibt auch 1996 nicht ohne Wirkung – etwas weniger drohend als einst, dafür weicher und sehr geheimnisvoll. Anstelle der Hi-hat setzt dann ein Computer mit „Phils erfinderischem MorseCode-Rhythmus“ ein (das gemorste Wort lautet m. E. „heeeeiss“).
John Wettons Gesang fällt gegenüber Peters freilieh etwas konventioneller aus, und Bill Brufords peitschende Drums und Julian Colbecks leise, doch grandiose Unterlegung der Strophen können einige Mängel an der Instrumentierung des einstigen Orgelparts nicht ganz kompensieren. Bombastischer als in den kühnsten Träumen fällt schließlich der Schlussakkord aus – man höre selbst! Für präzises Bassspiel sorgt hier übrigens Tony Levin. Bei dem folgenden Your Own Special Way, „einem von Mikes schönsten Liedern“, wurden unter der Federführung Aron Friedmans gleich zwei Mängel des Originals aufgehoben: Die beiden etwas unverträglichen Takte (Strophe/Refrain) wurde durch einen 4/4-Takt ersetzt und der instrumentale Mittelteil durch ein virtuoses Zwischenspiel auf der E-Gitarre. Das wunderschöne Arrangement mit einigen harmonischen Veränderungen ergänzt optimal Paul Carracks Gesang, der unter anderem durch Richard Macphails Stimme im Hintergrund unterlegt wird. Dem eigentlichen Dance On A Volcanogeht eine kurze musikalische Skizzierung der „Vulkanlandschaft“ voraus. Beim „Blick in den Krater“, wie ich es deute, setzt dann das bekannte Gitarrenmotiv ein. Steve „singt-spricht“ hier selbst mit elektronisch vertiefter Stimme. Chester Thompsons und Alphonso Johnsons (Bass-) Arbeit wirkt aber dennoch nicht so überwältigend, wie Steve findet. Dance … mündet in eine musikalische Skizze, deren schwerer Rhythmus und tiefe Klänge von einem Traum von der Erbauung der großen Ägyptischen Pyramiden inspiriert seien. Valley Of The Kings heißt daher dieses Stück, bei dem der altbekannte Nick Magnus mitwirkt. Deja Vu, das erwähnte Gabriel/Hackett-Stück, wird wiederum von Carrack gesungen und wirkt beinahe choralartig in seinem gelungenen Arrangement, das auch einen Chor einbezieht. Im instrumental dominierten Mittelteil segelt Steve buchstäblich durch verschiedene Tonarten. Erfrischung erfährt der Hörer beim Genuss von Riding The Colossus, mit dem das von dem Time Lapse-Livealbum bekannte Depth Charge (welches angeblich ins Jahr 1962 zurückzudatieren ist) den Weg ins Studio gefunden hat, mit einem veränderten zweiten Zwischenspiel. Der Colossus ist eine Holzachterbahn in Kalifornien, weshalb auch Achterbahngeräusche mit eingeflochten wurden. For Absent Friendswurde als langsamer Walzer allein für das Orchester arrangiert (Dirigat und alle Orchester-Arrangements oblagen übrigens Matt Dunkley) und Colin Blunstone singt dazu. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass Blunstone mit dem Rhythmus nicht so ganz zurechtkommt …
Die Hermaphroditensage in Fountain Of Salmacis sieht Steve als „Mini-Oper“, und er fügt hier verschiedentlich neue Figuren und Passagen an und ein, die zwar – nicht unbeabsichtigt – die Kohärenz des Originals eher zerstreuen, aber für viele ästhetische Momente sorgen, wie auch die Flöte von Steves „Brother John“. Steve singt hier selbst. Mit Waiting Room Only wurde versucht, ähnlich The Waiting Room eine formlose Reise durch verschiedene Stimmungen zu machen. Dabei wurde nicht nur mit Instrumenten gearbeitet, sondern auch mit vielen Aufnahmen, z. B. aus einer Bahnhofshalle, einem unheimlich-komischen Theater und einem Jahrmarkt. Nach ca. dreieinhalb Minuten setzt ein Rhythmus ein, der das weitere Spiel dann beherrscht. I Know What I Like wurde von Steve weit ins Komische bis Skurrile gezogen. Ein swingender Rhythmus wurde unterlegt, Mr. Farmer bekam eine tiefe Stimme, und dem eigentlichen „Song“ ist ein Jam angehängt (wie auch live schon immer, aber ohne nochmalige Wiederkehr des Refrains in dem dann auch beispielsweise Antonin Dvoraks bekannte Humoresque anklingt und verschiedene Spieler mit ihren Instrumenten (z. B. „toy piano“) vorgestellt werden… – durchaus seltsam.
Der Höhepunkt kommt zum Schluss: Firth Of Fifth „one of Tony’s finest, in my humble opinion“, so Steve – stellt auch auf diesem Album ein künstlerisch besonders wertvolles Juwel dar. Das einstige Piano-Intro übernehmen hier ein Glockenspiel und das Orchester, ein satter Orgelsound unterlegt dann John Wettons Gesang. Den Flötenpart spielt Steve mit seinem „little orchestra“, der sechssaitigen Akustikgitarre, an, darauf folgt dann aber ein völlig neues kurzes, hektisches Motiv, das eine Weile von Orchestern und anderen Instrumenten verarbeitet wird. Ruhe kehrt nach wundervoller Überleitung wieder mit Steves großem (hier aber nicht allzu lang ausfallendem) E-Gitarrensolo ein. Erwähnt werden muss noch die leise Einblendung des Orchesters mit einer mir momentan nicht bekannten Musik im Anschluss an das Piano-Outro, welche einen phantastischen Nachgeschmack hinterlässt, der nicht zu verleugnen ist. Auch The Lamb Lies Down On Broadway und … In That Quiet Earth sollen geprobt, jedoch auch wieder verworfen worden sein. Angeblich arbeitet Steve derzeit mit Tony Banks an einem Remake von Los Endos als Bonustrack für die amerikanische Ausgabe von Genesis Revisited.
Das CD-Cover ziert ein neues Werk von Kim Poor, das die Genesis, die Schöpfungsgeschichte darstellt. Außer vielen Himmelskörpern, UFO-ähnlichen Objekten und einigen Tieren zeigt das zweifarbige Werk Adam und Eva als aus dem Paradies Vertriebene. Die Schlussbeurteilung von Steves Revisit, „dear listener, lies with you“, – so lädt er uns ein…
Andreas Lauer
zuerst veröffentlicht in itNr.20 (September 1996)